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3. Oktober 2015 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Zum Stand der »Flüchtlingskrise«

Zwischen Willkommenskultur und »Belastungsgrenze«

Die Bewegung der Schutzsuchenden nach Deutschland ebbt nicht ab. Noch immer kommen jeden Tag Tausende an den Grenzen an. Angesichts des ungebrochenen Andrangs werden die Behörden und deren politische Leitungen immer unruhiger. Die Registrierung der Flüchtlinge wird immer unübersichtlicher, die Unterbringungs- und Versorgungsprobleme nehmen zu.

Die Politik reagiert mehr und mehr mit Abschreckungsmaßnahmen, die freilich ihre Wirkung verfehlen und die nationalistisch motivierten Abgrenzungen gewinnen in der politischen Klasse an Gewicht, was auch das Image der Bundeskanzlerin untergräbt.


Die Flüchtlingsbewegung

Auch nach Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Deutschland bleibt die Zahl der einreisenden AsylbewerberInnen hoch. Pro Tag kommen aktuell im Durchschnitt etwa 10.000 Schutzsuchende in Deutschland an. Die Bundesregierung geht davon aus, dass allein im September rund 170.000 Menschen in Deutschland registriert wurden. Im Vergleich zum Vormonat ist das ein deutlicher Anstieg: Im August wurden noch 105.000 AsylbewerberInnen verzeichnet. Selbst wenn die exakte Monatszahl erst in ein paar Tagen verfügbar sei, wird der »September ... ein Rekordmonat dieses Jahres und damit auch für die vergangenen Jahrzehnte werden«, so Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU).

Schätzungen gehen allerdings von deutlich mehr Flüchtlingen aus. Laut dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sollen im September 270.000 Menschen eingereist sein, die zum Teil nicht registriert wurden. Auch Regierungskreise in Berlin rechnen für diesen Monat mit mehr als 200.000 Flüchtlingen – etwa so viele wie im Jahr 2014 insgesamt. Bislang gehen die Bundesbehörden für dieses Jahr von 800.000 Asylsuchenden aus.

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer nannte für den Freistaat 169.400 registrierte Ankünfte im September. Hinzu komme noch ein hoher Anteil nicht registrierter Asylsuchender hinzu. Nach Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) halten sich 290.000 noch nicht registrierte Flüchtlinge in Deutschland auf.

Der neue Bamf-Leiter Frank-Jürgen Weise kritisierte die unübersichtliche Situation und forderte mehr Transparenz. Bislang gebe es keinen verlässlichen Überblick, wie viele Menschen ins Land kämen, wo sie sich aufhielten, wie sie verteilt und ihre Anliegen bearbeitet würden. Auch Rückstände müssten dringend aufgearbeitet werden. Das Bundesamt ist mit der wachsenden Zahl von Asylbewerbern seit Langem überfordert, inzwischen haben sich mehr als 275.000 unerledigte Asylanträge angestaut. Für zwei Drittel der AsylbewerberInnen dauere die Zeit von der Erfassung bis zum Bescheid derzeit fünf Monate, sagte Weise. In vielen Fällen seien die Menschen aber vor der Erfassung bereits zwei bis drei Monate im Land.

Dass die enorm hohe Zahl von Menschen, die in Europa und Deutschland Schutz suchen, eine gewaltige finanzielle, organisatorische und auch logistische Herausforderung bedeutet, ist unstrittig. Logischerweise rückt in dieser Konstellation auch die Frage nach den Fluchtursachen und was man dagegen tun kann, in das Zentrum des öffentlichen Diskurses.


Fluchtursachen beseitigen statt Asylrecht weiter beschneiden

Die geplanten Asylrechtsverschärfungen zielen allein darauf ab, Hilfesuchende abzuwehren und auszugrenzen, indem ihnen selbst das Existenzminimum verwehrt wird. In der politischen Klasse hierzulande wird inzwischen offen darüber diskutiert, ob Merkels jüngste Einwanderungspolitik die Flüchtlingsströme erst richtig in Bewegung setzte. Dies ist ein kleinkariertes Ablenkungsmanöver.

