30. Juli 2023 Ewald Engelen: Austerität, Kulturkampf, Atlantizismus
Abgang des niederländischen Regierungschefs Mark Rutte
Mit dem Sturz der niederländischen Regierung am 7. Juli endete die Amtszeit von Mark Rutte, dem am längsten regierenden Premierminister in der Geschichte des Landes.[1] Er war der Manager-Politiker par excellence.
Bevor er lange Zeit im Maschinenraum der rechtsgerichteten Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) arbeitete, hatte er seine Fähigkeiten in der Personalabteilung von Unilever verfeinert.
Seine Amtszeit als Regierungschef war von großen politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen geprägt, doch gelang es ihm über ein Jahrzehnt lang, mehrere Krisen zu meistern und seiner Partei eine Reihe von Wahlsiegen zu sichern. Durch seinen freiwilligen Rücktritt hat er es geschickt vermieden, von seinen Rivalen aus dem Amt gedrängt zu werden. Seine Abschiedssitzung im Parlament war warmherzig und freundlich, die Opposition hatte nur lobende Worte für ihn übrig. Und man konnte hören, wie Rutte seinerseits einem der Oppositionsführer der linken Mitte zuflüsterte, er habe ihn immer »gemocht.«
Rutte nutzte die Krise in der Eurozone im Jahr 2010, um mit einem Programm für das Amt des Premierministers zu kandidieren, das selbstbewusst die »Big Society« des damaligen Vorsitzenden der britischen Konservativen, David Cameron, kopierte: Atlantisch, merkantilistisch, mit dem Ziel, den öffentlichen Sektor zu verkleinern, indem die Verantwortung auf die Privathaushalte, die Wohlfahrtsverbände und die Zivilgesellschaft übertragen wird. Rutte nannte es die »Beteiligungsgesellschaft« und erklärte den Wähler*innen, dass »der Staat keine Glücksmaschine mehr ist«.
Diese Botschaft kam bei der VVD-Basis gut an: Großunternehmen, kleinbürgerliche Konservative und Rentner*innen. Nachdem er mit 20% der Stimmen gewählt worden war, leitete er einen beispiellosen Sparkurs ein, der ab 2012 von den Sozialdemokraten unterstützt wurde und zur längsten Rezession und größten Verarmung in der niederländischen Nachkriegsgeschichte führte.
Die Folgen waren eine höhere Staatsverschuldung, steigende Selbstmordraten, sinkende Löhne und ein ausgeprägter Pflegenotstand. Doch all das spielte keine Rolle, solange die ausländischen Investitionen weiter flossen. Immer wieder erinnerte Rutte die Wähler*innen daran, dass der Reichtum der niederländischen Nation von ihren multinationalen Unternehmen abhänge, und sprach von dem Land als einer geschlossenen privaten Gesellschaft mit beschränkter Haftung: »BV Nederland«.
Nach dieser wirtschaftlichen Neuausrichtung verlagerte Rutte in seiner zweiten und dritten Amtszeit den Schwerpunkt auf den Kulturkampf: Er verfolgte eine harte Linie in der Migrationskrise und verbot die Burka aus verschiedenen öffentlichen Räumen, während außerhalb der Niederlande die VVD unterdessen die syrische Levante-Front unterstützte, die in ihren Gebieten die Scharia einführte und Hinrichtungen im Schnellverfahren durchführte.
Gerade als sich die niederländische Wirtschaft von den ihr zugefügten Wunden zu erholen begann und sich neue Haushaltsspielräume eröffneten, zwang die Covid-19-Pandemie die Regierung zum Handeln. Auch hier folgte Rutte dem Beispiel der britischen Konservativen. Zunächst ließ er dem Virus freien Lauf und vertraute auf die Herdenimmunität, bevor er zwei Wochen später eine abrupte Kehrtwende vollzog und strikte Restriktionen und andere »nicht-pharmazeutische Maßnahmen« einführte, um das marktorientierte niederländische Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Die Medien stellten seine Reaktion auf die Pandemie als äußerst kompetent dar, was es ihm ermöglichte, die Herausforderung von Thierry Baudets rechtsextremem und euroskeptischem Forum für Demokratie abzuwehren und die Parlamentswahlen 2021 erneut zu gewinnen. Inzwischen sind weitere vernichtende Berichte über Ruttes Gesundheitspolitik ans Licht gekommen. Die parlamentarische Untersuchung, die 2025 beginnen sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Ruttes dritte Koalition zerbrach, als Berichte auftauchten, dass die Regierung wegen des Kinderbetreuungsgeldes brutal gegen sozial schwache Eltern vorgegangen war. Nach beispiellosen 299 Verhandlungstagen wurde 2022 ein neues Kabinett gebildet. Doch da hatten sich die politischen Verhältnisse bereits geändert: Covid war weitgehend überwunden und in der Ukraine herrschte Krieg.
