Gisela Kessler: Der Kampf der Heinze-Frauen
Keiner schiebt uns weg!
Der nachstehende Beitrag von Gisela Kessler erschien im Jahr 2004 in dem von Dorothea Müller, Holger Menze und Jörg Wollenberg im VSA: Verlag herausgegebenen Band Das Wunder von Hörste. 50 Jahre politische Bildung. Ein Lese-Bilder-Buch, in dem zahlreiche Autorinnen und Autoren den Weg der ver.di-Bildungsstätte in Lage-Hörste »vom Bergheim Hörste über das Heinrich-Hansen-Haus zum Institut für Bildung, Medien und Kunst (IMK)« nachgezeichnet haben.
50 Jahre Hörste. Die Gedanken gleiten zurück in die 1970er/1980er Jahre. In der Erinnerung ziehen viele Bilder vorbei. Und da ist ein Gesamteindruck von damals, vielleicht so etwas wie ein ganz großes Gruppenbild, Kollektiv durften wir es damals noch nennen – aber wir wurden verstanden.
Auf diesem Bild haben die solidarisch verbundenen Menschen leuchtende Augen, lachende Gesichter, motivierte Hände und demoerfahrene Füße – eben Leben pur. Und dabei haben sie so viel geschuftet: im Betrieb, auf der Gewerkschaftsschule, zu Hause, in ihren Familien, am Info-Stand auf der Straße... Geradeso, als hätten sie gewusst oder zumindest geahnt: »Arbeit verbindet, Eigentum trennt«, wie dies ein Klassiker der Arbeiterbewegung (bis heute!) zu Recht sagte.
Was ist los? Wird hier Nostalgie zum politischen Faktor? Müssen denn Träume nicht ihre Wurzeln in der Realität haben? Haben sie – es war so!
Konkreter: Hörste, Ostwestfalen, der Landesbezirk Nordrhein-Westfalen, sie alle waren Geburtsstätte, Wiege auch für den erfolgreichen Kampf der 29 Heinze-Kolleginnen um Lohngleichheit und Gleichberechtigung: vor den Arbeitsgerichten aller Instanzen und in der Öffentlichkeit weit über den Bereich unserer kleinen IG Druck und Papier hinaus. Auch im gewerkschaftlichen Gesamtspektrum galt es Zeichen zu setzen. Wegen ihres aufrechten Ganges, wegen ihrer Streiks und ihrer Kampfbereitschaft wurde diese Industriegewerkschaft Druck und Papier nicht selten als »marxistische Kaderorganisation« beschimpft. Na und? Kopf hoch! Weiter gehts! Frauen, macht auch mit!
In Hörste und anderswo haben die Drupa-Frauen oft bis spät in die Nacht hinein ihre und ihrer Kolleginnen Situation analysiert, gemeinsam verbindliche(!) Ziele formuliert und Wege ausgekundschaftet, wie wir in praktischer Alltagspolitik gemeinsam diese Ziele erreichen können.
Ausgangspunkt war dabei stets das betriebliche Geschehen, der Ort, an dem der Interessengegensatz von Arbeit und Kapital am unmittelbarsten aufeinander stößt, wo die »Seite der Barrikade« sinnlich und intellektuell erfahrbar wird.
Diese hier entstandenen Lernerfahrungen sind weitergetragen worden in die Betriebe, vertieft auf weiteren Schulungen in allen Landesbezirken, in Veröffentlichungen und Konferenzen und – was das Wichtigste war – immer unter aktiver Einbeziehung der betroffenen Kolleginnen selbst! Anders gesagt: Es ist gelungen, den ganz vielen deutlich zu machen, dass die Lohndiskriminierung nur die eine Seite der Medaille, der Extraprofit der Unternehmer (1980: 40 Milliarden DM) die andere Seite ist und schließlich der solidarische Kampf gegen die Lohndiskriminierung die logische Konsequenz für uns sein muss.
Gleichzeitig war aber für uns Gewerkschafterinnen auch klar, dass die Lohndiskriminierung der Frauen deshalb der Kristallisationspunkt in den sozialen Auseinandersetzungen um die Gleichberechtigung der Frauen ist und sein muss.
Hier – wie durch ein Brennglas gebündelt – spiegeln sich alle anderen Diskriminierungen wider. Hier eben zeigt sich, wie sehr die Arbeitskraft der Frauen unterbezahlt und unterbewertet wird.