Die Hauptfluchtursachen sind Krieg, Armut und Hunger. Weltweit sind derzeit über 60 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die allermeisten flüchten aus Angst vor Gewalt. Unter den weltweit zehn wichtigsten Herkunftsländern (unter anderem Syrien, Afghanistan, Somalia) ist kein einziges, in dem auch nur annähernd so etwas wie Frieden herrscht. Zugleich mussten die Un-Organisationen (UNHCR und Welthungerhilfe) ihre Unterstützungen für die Lager in der Nähe der Konfliktzonen zurückfahren, weil die Finanzmittel zu gering sind. Aktuell fehlen ca. neun Mrd. US-Dollar, um das Versorgungsniveau der letzten Jahre aufrecht zu erhalten.

Dass die EU jetzt beschlossen hat, eine Milliarde Euro vor allem zur Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern in den Anrainerstaaten von Syrien zur Verfügung zu stellen sowie den Anrainerstaaten wie etwa der Türkei finanziell stärker unter die Arme zu greifen, gehört zu wenigen konstruktiven Schritten in Sachen europäischer Asylpolitik. Auch die Tatsache, dass im Rahmen der G7 Staaten 1,7 Mrd. Euro zusammenkommen soll, um die Flüchtlingshilfe in der Krisenregion in und um Syrien zu verbessern, hilft sicherlich die Situation ein wenig zu stabilisieren.

Ob das ausreicht, muss indes bezweifelt werden. Denn die Hilfsprogramme für Flüchtlinge und die Aufnahmegesellschaft leiden an chronischer Unterfinanzierung. Der Hilfsplan für 2015 (Syrian Regional Refugee and Resilience, 3RP) ist nur zu 41% finanziert. Dies hat sich dramatisch in Kürzungen der Lebensmittelrationen niedergeschlagen und Flüchtlinge, die Rationen bekommen, müssen von zwischen 45 und 0,50 US-Cent am Tage leben. Viele Flüchtlinge in Jordanien haben der UNHCR berichtet, dass diese Kürzungen der letzte Anstoß waren, das Land zu verlassen.

Zehntausende bekommen gar keine finanzielle Unterstützung und versinken immer tiefer in Schulden. Dies führt dazu, dass Flüchtlinge betteln müssen sowie zu Kinderarbeit und zu steigender Verschuldung. Die sinkende humanitäre Hilfe gaben Flüchtlinge aus dem Irak, Jordanien, Libanon und Ägypten als Grund für ihre Hoffnungslosigkeit an, dies war zugleich Auslöser für ihre Entscheidung, nach Europa zu gehen.

Solange allerdings die Kriegssituation in Syrien und der Verfall staatlicher Strukturen etwa auch in vielen afrikanischen Ländern anhält, wird der Strom der Zufluchtsuchenden durch solche Maßnahmen vielleicht etwas eingedämmt, aber keineswegs unterbunden. So hat die UN die Zahl der erwarteten Flüchtlinge deutlich nach oben korrigiert: Mehr als 1,4 Mio. Asylsuchende könnten nach Schätzungen des UNHCR von Anfang 2015 bis Ende 2016 über das Mittelmeer nach Europa kommen, seit Jahresbeginn bis zum 28. September waren es bereits 520.957 Flüchtlinge. Das Flüchtlingshilfswerk rechnet für das gesamte Jahr 2015 mit insgesamt rund 700.000 Mittelmeer-Flüchtlingen: »Möglicherweise werden es aber 2016 weit mehr sein, wir gehen bei den Planungen vorerst von der Zahl für 2015 aus«.


Abschreckung als Reaktion auf »Erreichen der Belastungsgrenze«

Vor dem Hintergrund der großen Probleme, die bei der in so kurzer Zeit zu organisierenden Aufnahme einer großen Zahl von Zufluchtsuchenden auftreten und der faktischen Handlungsunfähigkeit der Europäische Union in Sachen Verteilung der Schutzsuchenden und einheitliche Standards, gibt es jetzt auch in Deutschland eine Debatte über »Grenzen der Belastbarkeit«. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel gerät auch und vor allem in den eigenen Reihen mehr und mehr unter Druck.

Den Ton geben dabei der bayerische Ministerpräsident Seehofer, Bundespräsident Gauck (»Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich«), aber auch Innenminister de Maiziere an. Dieser und einige Unionspolitiker plädieren dafür, bereits an den Landesgrenzen Transitzonen mit Eilverfahren zu schaffen. In solchen Transitzonen an der deutschen Grenze könnte noch vor der Einreise in einem Schnellverfahren geprüft werden, ob ein Schutzsuchender Anspruch auf Asyl hat. Ist dies nicht der Fall, soll der Betroffene direkt in seine Heimat zurückgeschickt werden.