Zudem hatte der Oberste Gerichtshof der Niederlande entschieden, dass die Regierung gegen ihre Klimaverpflichtungen verstoße, und sie gezwungen, die Schließung von Bauernhöfen und die Halbierung des Viehbestands im ganzen Land anzukündigen. Dies war eine stumpfe Lösung für die Probleme, die durch die überdimensionierte Viehwirtschaft des Landes verursacht werden, die für 46% der Stickstoffemissionen des Landes verantwortlich ist, sowie für die Zerstörung von Naturschutzgebieten und die Verschmutzung von Gebieten, die von der EU gesetzlich geschützt sind.
Ohne eine Verkleinerung dieses riesigen Sektors können die Niederlande ihre Umweltziele nicht erreichen. Aber ohne eine Art »gerechten Übergang«, der die Arbeitsplatzverluste kompensiert und die Wirtschaft von den Agrarexporten abkoppelt, hat die Entscheidung, eine große Zahl von Tieren zu töten, verständlicherweise Ängste in der bäuerlichen Bevölkerung ausgelöst. Da die öffentlichen Gelder nun in den Verteidigungs- und Militärhaushalt sowie in Programme zum Ausgleich der durch die westlichen Sanktionen gegen Russland verursachten Lebenshaltungskosten fließen, sind die Mittel für eine grüne Sozialpolitik knapp geworden.
Dies löste eine Welle aggressiver Bauernproteste aus, bei denen Hunderte von Traktoren wichtige Autobahnen blockierten, und gipfelte in der Gründung der Bauern-Bürger-Bewegung (BBB): einer rechtspopulistischen Partei, die vom mächtigen niederländischen Agrarkomplex finanziert und von einem ehemaligen Journalisten der Fleischindustrie geführt wird. Im März dieses Jahres fügte die BBB der VVD eine schmerzhafte Wahlniederlage zu. Sie erhielt 1,4 Millionen Stimmen und errang die meisten Sitze in allen niederländischen Provinzen.
Ein großer Teil der BBB-Anhänger*innen waren unzufriedene Landbewohner*innen – Bewohner*innen der sogenannten »unwichtigen Orte«. Viele von ihnen hatten zuvor für die PVV, einen migrationsfeindlichen Ableger der VVD, oder für die VVD selbst gestimmt. Sie waren nicht unbedingt von jedem Element des BBB-Programms überzeugt, das eine Obergrenze für Flüchtlinge und strengere Regeln für die Integration von Migranten vorsieht, aber sie waren von Ruttes politischem Apparat und seiner offensichtlichen Bereitschaft, ihre Lebensgrundlagen zu opfern, ausreichend abgestoßen.
Auch einige Wähler*innen in den Städten stimmten für die BBB, nachdem die Regierung große Bauprojekte gestoppt hatte, um die Schadstoffemissionen zu reduzieren, und dabei jeden Versuch, die Wohnungskrise des Landes zu lösen, unterließ.
Rutte stellte sein neues Kabinett zusammen, als die Popularität der BBB zunahm. Der Finanzminister, der ehemalige McKinsey-Partner Wopke Hoekstra, tauschte die Rollen mit der Außenministerin, der ehemaligen Diplomatin Sigrid Kaag, die die sozialliberale Partei D66 führt. Die VVD-Basis wertete dies als Zeichen dafür, dass die D66 in der Regierung an Einfluss gewinnt und dass Rutte möglicherweise von Kaag ausmanövriert wurde, die ihre neue Position nutzen könnte, um eine elitäre, ultraliberale Agenda zu verfolgen.