Kristallisationspunkt heißt aber auch, dass wir als Gewerkschaftsfrauen die Beseitigung der Lohndiskriminierung als Teil des gewerkschaftlichen Kampfes um die Erhöhung des Anteils an den von uns abhängig Beschäftigten erarbeiteten Werten verstehen. Durch unsere Arbeit, durch unsere Ideen, unser Denken und Handeln ist der gesellschaftliche Reichtum erst zustande gekommen. Wir, die abhängig Beschäftigten schaffen die Werte, wir dürfen aber nicht über sie verfügen. Deshalb haben wir gesagt: Beim Kampf um mehr Lohn und um Lohngleichheit geht es um mehr als ein paar Pfennige; es geht gleichermaßen um das Selbstbewusstsein der arbeitenden Menschen; hin zu einer anderen, für uns besseren Gesellschaft, als es der Kapitalismus je war oder ist.
Und dies wiederum war das Scharnier zu unseren Kollegen. Unser »Aufruf« hieß: Kollegen, Männer, kommt her und kämpft mit uns für euch! Schließlich sind Gewerkschafterinnen in einer gemeinsamen »gemischten« Organisation verankert; die Bündnisfähigkeit in der Frauenbewegung steht auf einem anderen Blatt. Und so wurden wir von den Kollegen auch »begriffen«: als Initiatoren für gemeinsames solidarisches Handeln. Wir wollten auch sie ganz einfach überzeugen, nicht überreden oder gar »verführen«.
Hörste – warum war das die Wiege? Nun, in unserem Zentralorgan erschien ein kleiner Artikel von Helmut Westerwelle über eine betriebliche »Aktion gerechte Eingruppierung«. Das war als gedanklich-politisches Signal sogar in der Stuttgarter Zentrale angekommen. Ja, gut so – die Zeit ist reif, gegen Lohndiskriminierung endlich nach hundert Jahren Zeichen zu setzen. Diese Idee muss verlängert und verbreitert werden, damit Tiefe in den Fluss der Bewegung kommt.
Vorläufer der Klageaktionen war eine breite betriebliche Untersuchung in Nordrhein-Westfalen über Frauenlöhne, Tarifverträge und überbetriebliche Zulagen. Und diese Untersuchung ließ schon viele Betriebsräte auf das Problem aufmerksam werden: Die Zeit, wir waren reif, es anzupacken, anhand unserer dicken Handlungsanleitung »Aktion gerechte Eingruppierung« und unzähliger Betriebsversammlungen zum Thema – bundesweit.
So auch bei Foto-Heinze in Gelsenkirchen. Bodo Murach, der Betriebsratsvorsitzende dort, hatte eh sein gewerkschaftliches Herz für die Frauen entdeckt und packte die Gelegenheit beim Schopf. Lohndiskriminierung war ja oft eine »Geheimsache«, so wollten es die Unternehmer. Sie wollten bloß keine Vergleiche. So wurde denn in einer Dunkelkammer (!) der liegen gelassene Lohnstreifen eines Kollegen entdeckt. Jetzt konnten also endlich Beweise für die Lohnungleichheit geliefert werden!
Wie aber kam es dann zu Klageaktionen? Sollten Gewerkschafter/innen jetzt auf die letzte Instanz vor Gericht setzen? Wir wussten doch aus Erfahrung: Vor den Gerichten und auf hoher See sind wir in Gottes Hand! Dann doch lieber die Geschicke in die eigenen Hände nehmen.
Die Klageaktionen waren auch die Reaktion auf eine Initiative von Annemarie Renger, die nach einer »Leichtlohnfrau« forschte, die dann stellvertretend für die vielen einen Musterprozess führen sollte. Wir meinten dagegen: Lohnfragen durch individuelle Initiativen regeln zu wollen heißt doch die Lohnfrage kurzerhand ihrer gesellschaftlichen Machtfrage zu berauben. Also, erst dann, wenn im Betrieb nichts mehr geht, dann denken wir an die Justiz. Jedoch: Nicht nur eine Einzelne soll dann still und leise um ihr Recht ringen müssen. Es ging nach wie vor um kollektives Handeln – deshalb also 29 Kolleginnen zusammenbinden.
Und dann: Die Kolleginnen müssen eingebettet werden in eine breite Solidarität – »Mütter, Väter, Töchter, Söhne – kämpfen für die gleichen Löhne«, so stand es auf Buttons und Plakaten. Unterschriftenaktionen in allen Städten, bei allen Gewerkschaften, Solidaritätsadressen, Demonstrationen vor den Arbeitsgerichten aller Instanzen und schließlich zwei Tage vor der »höchstrichterlichen« Entscheidung die große Solidaritätskundgebung und Demonstration mit 7.000 Menschen beiderlei Geschlechts in Kassel, nach der die Kolleginnen und Kollegen viele tausend rote Luftballons in den blauen Abendhimmel aufsteigen ließen.
