2. September 2024 Redaktion Sozialismus.de: Beklagenswerte normale Destruktion westlicher Demokratien

Alle Augen auf Wagenknecht

Die Erfolge des »Bündnis Sahra Wagenknecht. Für Vernunft und Gerechtigkeit« (BSW) in den jüngsten Wahlen (Europa, Landtage in Thüringen und Sachsen) sind spektakulär. Nach wenigen Monaten hat diese Kaderformation um die Politikerin die seit langem schwärende Krise des bundesdeutschen Parteiensystems aufgedeckt.

Der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey nennt diesen Erfolg spektakulär: »Die bekannteste deutsche Oppositionspolitikerin und ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, die sie nach Jahren der Entfremdung verließ, ist innerhalb von sechs Monaten zum einflussreichen Faktor in der deutschen Politik geworden. Bei der Europawahl erzielte das BSW aus dem Stand 6,2% und war auf Anhieb stärker als Die Linke und die FDP.«[1] In den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen verblüfft dieses politische Phantom mit zweistelligen Wählervoten (Thüringen: 15,8%; Sachsen: 11,8%).

Was führt Nachtwey als Erklärung für diesen spektakulären Erfolg an? Die Deutschen seien »von der real existierenden parlamentarischen« demokratischen Willensbildung und Politikgestaltung entfremdet. Der Autor spielt hier auf die ungelösten Strukturprobleme in der Sicherung des Wirtschaftswachstums und des Ausbaus der gesellschaftlichen Infrastruktur inklusive des Sektors der Care-Ökonomie in allen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften an.

In der Tat, schon ein kurzer Überblick über die westlichen Gesellschaften zeigt eine Tendenz zu personalisierten Herrschaftsformen und vielfältigen Zerfallserscheinungen der demokratisch konstituierten Gemeinwesen. »Weil Wagenknecht sich hierzu erfolgreich als Alternative darstellt und ein Nullsummendenken und Triggerpunkte zum Kern ihres Politikmodells gemacht hat, wird sie kurz- und wohl auch mittelfristig große Erfolge verbuchen können. Auch wenn es einem nicht passt, ihr Erfolg ist große machiavellistische Kunst. Wagenknecht ist die verkörperte Projektion der verbreiteten Anti-Establishment-Gefühle.«

Der frühere SPD Vorsitzende Kurt Beck hält sich mit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr auf.[2] Zielstrebig attackiert er die Mitwirkung der Medien an dem Aufstieg der Personalisierung: »Der Hype, den viele Medien um Frau Wagenknecht machen, ist ärgerlich. Manchmal gibt es kaum eine Fernseh-Talk-Sendung, in der sie nicht sitzt. Das grenzt an Werbung«. Abgesehen von der Kritik an der verstärkenden Wirkung der Medien gehört für Beck das Changieren zwischen linken und rechten Positionen von Wagenknecht zum destruktiven Politikverständnis.

Er führt die vermeintliche machiavellistische Kunst auf eine charakterliche Fehlbildung zurück: »Ich kenne keinen Menschen, der sich so allein um sich selbst dreht wie Frau Wagenknecht«, sagte der frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz: »So viel Egoismus und Egozentrik ist schon extrem.« Und weiter: »Alle Organisationen, in denen Frau Wagenknecht mitgemischt hat, haben am Ende durch sie Schaden genommen. Wagenknecht hat eine enorm zerstörerische Kraft.« Jetzt inszeniere sich Wagenknecht »als Messias, mit einer nach ihr selbst benannten Partei. […] Dabei fragt man sich: Wofür steht sie eigentlich? Mal ist sie linksradikal, mal ist sie rechtsradikal. Sie redet Putin schön, einen Mann, der aus Machtgier ein Nachbarvolk überfällt. Das verbindet Wagenknecht mit der AfD, das ist ein jämmerliches Schauspiel.«

Das »jämmerliche« Schauspiel begeistert immerhin größere Wähler*innenmassen. Im Endeffekt sieht auch Nachtwey den Beitrag des BSW zu einem politischen Scherbenhaufen: »Mit dem BSW kommt der Umbruch der europäischen Parteiensysteme in Deutschland an. Die alten Volksparteien waren ihrem Anspruch nach Mitgliederparteien, die durch Teilhabe zur gesellschaftlichen Integration beigetragen haben. Das BSW ist als personalisierte Plattform auf Polarisierung gepolt. Das könnte auf lange Sicht problematisch werden.

Die Aktiven der alten Massenintegrationsparteien wussten noch, wo den Leuten der Schuh drückt. Personalisierte Parteien wie Macrons Renaissance verlieren häufig den Kontakt zur Basis. Das BSW müsste regional und lokal Wurzeln schlagen. Zudem droht ihm, nicht mehr als Anti-Establishment-Projektionsfläche zu taugen, wenn es in Regierungen eintritt. Die größte Gefahr für den langfristigen Erfolg des BSW aber ist Sahra Wagenknecht selbst. In einer solchen zentralisiert-personalisierten Partei hängt alles an ihr. Bis auf Weiteres wird Wagenknecht erhalten bleiben, mit Linkspopulismus hat das nichts mehr zu tun.«

In der taz verwirft Stefan Reinicke den Verweis auf eine leninistische Wiedergeburt einer destruktiven Politik: »Wagenknecht als Gespenst der deutschen Diktaturgeschichte zu entlarven, sorgt für eine übersichtliche Gut-böse-Front, die übrigens Wagenknechts Schwarzweißrhetorik umgekehrt spiegelt. Diese Geisterbeschwörungen bringen wenig. Das BSW ist kein Monster der Geschichte, sondern eine gegenwärtige Projektionsfläche für Sehnsüchte und Frustrationen.« [3]