Schlimmer noch: Während der Koalitionsverhandlungen 2022 hatte sich Rutte zu ehrgeizigen Umweltzielen verpflichtet, die ihn dazu zwangen, politische Maßnahmen zu unterzeichnen – höhere Steuern auf Flüge, Benzin und womöglich auch auf Fleischprodukte –, die als belastend und autoritär empfunden wurden.
Rutte selbst schien es zunehmend unangenehm zu sein, mit der Koalition in Verbindung gebracht zu werden, von der man glaubte, sie sei von »Klimagläubigen« gekapert worden, die die heimische Lebensmittelindustrie zerstören wollten, und von »Wokies«, die sich für die niederländische Beteiligung am Sklavenhandel entschuldigen und die berüchtigte Blackface-Tradition des Landes abschaffen wollten.
Infolgedessen begann die Popularität der Regierung zu sinken. Alle Umfragen sagten voraus, dass die Regierungsparteien bei den nächsten Parlamentswahlen viele Sitze verlieren würden, während die BBB weiter zulegen konnte. Die Parlamentsjournalisten erwarteten, dass Rutte alles tun würde, um seine Schäfchen zusammenzuhalten und auf eine Trendwende bei den Wahlen zu warten. Eine Koalition, die mit so viel Mühe gebildet worden war, würde doch nicht so leicht auseinanderbrechen, oder? Unter dem Druck der Partei-Ältesten und der Bürokraten suchte Rutte nach einem Ausweg, der den Schaden für die VVD bei den Wahlen so gering wie möglich halten würde. Ein neuer Zustrom von Migranten im Jahr 2023 bot den perfekten Vorwand.
Der Grundstein für diese Kontroverse war bereits gelegt. Seit dem Krieg gegen den Terror wird der Islamismus in den niederländischen Medien als zivilisatorische Bedrohung dargestellt. Die Ablehnung von Einwanderung im Allgemeinen und von muslimischen Neuankömmlingen im Besonderen ist zum wichtigsten politischen Lackmustest des Landes geworden, der die konservative Mehrheit von der progressiven Minderheit trennt, die nicht auf der Höhe der Zeit sei.
Materielle Fragen – Lebenshaltungskosten, verfügbares Einkommen, Besteuerung, Qualität und Zugänglichkeit öffentlicher Dienstleistungen – gelten heute als technokratisch und sind ausschließlich Sache von Wirtschaftsexperten. In der wichtigsten täglichen Nachrichtensendung des niederländischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Nieuwsuur, ist ein einziger neoklassischer Ökonom zu sehen, der die Öffentlichkeit über die Ursachen der Inflation, die Notwendigkeit von Zinserhöhungen und die besten Mittel zur Erhaltung der Rentabilität informiert.
Politiker haben sich geweigert, über die »Gierinflation« zu sprechen, weil sie diesen Begriff als Schimpfwort für Aktionäre betrachten. Versuche der Vorsitzenden der Sozialistischen Partei, Lilian Marijnissen, und des Vorsitzenden des größten Gewerkschaftsbundes, Tuur Elzinga, diesen Cordon sanitaire zu durchbrechen, waren bisher erfolglos.
In dieser Situation war es für Rutte ein Leichtes, seiner Basis rotes Fleisch zu servieren, indem er einen Streit mit seinen Koalitionspartnern inszenierte. Der Streit drehte sich um die Frage, welche Kategorien von Flüchtlingen das Recht haben sollten, mit ihren Kindern zusammenzuziehen, sobald sie den offiziellen Flüchtlingsstatus erhalten haben. Zwei der vier Regierungsparteien, die D66 und die Christliche Union, wollten dieses Recht sowohl für politische Flüchtlinge als auch für Flüchtlinge aus Kriegsländern.
Rutte war bereit, die erste Kategorie zu akzeptieren, nicht aber die zweite. Indem die VVD dieses Thema zu einem Knackpunkt machte, konnte sie einer zunehmend unzufriedenen Wählerschaft ihre Entschlossenheit in der Migrationsfrage demonstrieren und sich nach dem Absturz in den Umfragen wieder erholen. Die Partei hat gezeigt, dass sie stark genug ist, das ultimative Opfer zu bringen: Ruttes vierte Regierung und damit seine politische Karriere.
