25. April 2019 Otto König/Richard Detje: WSI-Arbeitskampfbilanz 2018 – knapp 1,2 Millionen Streikende

Alle Räder stehen still…

Titelfoto des Buches über den Streik der studentischen Beschäftigten in Berlin (siehe Anmerkung 4)

Auch wenn immer wieder suggeriert wird, Arbeitskämpfe gehörten ins letzte Jahrhundert, ist die Verszeile des Dichters Georg Herwegh »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, im Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von 1863, aktueller denn je.

Durch Arbeitskämpfe sind 2018 in Deutschland rund eine Million Arbeitstage ausgefallen. Damit hat sich das Arbeitskampfvolumen gegenüber dem Vorjahr mehr als vervierfacht.[1] Sehr viel höher fiel im zurückliegenden Jahr auch die Streikbeteiligung aus. Statt 131.000 Teilnehmer*innen wie in 2017 beteiligten sich 1,2 Millionen Arbeitnehmer*innen an den Tarifauseinandersetzungen 2018.

Es scheint, die bundesdeutschen Gewerkschaften haben seit geraumer Zeit die lange geübte Zurückhaltung abgelegt. In den Belegschaften eine stärkere Konfliktbereitschaft gewachsen, für die eigenen Interessen und Ansprüche zu kämpfen. Schon 2015 machte das Schlagwort von der »Rückkehr des Streiks« die Runde. Streiks in Erziehungs- und Pflegeberufen stehen seitdem für die Politisierung der Auseinandersetzungen in der »Sorge-Arbeit« – gegen personelle Unterausstattung, enormen Leistungsdruck und Zeitnot, schlechte Bezahlung.[2] Der lange Atem hat sich ausgezahlt: Im Tarifabschluss für den Öffentlichen Dienst der Länder 2019 konnten die Pflegeentgelte um bis zu 20% angehoben werden.[3] 

Im vergangenen Jahr waren »für die deutlichen Anstiege bei Streikbeteiligung und Ausfalltagen … die umfangreichen Streikaktionen während der Metalltarifrunde« ausschlaggebend. Allein auf diese Tarifauseinandersetzung fielen rund 60 Prozent aller Ausfalltage sowie mehr als drei Viertel aller Streikbeteiligten. Hinzu kam, dass die IG Metall erstmals mit gezielten »24-Stunden-Streiks« bundesweit rund 250 Betriebe zum Stillstand brachte. Außerdem fand eine breite Mobilisierung in der Tarifrunde für die 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen statt.

Mehrere kleinere Branchentarifauseinandersetzungen gab es u.a. in der Nahrungsmittelindustrie, der Holz- und Kunststoffindustrie sowie der Edelmetall-Industrie. Ein weiterer Konfliktherd waren die Tarifauseinandersetzungen im Zeitungsgewerbe. Auch im Baugewerbe fanden anlässlich der Tarifverhandlungen Streiks und Aktionen statt. Gleichzeitig zersplittert das deutsche Tarifsystem, was in der Folge auch zu einer Zunahme von Streiks führt.

Neben den großen Tarifrunden erhielten 2018 besondere Aufmerksamkeit die Warnstreikwellen der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im Tarifkonflikt mit der Deutschen Bahn, ein wochenlanger Arbeitskampf bei den Universitätskliniken in Düsseldorf und Essen, der Streik der wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Berliner Hochschulen sowie die Streikpremiere bei der Fluggesellschaft Ryanair.

An der Uniklinik in Düsseldorf wurde an 52 Tagen, in Essen an 40 Tagen über mehrere Monate verteilt die Arbeit niedergelegt. Ende August 2018 willigte das Management in ein Schlichtungsergebnis ein, das an beiden Kliniken über 300 zusätzliche Stellen vorsieht. Die von den ver.di-Mitgliedern in einer Urabstimmung gebilligte Vereinbarung sieht darüber hinaus kurzfristig die Festschreibung von Sollbesetzungen für alle Bereiche der Pflege sowie mittelfristig eine Ermittlung des tatsächlich notwendigen Personalbedarfs vor. Die Reichweite dieser Arbeitskämpfe kann nicht überschätzt werden: mit Personalbesetzungsregeln wird nicht nur gegen die Praxis permanenter Kosteneinsparungen im Personalbereich mobilisiert, sondern in die Investitionshoheit der Klinikbetreiber interveniert. Ein wichtiger Schritt zur Re-Regulierung eines entgrenzten Leistungsregimes und zu »guter Arbeit« auch zugunsten der Patient*innen.  

