27. April 2017 Otto König / Richard Detje: »Ja«-Stimmen der Deutsch-Türken entfachen Integrationsdebatte

»Almancılar« – nicht integrationswillig?

Das Abstimmungsergebnis über das Verfassungsreferendum in der Türkei ist nicht rechtmäßig zustande gekommen. Wer Demokraten verhaften, Wahlkampfveranstaltungen zivilgesellschaftlicher, oppositioneller und gewerkschaftlicher Kräfte verbieten lässt und Journalisten mundtot macht, kann als Staatspräsident nicht in Anspruch nehmen, autoritäre Herrschaft demokratisch legitimiert bekommen zu haben. Die Proteste oppositioneller Kräfte in Ankara, Istanbul und Izmir sind berechtigt.

Aber wie verhält es sich mit den 63,1% der »Almancılar«, wie in Deutschland lebende TürkInnen in ihrem Heimatland genannt werden, die nach vorläufigem Ergebnis für die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei gestimmt haben – mehr als zehn Prozentpunkte über dem Gesamtergebnis? Dieses Wahlverhalten entfachte kontroverse Debatten. Während einige Kommentatoren ihr Einsetzen formulierten, triumphierten andere, nun seien endlich die letzten »Lebenslügen der deutschen Ausländer- und Einwanderungspolitik«; verbrämt lautete die Empfehlung: »Packt eure Sachen und geht in die Türkei«.

Fakt ist: In allen 13 Generalkonsulaten in Deutschland wurde mehrheitlich mit »Ja« gestimmt, in Essen sogar mit rund 76%. Das heiße doch, so das Lamento des Essener Oberbürgermeisters Thomas Kufen (CDU), dass von der »heimischen Couch im sicheren Deutschland über die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie« entschieden worden sei, ohne selbst die Konsequenzen tragen zu müssen. Diese Sichtweise, Türken in Deutschland wünschen ihren Landsleuten in der Türkei die Autokratie, bis hin zur Wiedereinführung der Todesstrafe, während sie selbst in Freiheit leben, ist unseres Erachtens zu einfach. Sie lenkt zudem von Ursachen, aber auch von strukturellen Problemen infolge des Strukturwandels gerade in den ehemaligen Montanstädten in Deutschland ab, wo sich viele ArbeitnehmerInnen – ob Migranten oder Nicht-Migranten – abgehängt fühlen.

Das politische Ausschlachten des Votums der »Almancılar« hat längst begonnen. So forderte der CDU-Vize und NRW-Spitzenkandidat Armin Laschet die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft auf, den »integrationsschädlichen« Plan für ein kommunales Ausländerwahlrecht zu stoppen. Das ideologische Gerüst liefert Bertold Kohler in der FAZ mit der Feststellung: »Der größte Fehler der deutschen Integrationspolitik war es nicht, zu abweisend gewesen zu sein; sie war im Gegenteil zu großzügig und von einem falschen Verständnis von Toleranz geprägt.« (18.4.2017) Dem folgend wollen der CSU-Mann Stephan Mayer den Doppelpass rückabzuwickeln und die CDU- Vizevorsitzenden Thomas Strobl und Julia Klöckner den Doppelpass zum Wahlkampfthema machen. Für die AfD ist das zusätzliche Munition. AfD-Bundesvorstandsvorstandsmitglied Alice Weidel fordert, zahlreichen Türken die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen.

Haben die im Ausland lebenden türkischen StaatsbürgerInnen den Ausschlag für das »Ja« für ein autokratisches System gegeben? Bei genauerer Betrachtung sollten voreilige Schlüsse vermieden werden: Von den insgesamt 2.957.870 Wahlberechtigten im Ausland sind nur 1.406.573 gültige Stimmen abgegeben worden. Das entspricht rund 2,8% der bei Verfassungsreferendum insgesamt abgegebenen Stimmen. 831.208 haben mit »Ja« abgestimmt, was 3,3% der gesamten Ja-Stimmen entspricht und 575.365 haben mit »Nein« abgestimmt, was 2,4% der gesamten Nein-Stimmen ausmacht. Der Anteil der Ja-Stimmen ist zwar höher als in der Türkei, jedoch nicht so hoch, dass daraus ein ausschlaggebendes Votum abgeleitet werden könnte.[1]

In Deutschland leben 3,5 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Davon sind 1,5 Millionen in der Türkei wahlberechtigt. Von diesen hat rund die Hälfte beim Referendum abgestimmt und davon 63% pro Erdogan, absolut 450.000. Diese Mehrheit der WählerInnen ist weit entfernt von einer Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung.