Der bayerische Finanzminister Markus Söder geht noch weiter und macht sich für Zäune entlang der deutschen Grenze stark. Zu dieser von Teilen der politischen Klasse jetzt geforderten »Orbansierung« der deutschen Flüchtlingspolitik passt ein Diskurs der Abgrenzung gegenüber den in Deutschland ankommenden Schutzsuchenden. So fordert Innenminister de Maizière statt Willkommenskultur jetzt eine »Ankommenskultur«. Die Schutzsuchenden müssten die deutsche Rechts- und Werteordnung einhalten, ihren richtigen Namen und ihr Herkunftsland nennen.

Zudem gehöre dazu, dass »man sich nicht prügelt, dass man Geduld hat und andere Menschen akzeptiert unabhängig von Religion und Geschlecht«. Für den rechten Klimawandel steht auch der CDU-Abgeordnete Thomas Strobl, immerhin CDU-Vize. »Die Gesetze macht bei uns in Deutschland nicht der Prophet, die macht das Parlament.« Zudem warnte er Asylbewerber aus den Westbalkan-Ländern vor falschen Hoffnungen. »Verkauft nicht Euer Haus und Euer Auto, um den Schlepper und den Schleuser bezahlen zu können. Wir werden Euch schnell wieder zurückschicken, und Ihr werdet schnell wieder da sein, wo Ihr hergekommen seid, nur Ihr werdet noch ärmer sein.«

Die Bundeskanzlerin gerät unter den Druck des konservativen Flügels ihrer Partei. Mit ihrer Entscheidung, das Dublin-Verfahren vorübergehend außer Kraft zu setzen, und zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, hat sie ein deutliches Zeichen im Umgang mit der großen Flüchtlingsbewegung Richtung Europa gesetzt – ein Zeichen auch in Richtung jener politischen Kräfte, die in vielen europäischen Ländern versuchen, die Flüchtlingskrise zu nutzen, um die Kräfteverhältnisse in Sinne einer nationalistischen und fremdenfeindlichen politischen Agenda zu verschieben. Die Widerstände vieler europäischer Länder gegen ein einheitliches europäisches Asylverfahren und eine Verteilung der Flüchtlinge resultieren ja gerade aus der Dominanz bzw. dem Einfluss rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen.

Bayerns Ministerpräsident Seehofer kritisierte die Entscheidung Merkels als einen »Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird«. Und: »Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen.« Die Zurückweisung dieser Kritik durch Angela Merkel – »Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land« – lässt Seehofer völlig unbeeindruckt. Es sei »drängende Pflicht eines Politikers«, auf Deutschlands »begrenzte Aufnahmemöglichkeit hinzuweisen«. Und der CSU-Chef stellt inzwischen auch die Grundsätze der bisherigen Zusammenarbeit infrage: »Die Kanzlerin hat sich meiner Überzeugung nach für eine Vision eines anderen Deutschland entschieden.«

Ins gleiche Horn bläst auch der konservative Berliner Kreis in der Union. »Einladungen an alle Flüchtlinge dieser Welt, nach Deutschland zu kommen, können unser Land und unsere Gesellschaft überfordern«, heißt es in einem Positionspapier. Ohne Merkel direkt zu erwähnen, kritisiert die Gruppe damit die Entscheidung der Kanzlerin, Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland fahren zu lassen.

Es sei zwar richtig, dass das Recht auf Asyl keine Obergrenzen kenne, aber es gebe »faktische Obergrenzen der Aufnahmefähigkeit unseres Landes«. »Es ist objektiv nicht leistbar, allen Flüchtlingen dieser Welt Asyl in Deutschland zu gewähren«, heißt es in dem Dokument. Diese Bewertung vom Erreichen der Belastungsgrenze gewinnt auch bei der Sozialdemokratie und den Grünen an Rückhalt. Vizekanzler Gabriel sieht Deutschland bereits am Rande seiner Kapazitäten: »Wir nähern uns in Deutschland mit rasanter Geschwindigkeit den Grenzen unserer Möglichkeiten.«