Ob sich dieses politische Vabanquespiel auszahlen wird, ist noch ungewiss. Die nächsten Wahlen im November werden von noch unbekannten Parteivorsitzenden bestritten, da Hoekstra und Kaag zurückgetreten sind. Frans Timmermans, der derzeitige Vizepräsident der Europäischen Kommission, der im Laufe seiner politischen Karriere fast alle erdenklichen politischen Ämter bekleidet hat, will die gemeinsame Liste von Sozialdemokraten und Grünen anführen. Jüngste Umfragen deuten jedoch darauf hin, dass rechte Wähler*innen Ruttes Entscheidung, zurückzutreten, zu schätzen wissen; einige Umfragen deuten sogar darauf hin, dass dies der VVD einen Vorsprung vor der BBB verschafft hat.
In vielerlei Hinsicht ist Ruttes Schritt typisch für die Politik, die er vertritt. Der Premierminister ist bekannt für seine Abneigung gegen große ideologische Projekte. So zitierte er einmal Helmut Schmidt mit den Worten, wer Visionen habe, solle zum Optiker gehen. Stattdessen versucht er, das Positionsspiel der heutigen Politik zu beherrschen, indem er Taktik und Optik über Strategie und Substanz stellt.
Seine größte Sorge war immer, wie er die nächste Wahl hätte überleben können, wie er das nächste Ereignis zu seinem Wahlvorteil hätte nutzen können, wie er seinen Abgang inszenieren könne, bevor die Krise eintritt, und wie er sicherstellen könne, dass jemand anderem die Schuld in die Schuhe geschoben wird. Fakten, Politik, demokratische Verfahren waren nur Instrumente, um die öffentliche Wahrnehmung zu manipulieren.
Ruttes Rücktritt könnte das Image der VVD wieder aufpolieren, sich aber auch als fremdenfeindlicher Funke erweisen, der ein brennendes politisches Pulverfass entzündet. Die VVD könnte dann nicht mehr in der Lage sein, eine weitere Koalition mit sozial fortschrittlicheren Parteien zu schmieden; in diesem Fall wäre ein künftiges Bündnis zwischen VVD und BBB nicht auszuschließen.
Dies wiederum würde das Ende eines ernsthaften niederländischen Beitrags zu den weltweiten Bemühungen zur Eindämmung des Klimawandels bedeuten, verbunden mit zunehmendem Illiberalismus und staatlich sanktioniertem Rassismus.
Ruttes internationales Ansehen hat unter seinen innenpolitischen Problemen nicht gelitten. Seine kompromisslose Haltung gegenüber der Ukraine – er hat sich für immer mehr tödliche Waffenlieferungen eingesetzt – hat ihn bei der NATO beliebt gemacht, deren Vorsitz ihm winken könnte. Oder er kehrt zu Unilever zurück. In einer seiner letzten Parlamentsdebatten sagte er, dass er am meisten bedauere, dass die Dividendensteuer nicht abgeschafft wurde, die angeblich für die Entscheidung von Shell und Unilever verantwortlich war, Geschäftssitz und Aktivitäten in das Vereinigte Königreich verlagern.
Nun sind die Aktionäre, vor allem auf dem Londoner Finanzmarkt, mit den Ergebnissen von Unilever unzufrieden und wollen das Unternehmen aufspalten. Eine Idee ist, die Lebensmitteltochter in eine separate juristische Person umzuwandeln und den Hauptsitz zurück in die Niederlande zu verlegen. Rutte wäre der perfekte Mann dafür. Und eine BBB-VVD-Koalition, die die Umwelt im Namen der Profite der Lebensmittelindustrie weiter vergiften will, wäre der perfekte politische Hintergrund.
Ewald Engelen ist Professor an der Universität Amsterdam, Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften, und Kolumnist der niederländischen Wochenzeitung De Groene Amsterdamer. Der hier mit seiner freundlichen Genehmigung dokumentierte Beitrag erschien zuerst am 25.7.2023 unter dem Titel Exit Rutte auf Sidecar, dem Blog von New Left Review. Aus dem Englischen von Hinrich Kuhls.
Redaktionelle Anmerkung
[1] Zu den sozialökonomischen Hintergründen des Endes des vierten Kabinetts Rutte vgl. Bernhard Sander: Koalitionsbruch in den Niederlanden, Sozialismus.de Aktuell, 10.7.2023.