Das Resultat ist vielfältig. Pauschalisierungen sind fahrlässig. Ganz »frei« und ganz ohne Schikanen, war die Stimmenangabe auch hierzulande nicht. Konsulate, in denen in Deutschland die Abstimmung stattfand, sind türkisches Hoheitsgebiet, auf dem man staatlicher Willkür ausgeliefert ist. Konsulatsbeschäftigte sollen schon vor dem Referendum Pässe von Kurden, Aleviten und Gülen-Anhängern eingezogen haben. Diesen Menschen mangelnde Integration vorzuwerfen, ist diffamierend.

An Rhein und Ruhr ist jeder dritte in Deutschland lebende Türke daheim. 41% der unter 18-Jährigen in NRW haben einen Migrationshintergrund. Dass die Zustimmung zu dem Verfassungsreferendum gerade unter Türkeistämmigen in der Ruhrmetropole so hoch war, wundert den Dortmunder Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak nicht, denn viele WählerInnen stammen aus Familien, die einst als »Gastarbeiter« aus ländlichen Gegenden Anatoliens in die Zechen und Stahlwerke an der Ruhr kamen. In dieser Bevölkerungsschicht spielen sozio-kulturelle Milieus und religiöse Identitäten nach wie vor eine wichtige Rolle (WAZ, 19.4.2017).

Diese familienbiografischen Positionierungen setzen sich teilweise bis in die dritte Generation fort. Gerade viele junge Wahlberechtigte identifizieren sich mit Erdogans Türkei, »für viele ist der Präsident eine Art Vaterfigur, weil er Stärke zeigt.« In Deutschland fühlen sie sich als Bürger zweiter Klasse, von der Gesellschaft nicht angenommen. So haben es gerade Migranten-Kinder, wie die Studie »Diskriminierung am Arbeitsmarkt«[2] belegt, schwer bei der Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzsuche, wenn sie einen türkischen Namen haben.

Es ist nicht verwunderlich, dass im vergangenen Jahr in einer repräsentativen Studie der Universität Münster 54% der in Deutschland lebenden Türken der Aussage zustimmten: »Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt.« Nach Auffassung der Türkischen Gemeinde in Deutschland ist das Ergebnis deshalb auch auf das Gefühl der Ausgrenzung zurückzuführen, denn jene, die sich durch ihre Herkunft »abgewertet« fühlen, verstärken ihre kulturelle Bindungen an die Türkei. Erdoğan und seine AKP setzen hier an und vermitteln ein gewisses »Wir- und Sicherheitsgefühl«.

Deutschland muss endlich akzeptieren, dass es längst ein Einwanderungsland ist. Entsprechend wäre eine aktive Integration der Migranten angesagt, und dazu gehört eben auch eine bessere Ausstattung von Schulen und Kindergärten sowie die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe. Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick plädiert zu Recht für ein »politisches Integrationskonzept«, das insbesondere ein politisches Bildungsangebot beinhalten müsse, schließlich gehe es darum, jene, die für das autoritäre Regime votiert haben, zu überzeugen, dass »die langfristigen Folgen problematisch sind«.

Auf muttersprachlichen Unterricht in Moscheen Einfluss zu nehmen, ist schwierig, doch an staatlichen Schulen sollte er nicht von Konsulatslehrkräften des türkischen Staates übernommen werden. Der deutsche Staat muss sich um Sprach- und Religionsunterricht kümmern, statt wie bisher dies der türkischen Gemeinde zu überlassen. Die politische Abnabelung vom Islamverband Ditib, der eng mit der türkischen Religionsbehörde verbunden ist, und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für die Union Europäisch-Türkischer Demokraten UETD, die als Hilfstruppe von Erdogan agiert, ist überfällig. Nicht mit diesen verkappten türkischen AKP-Institutionen, sondern vielmehr mit unseren deutsch-türkischen BürgerInnen, muss der Austausch intensiviert werden – ein ehrlicher, klarer und offener Dialog ist gefragt.

[1] Vgl. Murat Cakir, Verfassungsreferendum in der Türkei – Pyrrhussieg Erdoğans? Info-Brief Türkei, 18.04.2017.
[2] Die Forscher des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration schrieben fiktive Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz, um herauszufinden, wer bei gleicher Qualifikation gewinnt: der Bewerber mit typisch deutschem oder der mit türkischem Namen? Das Ergebnis zeigte: Jugendliche mit ausländischen Wurzeln müssen deutlich mehr Bewerbungen schreiben, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Sie werden häufiger ignoriert, und sie müssen sich häufiger duzen lassen (SPON 26.3.2014).

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