Angesichts der massiven Kritik aus den eigenen Reihen und auch sinkender Umfragewerte sieht sich Kanzleramtsminister Peter Altmaier gezwungen, eine »Merkeldämmerung« zu dementieren. Der in der Union nicht unumstrittene Kurs von Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik werde die Kanzlerin nicht zu Fall bringen. Sie habe genügend Rückhalt, um bis zum Ende der Legislaturperiode unangefochten im Amt zu bleiben: »Ich habe daran keinen Zweifel.« Merkel sei entschlossen, die Herausforderung des Flüchtlingszuzugs so zu bewältigen, »dass unser Land am Ende nicht schwächer, sondern stärker dasteht«.


Aufbrechen der neoliberalen Sparpolitik

Der EU-Kommissar für »Euro und sozialen Dialog« aus Lettland, Valdis Dombrovskis, räumt ein, dass die Fluchtbewegung die staatlichen Haushalte einiger EU-Länder und der EU kräftig durcheinander schüttelt. Damit steht der europäisch Fiskalpakt zur Debatte, das neoliberale Knebelungsinstrument muss außer Kraft gesetzt werden. Die Frage sei, welche Konsequenzen die EU-Kommission daraus ziehen werde, ob man also weiterhin Verfahren wegen Haushaltsüberschreitungen einleiten werde oder die höheren Ausgaben als einmalige Belastungen betrachte. »Es handelt sich nicht nur um eine humanitäre Krise, sondern sie hat auch budgetäre Auswirkungen«, so Dombrovskis, und die EU-Kommission suche jetzt nach Wegen, wie man damit umgehen soll.

Die Phase relativer Stabilität des politischen Systems in Deutschland, deren Hintergrund die relativ guten Wirtschafts- und Arbeitsmarktbedingungen der letzten Jahren war, geht damit auch in Deutschland zu Ende. Die überlasteten Kassen der Kommunen geraten noch stärker in die roten Zahlen. Die schwarze Null im Bundesetat ist auf einmal wieder ungewiss. Schuldenbremsen und europäische Defizitregeln laufen Gefahr, endgültig Makulatur zu werden.

Die Europäische Kommission setzt für jeden Flüchtling, der über die beschlossene Quote innerhalb der Europäischen Union umverteilt werden soll, 6.000 Euro an. Das Geld soll aus dem EU-Haushalt kommen (der allerdings aus den nationalen Budgets gefüllt wird). Verglichen mit den deutschen Kalkulationen ist die Summe ohnehin nicht kostendeckend. Der Deutsche Städtetag veranschlagt beinahe das Doppelte, nämlich 10.000 Euro pro Flüchtling. Einige Ministerpräsidenten fordern noch mal bis zu 5.000 Euro zusätzlich pro Kopf.

Die beschlossene Verteilung von 120.000 Flüchtlingen wird den EU-Haushalt mit ca. 780 Mio. Euro belasten. Im November, wenn die zentralen Aufnahmelager an den Außengrenzen errichtet sein sollen, rechnet die EU mit weiteren 800.000 Bewerbern. Angesichts des beschränkten EU-Haushaltes werden selbst 6.000 Euro pro Kopf unbezahlbar sein. Diejenigen der 28 Mitgliedsstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen, werden also die Kosten dafür aus ihren nationalen Budgets bestreiten müssen. Der deutsche Finanzminister ist in der komfortablen Lage, die hierzulande erwarteten eine Million Flüchtlinge aus einer gefüllten Haushaltskasse bezahlen zu können. Neun Mrd. Euro Zusatzkosten sind derzeit kein Problem, dafür muss Schäuble weder neue Schulden machen noch Steuern erhöhen.

Sollen die europäischen Nachbarn ebenfalls in größerer Zahl Flüchtlinge aufnehmen, müssen vereinbarte Schuldenbremsen ausgesetzt und europäische Defizitregeln erneut gelockert werden.

Die Bundesrepublik Deutschland hat Ressourcen und Reserven: Das Land verfügt über einen sanierten Gesamthaushalt (allerdings stimmt die Verteilung zwischen Bund, Länder und Gemeinden nicht) und eine enorme Hilfsbereitschaft in der Zivilgesellschaft, um die ins Land kommenden Schutzsuchenden aufzunehmen und zu integrieren.