Das alles geschieht nicht im Selbstlauf. Die Kolleginnen haben geschuftet; sie haben die Nacht zum Tag gemacht. Es entstand eine breite Bündnisbewegung, an der sich alle sozialen Gruppen beteiligten; auch der Evangelische Kirchentag schickte eine Soli-Adresse an die Frauen, nachdem wir dort einen Infostand aufgebaut hatten.
Und dann unsere selbst gemachten Lieder. »Keiner schiebt uns weg«, von den Heinze-Frauen selbst getextet, wurde später zum Kampflied aller aktiven Gewerkschaftsfrauen. Kein Internationaler Frauentag irgendwo in der Republik ging vorbei ohne dieses Lied. Das Theaterstück »Frauen sind keine Heinzelmänner« des Mobilen Rhein-Main-Theaters wurde anlässlich der Ruhrfestspiele und später auf dem Gewerkschaftstag der IG Druck und Papier und anderswo aufgeführt. Zur Geburtsstätte nach Hörste kehrten wir anlässlich der Hörster Kulturtage mit unserem Anliegen nicht ohne Stolz zurück.
Da soll uns keiner sagen, Arbeiter haben kein Gespür für Kultur – lasst sie machen, sie brauchen auch ihre eigene, wenn es eine Bewegung mit Kopf und Herz sein soll. Die Menschen schreiben ihre eigene Geschichte – so oder so, freilich unter den Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Abhängigkeit nicht aus freien Stücken. Sie brauchen Unterstützung. Wenn man einmal – nach dem schließlich gewonnenen Prozess vor dem Bundesarbeitsgericht – erfahren und erlebt hat, wie eine ganze Pressekonferenz mit fast allen anwesenden Journalisten »Keiner schiebt uns weg« singt, dann weiß man auch, wie der Funke überspringen kann.
Und die Drupa-Frauen haben sich selbst spürbar weiterentwickelt. Bewusstsein und Persönlichkeit entwickeln sich nicht vorwiegend in unverbindlichen Diskussionszirkeln – so notwendig die gemeinsame Aufarbeitung von Problemen auch ist –, sondern in der »handfesten« Auseinandersetzung, in Verbindung von Erfahrungen, Erkenntnissen und gemeinsamem, solidarischem Handeln.
Und das wird so bleiben, auch dann, wenn es heute so aussieht, als wäre die Solidarität gewissermaßen verdampft in den neoliberalen Verhältnissen. Auch wenn die Gewerkschaften neue Weg auskundschaften müssen, auch wenn’s nicht gut aussieht für eine gesellschaftliche Veränderung in unserem Sinne, das »Andere« wie in einer Warteschleife steckt – auch dann gilt immer noch das Zitat von Bert Brecht, mit dem Loni Mahlein vor den 7.000 in Kassel seine Rede abgeschlossen hat:
»Die Schwachen kämpfen nicht.
Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang;
Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre,
Aber die Stärksten ihr Leben lang –
Und diese sind unentbehrlich.«
Dies gilt auch unter unvergleichlich schwierigeren Bedingungen als damals. Wir sind es denen schuldig, die vor uns gekämpft haben – viele mussten dafür ihr Leben lassen –, und wir sind es unseren Kindern schuldig. Damit wir und sie wieder in strahlende Gesichter schauen können.
Wir sind auch nicht allein. Da waren so viele Millionen auf der ganzen Welt, die gegen den Krieg und für den Frieden aufgestanden sind. Zum Beispiel haben am 1. November 2003 in Berlin – für alle überraschend – 150.000 Menschen gegen die Schrödersche Agenda mobil gemacht. Nicht auszudenken, wie viele es hätten schon damals sein können, wenn die Gewerkschaften endlich geschlossen den Mut gehabt hätten, hierzu aufzurufen und aktiv zu mobilisieren – wie die insgesamt 500.000 Menschen am 3. April 2004 in Berlin, Köln und Stuttgart ja denn auch gezeigt haben.
Wer aus Angst, Fehler zu machen, sich nicht bewegt, wird selbst zum Problem. Und wenn die historische Schwester ihren eigenen Weg bis zur bitteren Neige gehen will, dann brauchen doch die Gewerkschaften keine Angst vor einem einsamen Singledasein zu haben. Es gibt andere und neue Bündnispartner. Ein bisschen Mut braucht es dann schon, denn so manches läuft dann sicher nicht mehr im alten und gewohnten Fahrwasser. Vielleicht ganz gut so...