Für die rund 8.000 studentischen Hilfskräfte der Berliner Hochschulen hatte es seit 2001 keine Erhöhung der Entgelte mehr gegeben. Um dies zu ändern, legten die studentischen Beschäftigten, unterstützt von der GEW und ver.di, von Mitte Januar bis Ende Juni 2018 mehrfach die Arbeit nieder.[4] Nach eineinhalb Jahren Verhandlungen und vierzig Streiktagen erreichten die Streikenden eine dreistufige Erhöhung der Stundenlöhne sowie die Vereinbarung, dass ab 2023 die Erhöhung der Löhne der studentischen Beschäftigten an die allgemeine tarifliche Entgeltentwicklung angekoppelt wird. Außerdem wurde eine Verlängerung des Urlaubs von 25 auf 30 Tage ab 2019 vereinbart und die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf zehn Wochen ausgedehnt.

Eine besondere Auseinandersetzung stellte in 2018 der erste Arbeitskampf in der Geschichte der gewerkschaftsfeindlichen Fluggesellschaft Ryanair dar. Bereits Ende 2017 hatte es erste international koordinierte Arbeitskampfmaßnahmen seitens der Pilot*innen gegeben, denen sich 2018 das Kabinenpersonal anschloss. An den im September 2018 durchgeführten Aktionstagen beteiligten sich Cockpitbesatzungen und Kabinenpersonal mit Arbeitsniederlegungen in mehreren Ländern. Anfang 2019 unterzeichnete ver.di mit Ryanair Vereinbarungen zu Entgelt, Arbeitsbedingungen und Sozialplanregelungen. Dieser erste Tarifvertrag für die rund 1.100 Flugbegleiter*innen in Deutschland gilt sowohl die bei der Fluggesellschaft angestellten Beschäftigten als auch die Leiharbeiter*innen.

Kurz darauf konnten die 23.000 Luftsicherheitskräfte an deutschen Flughäfen mit mehreren Warnstreiks erstmals einen bundesweiten Entgelttarifvertrag mit einem Stundenlohn von 19,01 Euro durchsetzen sowie eine Lohnerhöhung für das Kontrollpersonal an den Sicherheitsschleusen, die gestaffelt in einem Zeitraum von drei Jahren 26,7% ausmacht sowie die enormen Gehaltsunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland einebnet.

Streiks, d.h. die kollektive Verweigerung der Arbeitskraft, sind das unabdingbare Korrelat der Tarifautonomie. Nur so kann verhindert werden, dass gewerkschaftliche Tarifverhandlungen zum »kollektiven Betteln« verkommen. Im Jahr 2018 waren Warnstreiks wiederum die häufigste Form der Arbeitsniederlegung – teilweise verbunden mit Demonstrationen und öffentlichen Kundgebungen. Die meisten davon sind auf einige Stunden begrenzt; in Ausnahmefällen erstrecken sie sich über eine ganze Schicht. Mit den »24-Stunden-Streiks« wurde von der IG Metall 2018 erstmals eine neue Eskalationsstufe zwischen Warnstreiks und unbefristeten Erzwingungsstreik mit vorausgehender Urabstimmung eingeführt. Der Erzwingungsstreik ist mittlerweile in Deutschland zur Ausnahme.

Ins sechste Jahr gehen die Warnstreiks beim US-amerikanischen Online-Händler Amazon zur  Durchsetzung eines Tarifvertrages. Es herrscht eine Pattsituation: ver.di ist bisher nicht in der Lage, den Streik so auszudehnen, dass er Amazon zum Nachgeben zwingt, umgekehrt schafft es Amazon nicht, die aktiven Kerne gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter, die den Arbeitskampf am Leben halten, zu entmutigen.

Der in der Vergangenheit zu beobachtende Trend der Dezentralisierung hat angehalten. Der überwiegende Teil der Arbeitskämpfe betrifft wie in den Vorjahren Auseinandersetzungen um Haus- und Firmentarifverträge. Im Organisationsbereich der IG Metall registrierte das WSI im vergangenen Jahr 83 verschiedene, von mindestens einer Arbeitsniederlegung begleitete Auseinandersetzungen. Nur bei vier dieser Arbeitskämpfe kam es zum Erzwingungsstreik mit Urabstimmung. Am umfangreichsten war davon der mehrwöchige Arbeitskampf um den Erhalt der Arbeitsplätze beim Autozulieferer Neue Halberg Guss: Am Standort Leipzig hatten rund 800 Beschäftigte an 30 Tagen und in Saarbrücken 500 Beschäftigte an insgesamt 24 Tagen die Arbeit niedergelegt.[5] Besonders heftig waren die Auseinandersetzungen auch bei Perimeter (Salzkotten) und Celenus (Bad Langensalza).