Ein Aspekt bleibt in der Debatte unterbelichtet: Die Flüchtlingshilfe ist nicht nur ein »Kostenfaktor«, sondern auch ein belebender Faktor für die Binnenwirtschaft. Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute weisen zu Recht darauf hin: Die Flüchtlingsbewegung bewirkt faktisch auch ein kleines Konjunkturprogramm. Das DIW argumentiert, dass den geschätzten Bruttoausgaben der öffentlichen Haushalte von 9,2 Mrd. Euro in diesem Jahr für die Unterstützung der Schutzsuchenden »Einnahmen gegenüber (stehen.) … Durch den Zustrom von Flüchtlingen steigt der Konsum und auch das Bruttoinlandsprodukt ist größer als in einem möglichen Referenzszenario – und damit auch die Steuereinnahmen. Kommen die Menschen in Arbeit, zahlen sie Einkommenssteuern und Sozialbeiträge.« Diese Effekte werden noch verstärkt, wenn die Beschlüsse, die auf dem »Flüchtlingsgipfel« von Bund und Ländern, umgesetzt werden.


Der Bund übernimmt höhere Kosten und will das Asylrecht einschränken

Die Bundesregierung kommt mit den Beschlüssen des »Flüchtlingsgipfels« den Forderungen von Ländern und Kommunen nach finanzieller Entlastung bei der Versorgung von Flüchtlingen weit entgegen. Die Bundeskanzlerin, der Finanzminister Wolfgang Schäuble und die Ministerpräsidenten haben sich auf ein Maßnahmenpaket verständigt, mit dem der Bund wesentliche Teile der Kosten für die Versorgung und Unterbringung der Kriegsflüchtlinge und AsylbewerberInnen übernimmt. Die entsprechenden Gesetze sollen im Eilverfahren den Bundestag und -rat passieren, um am 1. November bereits in Kraft zu treten.

Der Bund erhöht den für 2015 vorgesehenen Betrag zur Entlastung der Länder nochmals um eine Milliarde Euro – über Anteile am Umsatzsteueraufkommen. 2016 sollen es gut vier Mrd. Euro werden. Ab 1. Januar 2016 übernimmt der Bund dauerhaft einen Teil der Asylkosten. Den Ländern werden dazu 670 Euro pro Monat und Asylbewerber/in erstattet –vom Tag der Erstregistrierung bis zum Abschluss des Asylverfahrens.

Bei der Berechnung wird die erwartete Zahl von 800.000 Asylbewerbern in diesem Jahr zugrunde gelegt und eine durchschnittliche Asylverfahrensdauer von fünf Monaten. Das ergibt 2,68 Milliarden Euro. Die tatsächlichen Kosten sollen Ende 2016 abgerechnet werden. Damit geht der Bund in Vorleistung und übernimmt auch das Risiko für den Fall, dass die Asylverfahren länger dauern. Das Geld soll über das Finanzausgleichsgesetz vom Bund an die Länder gehen, die es an die Kommunen weiterleiten.

Zudem soll auch für abgelehnte Antragsteller die 670-Euro-Pauschale an die Länder fließen, aber nur für einen Monat. Hier wird unterstellt, dass die Hälfte der Antragsteller anerkannt wird. Kalkuliert wird also mit 400.000 Asylbewerbern.

Weitere 350 Millionen Euro jährlich stellt der Bund für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bereit. Zudem gibt er den Ländern in den Jahren 2016 bis 2019 für den sozialen Wohnungsbau je 500 Millionen Euro. Kommunen erhalten über Ex-Militärflächen hinaus weitere Immobilien verbilligt für den sozialen Wohnungsbau. Geplant sind Anreize für den Bau preiswerter Wohnungen. Um die Flüchtlinge schnell unterbringen zu können, sollen nun auch »Abweichungen von bauplanungsrechtlichen Standards« ermöglicht werden, wie es im Beschluss des Flüchtlingsgipfels heißt. Das betrifft nach bisherigem Stand sowohl den Einsatz erneuerbarer Energien sowie die energetische Wärmedämmung.

Der Bund stellt die durch den Wegfall des Betreuungsgeldes bis 2018 freiwerdenden Mittel den Ländern bereit – zur Verbesserung der Kinderbetreuung.