Immerhin verheiße die These von der personalen Projektionsfläche für die Berliner Republik auch nichts Gutes: »Der Aufstieg des BSW ist Teil einer Art Italienisierung des deutschen Parteiensystems: Die beiden tragenden Säulen Union und SPD verlieren in einem langsamen Prozess ihre zentrale Stellung. Situative Empörungsunternehmer*innen wie Wagenknecht sind im Aufwind. Der Osten mit seinen losen Parteibindungen ist da Trendsetter.« In Italien schneiderte sich Berlusconi eine eigene Partei, Beppe Grillos populistische »Cinque Stelle« stieg auf und verglühte wieder, Donald Trump hat die Republikaner zu seinem Fanclub degradiert, Emmanuel Macron altbewährte französische Parteien ruiniert: »Angesichts dessen wirkt Wagenknechts Ego-Partei eher wie eine nachholende Anpassung an den Zeitgeist digitaler Massendemokratien, in denen Organisationen weniger zählen als Personen.«

Der Verweis auf eine Italienisierung des deutschen Parteiensystems trifft die Transformation der politischen Arenen nicht ganz. Wir sehen in vielen Ländern eine Transformation. Die Lösung der gravierenden Aufgaben – Stabilisierung des ökonomischen Gesamtprodukts, Übergang in eine nichtfossile Betriebsweise, Ausbau des gesellschaftlichen Intellekts, Entwicklung eines modernen Dienstleistungsökonomie und die Aufhebung der diversen Armutssektoren – bleibt dabei im Ungefähren.

Zu den großen Irrtümern über das BSW gehört, dass es sich partiell um eine populistische Formation mit teilweise »linken« Politikkonzeptionen handelt. »Wir sind keine Linke 2.0«, beteuert Wagenknecht. Der Anschein von linken Reform- und Transformationskonzepten speist sich aus der langjährigen Mitarbeit in linken Organisationen. Die Politikerin war seit Jahrzehnten Anhängerin der Konzeption von Ludwig Erhards »Wohlstand für alle«. Das BSW lässt auch in den Landtagskandidaturen offen, wie die Überwindung der säkularen Stagnation, due Aufhebung der Altersarmut und die anderen Aspekte des gesellschaftlichen Fortschritts verwirklicht werden können.

Nachtwey unterstreicht dieses zentrale Defizit der BSW-Politik: »Sie bespielt die Oben-unten-Ungleichheit, indem sie diese mit Konflikten über Migration und Integration und mit solchen über Gleichstellung, Identität und Klima verkoppelt. Jede Unterstützung für Migranten oder die Ukraine lässt Wagenknecht als Trade-off erscheinen, der dem Staat die Mittel entzieht, in Schulen oder Bildung zu investieren. Die Überlastung der Kommunen, die marode Infrastruktur, fehlende Wohnungen – das sind Probleme mangelnder finanzieller Mittel. Die sozialdemokratische Lösung wäre, die Ressourcen über Neuverschuldung zu generieren, eine linke Lösung würde in einer Politik der Umverteilung, etwa Steuererhöhung für Gutverdiener, liegen. Wagenknecht stellt die Logik der Austerität nicht infrage, sondern eine diabolische Verknüpfung her: Man hätte genug Geld für klamme Kommunen, Renten und Bürgergeld, wenn die Ukraine nicht mehr unterstützt und weniger für Migranten ausgegeben würde.«[4]

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung weist auf die Schnittmengen bei den Wähler*innen für die ressentimentgetriebene, rückwärtsgewandte Politik des BSW und der AfD hin:[5] »Unsere Befunde deuten darauf hin, dass das BSW der AfD gerade in ihren Hochburgen in Ostdeutschland Konkurrenz machen könnte und ihr hier vor allem die neu Hinzugekommenen und die Frauen in der Wählerschaft streitig machen könnte«, schreiben Helge Emmler und Daniel Seikel. »Gerade diejenigen, die sich erst vor kurzem der AfD zugewandt haben, könnten nun zum BSW wechseln, vor allem in Ostdeutschland. So geben beispielsweise rund 60 Prozent der seit der Bundestagswahl 2021 neu hinzugekommenen ostdeutschen AfD-Anhängerinnen und -Anhänger an, das BSW auf jeden Fall oder wahrscheinlich wählen zu wollen.«

Anmerkungen

[1] Oliver Nachtwey: Die Trigger-Partei. Der Erfolg des BSW., in: FAZ vom 31.8.2024. Siehe auch Oliver Nachtwey: BRD noir. Sarah Wagenknechts Projekt, in: FAZ vom 18.9.2023.
[2] Tagesspiegel vom 30.8.2024.
[3] Stefan Reinecke: Italienisierung des Parteiensystems. Die Wagenknecht-Partei ist kein neoautoritäres Gespenst der deutschen Geschichte. Sondern ein Vorbote dessen, was nach den Volksparteien kommt. In: taz vom 29.8.2024.
[4] Nachtwey, FAZ vom 31.8.2024, a.a.O.
[5] Helge Emmler/Daniel Seikel: Wer wählt »Bündnis Sahra Wagenknecht«? WSI Report, Düsseldorf, Juni 2024.

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