In der Tarifrunde 2018 stand neben Entgelterhöhungen die Arbeitszeit wieder im Mittelpunkt, jedoch nicht als kollektive Arbeitszeitverkürzung, sondern in Form gezielter Arbeitszeitsouveränität für bestimmte Beschäftigtengruppen (M+E-Industrie) sowie durch Einführung (Deutsche Post) bzw. Ausweitung (Deutsche Bahn) von individuellen Wahloptionen zwischen Vergütungs- und Arbeitszeitkomponenten. Der Tarifabschluss der IG Metall eröffnet den Beschäftigten die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit befristet auf bis zu 28 Stunden pro Woche ohne Entgeltausgleich zu verkürzen und anschließend wieder auf eine Vollzeitstelle zurückzukehren. Darüber hinaus wurde für Schichtarbeiter*innen sowie Beschäftigte mit Kindern oder zu pflegenden Angehörigen eine Wahloption eingeführt, bei dem zwischen einem einmal im Jahr fälligen tariflichen Zusatzentgelt in Höhe von 27,5% eines Monatsentgeltes oder acht zusätzlichen freien Tagen gewählt werden kann.

 

In der internationalen Streikstatistik, bei der die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte betrachtet werden, liegt Deutschland nach wie vor im unteren Mittelfeld.[6] Nach Schätzung des WSI fielen hierzulande zwischen 2008 und 2017, dem letzten Jahr, für das international vergleichbare Daten vorliegen, im Jahresdurchschnitt pro 1.000 Beschäftigte rechnerisch 16 Arbeitstage aus. In Dänemark waren es im gleichen Zeitraum 116 und in Frankreichs Privatwirtschaft 118. Auch in Belgien, Kanada, Spanien und Norwegen fallen deutlich mehr Arbeitstage durch Arbeitskämpfe aus. Ein merklich niedrigeres Streikvolumen als in Deutschland findet sich in Polen, Schweden und Österreich. Italien und Griechenland führen seit längerem keine Streikstatistik mehr.

Der Streik ist die zugespitzte Form der aktiven Anwendung gewerkschaftlicher Machtressourcen. Doch vielfach geht es in fast allen europäischen Ländern nicht in erster Linie um Streikfähigkeit, »sondern darum, die Voraussetzungen herzustellen, um überhaupt noch wirkungsvoll und kollektiv Interessen von Belegschaften und Lohnabhängigen vertreten zu können« (Klaus Dörre). Die Stärkung von Organisations- und institutioneller Macht sind deshalb zwei Ressourcen gewerkschaftlicher Widerstands- und Durchsetzungskraft im entgrenzten Kapitalismus.

[1] Heiner Dribbusch: WSI-Arbeitskampfbilanz 2018. WSI Policy Brief Nr. 31, März 2019. Download: https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_pb_31_2019.pdf. Die vom WSI vorgelegte Arbeitskampfbilanz ist eine »informierte Schätzung« auf Basis von Angaben der Gewerkschaften sowie Medienauswertungen. Die Daten liegen teilweise deutlich über denen der amtlichen Streikstatistik, die jährlich von der Bundesagentur für Arbeit (BA) erhoben wird. Diese basiert auf Meldungen der Unternehmen, die vor allem in den vergangenen Jahren zum Teil erhebliche Lücken aufwiesen.
[2] Vgl. Ingrid Artus/Peter Birke/Stefan Kerber-Clasen/Wolfgang Menz (Hrsg.): Sorge-Kämpfe. Auseinandersetzungen um Arbeit in sozialen Dienstleistungen. Hamburg 2017.
[3] Vgl. Günter Busch: Gutes Ergebnis ohne Signalwirkung, in: Sozialismus.de Heft 4-2019, S. 45ff.
[4] Siehe hierzu Celia Bouali/Julia Bringmann/Laura Haßler/Christian Keil/Matthias Neis/Pablo Nuñez von Voigt (Hrsg.): »Ohne uns läuft hier nix!« Der Arbeitskampf der studentischen Beschäftigten in Berlin, Reihe WIDERSTÄNDIG, Hamburg 2019.
[5] Vgl. Otto König/Richard Detje: Widerstand gegen »Heuschreckengebaren« – Halberg Guss-Beschäftigte wehren sich seit Monaten gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze durch die bosnische Prevent-Gruppe, in: Sozialismus.de Heft 12-2018, S. 55ff.
[6] Beim internationalen Vergleich ist laut WSI zu beachten, dass die Arbeitskampfstatistiken auf teilweise sehr unterschiedlichen Erfassungsmethoden basieren. Die Zahlen für Frankreich beziehen sich allein auf die Privatwirtschaft (einschließlich der Staatsunternehmen), in Spanien sind die großen Generalstreiks der vergangenen Jahre nicht enthalten. In den USA werden Streiks erst ab 1.000 Beteiligten pro Tag einbezogen, während in Dänemark auch die kleinste Arbeitsniederlegung gezählt wird. In Dänemark und Kanada ist das Arbeitskampfvolumen zudem stark durch Aussperrungen beeinflusst.

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