Der Bund wird künftig die Verteilung der Flüchtlinge auf die Länder organisieren. Das läuft per Computersystem nach dem »Königsteiner Schlüssel« – also ausgerichtet nach Steuereinnahmen und Bevölkerungszahl der Länder. Angesichts der vielen Engpässe ist inzwischen aber einige Koordination gefragt, weil nicht jedes Land, das nach dem regulären System gerade eine größere Zahl an Flüchtlingen aufnehmen müsste, auch genügend leere Plätze in Unterkünften hat. Diese Koordinierungsaufgabe übernimmt nun der Bund. Er richtet »Wartezentren« für ankommende Flüchtlinge ein. Dort werden sie zunächst registriert. Anders als bisher sollen sie erst auf die Kommunen verteilt werden, wenn sie den Asylantrag bereits gestellt haben.

Weitere Elemente der Vereinbarung sind: Der Bund öffnet die Integrationskurse für Asylbewerber, die eine »gute Bleibeperspektive« haben, und stockt die Mittel dafür auf. Das Leiharbeitsverbot für Asylbewerber und Geduldete wird gelockert.

Zur Finanzierung der zusätzlichen Flüchtlingskosten will Finanzminister Wolfgang Schäuble die Überschüsse aus dem laufenden Haushaltsjahr nutzen, mindestens sechs Milliarden Euro, sowie als Sicherheitsreserve ein kleines Sparpaket für 2016 auflegen, so dass insgesamt knapp neun Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Neben dem größeren Teil, der an die Länder geht, veranschlagt der Bund drei Milliarden Euro für Sozialhilfeleistungen an anerkannte Asylbewerber und für den Ausbau des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

Das Bundesamt für Migration bekommt zudem deutlich mehr MitarbeiterInnen, um Asylverfahren weiter zu beschleunigen. Behörden-Chef Weise kündigte an, die Mitarbeiterzahl von 3.300 auf 6.300 fast zu verdoppeln. Im Jahr 2016 sollen dann zwischen Registrierung eines Flüchtlings und Asylentscheid nur noch maximal fünf Monate liegen.


»Licht und Schatten«

Dies sind die positiven Aspekte des beschlossenen Maßnahmenpakets. Daneben enthält es allerdings weitere, auch verfassungsrechtlich höchst problematische Elemente. Diese stellen mit Blick auf die anvisierte Integration der Zufluchtsuchenden kontraproduktive Regelungen dar – vor allem entlang der Sortierung von »guten« und »schlechten« AsylbewerberInnen, die mit der proklamierten »Willkommenskultur« nicht vereinbar sind.

Dazu gehören Schutzsuchende, die nicht aus »sicheren Herkunftsländern« stammen, sollen künftig sechs Monate in den Erstaufnahmelagern bleiben müssen, sofern nicht bereits binnen dieser Frist über ihr Asylgesuch entschieden ist. Dies dürfte aktuell nur bei syrischen Flüchtlingen der Fall sein, deren Asylanträge bevorzugt bearbeitet werden. Deren durchschnittliche Asylverfahrensdauer lag 2014 bei vier Monaten. Flüchtlinge aus anderen Herkunftsstaaten müssen wesentlich länger warten: Sie dürften künftig sechs Monate in den Erstaufnahmelagern bleiben müssen – besonders für Kinder oder andere besonders verletzliche Personen sind das sechs qualvolle Monate. Außerdem soll es zukünftig in diesen Erstaufnahmeeinrichtungen möglichst Sachleistungen statt Bargeld geben.

Zusätzlich zu Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien sollen nun Albanien, Montenegro und Kosovo als »sichere Herkunftsländer« eingestuft werden, obwohl der fortwährende Bundeswehreinsatz im Rahmen von KFOR die prekäre Sicherheitslage im Kosovo illustriert und unter anderen Minderheiten Roma in diesen Staaten struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Flüchtlinge aus diesen Staaten werden künftig – wie bereits jetzt z.B. in Bamberg – in eigenen Erstaufnahmelagern kaserniert und müssen dort bis zu ihrer Abschiebung verbleiben – auf unbestimmte Zeit. Sie erhalten Arbeitsverbote und werden weitestgehend von sozialen Leistungen ausgeschlossen.

Dies wird unter anderen zahlreiche Roma treffen, die vor rassistischer Diskriminierung aus ihren Herkunftsländern fliehen – eine Minderheit, von denen der deutsche NS-Staat europaweit Hunderttausende in KZs ermordete. Gleichzeitig will der Bund für Menschen aus den sechs Staaten neue Wege zur legalen Arbeitsmigration nach Deutschland schaffen – als Alternative zum Asylsystem. Wer einen Arbeits- oder Ausbildungsvertrag »mit tarifvertraglichen Bedingungen« vorweisen kann, soll hier arbeiten oder eine Ausbildung aufnehmen dürfen.

Für einen Teil der Flüchtlinge werden die Sozialleistungen abgesenkt. Betroffen sind Schutzsuchende, die bereits in einem anderen EU-Land als schutzberechtigt anerkannt worden sind und dennoch nach Deutschland kommen; Personen, die von einem ersten EU-Land in ein anderes EU-Land umgesiedelt worden sind und dann nach Deutschland weitergereist sind; Geduldete, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenen Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können.

Künftig soll bei diesen Gruppen nur noch Mittel zur physischen Existenzsicherung, also Lebensmittel und Zuschuss zum Wohnen etc. gewährt werden. Das sozio-kulturelle Existenzminimum (das »Taschengeld«) soll hingegen gestrichen werden. Diese Leistungskürzung ist mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar.

Darunter fällt z.B. die Ermöglichung von Kommunikation. Den betroffenen Flüchtlingen soll zukünftig die Ausübung einer Erwerbstätigkeit und die Aufnahme oder Fortführung von Bildungsmaßnahmen verboten werden. Dies betrifft auch viele langjährig Geduldete. Sobald sie nicht mehr der allgemeinen Schulpflicht unterliegen, sondern z.B. die Realschule, das Gymnasium oder eine Universität besuchen oder eine sonstige Ausbildung machen, müssten sie diese sofort beenden. Diese Regelungen verkehren die bei den letzten Gesetzesänderungen erzielten Fortschritte in ihr Gegenteil.

Die Einführung einer Gesundheitskarte für Schutzsuchende bleibt den Ländern überlassen. Der Bund schafft die dafür notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen von den Ländern verpflichtet werden können, gegen Kostenerstattung die Krankenbehandlungen bei AsylbewerberInnen zu übernehmen. Mit einer Gesundheitskarte sollen Flüchtlinge direkt zum Arzt gehen können, bislang müssen sie dazu vorher die Zustimmung der zuständigen Behörde einholen.

Eigentlich war mit der angekündigten Einführung der Gesundheitskarte mal versprochen worden, dass Asylsuchende dieselben Rechte auf Krankenversorgung erhalten wie gesetzlich Versicherte auch. Dies war Teil des Bund-Länder-Deals vom November 2014. Das Gegenteil soll nun kommen: Am eingeschränkten Leistungsumfang soll sich nichts ändern (weiterhin Notversorgung nach dem AsylbLG) und eine einheitliche Bundesregelung wird es auch nicht geben.

Für Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) enthält »das Paket ... Licht und Schatten.« Die Finanzzusagen seien »ein Schritt in die richtige Richtung«, aber nicht ausreichend. Er kündigte an, die pauschale Einstufung der Westbalkan-Länder als »sichere Herkunftsstaaten« abzulehnen. »Den Gesetzesvorhaben, die nur auf Abschreckung ausgerichtet sind und Ressourcen für sinnlose Bürokratie binden, konnte ich nicht zustimmen.«

Zu Recht hat der Fraktionschef der LINKEN im Bundestag, Gregor Gysi, dazu aufgerufen, sich in der Flüchtlingskrise endlich der Bekämpfung der Fluchtursachen anzunehmen. In einer Debatte im Bundestag über das Maßnahmenpaket der Regierung zur Flüchtlingspolitik verwies er darauf, dass den Menschen in Lagern im Irak und anderen Nachbarländern Syriens von den Hilfsorganisationen aus Geldmangel die Essensrationen gekürzt wurden. »Ich verstehe, warum diese Menschen kommen«.

Ob die politischen Eliten allerdings zu dieser Einsicht bereit sind und als ersten kleinen Schritt eine signifikant höhere Finanzausstattung der UN-Hilfsorganisationen bereitstellen, um die weltweite Fluchtbewegung abzubauen, darf bezweifelt werden.

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