10. Januar 2006 Ingo Schmidt

Antiimperialismus und sozialistische Perspektive

Am 1. Januar 2006 ist Harry Magdoff, der seit 1969 die sozialistische Zeitschrift "Monthly Review" mitherausgegeben hat, in Burlington, Vermont gestorben. Magdoff, geb. 1913, ist im New Yorker Einwanderer-Viertel Bronx aufgewachsen und wurde durch die Massenarmut während der Großen Depression in den 1930er Jahren sowie die hierdurch ausgelösten Klassenkämpfe politisiert.

Der New Deal unter Präsident Roosevelt ermöglichte dem aus proletarischen Verhältnissen stammenden Magdoff den Aufstieg im Staatsapparat, in dem er in verschiedenen Funktionen an der Planung öffentlicher Beschäftigungsprogramme sowie der amerikanischen Rüstungsproduktion im Zweiten Weltkrieg mitgearbeitet hat. Als die New Deal-Koalition nach Kriegsende zu zerfallen begann, fand sich Magdoff sehr schnell von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Stattdessen musste er vor Untersuchungsausschüssen des Senats und Kongresses seine frühere Arbeit rechtfertigen. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete Magdoff in den 1950er und 60er Jahren als Wall Street-Analyst und Verleger. Darüber hinaus übernahm er Lehraufträge der New School for Social Research sowie der Yale University.

1969 trat Magdoff an die Stelle des 1968 gestorbenen Leo Huberman, der mit Paul Sweezy "Monthly Review" aufgebaut und herausgegeben hatte. Dieser Herausgeber-Tätigkeit blieb er bis zu seinem Tode verbunden.

Neben dieser praktischen Arbeit machte sich Magdoff insbesondere als Imperialismus-Theoretiker einen Namen. Von seinem 1969 erschienen Buch "Age of Imperialism" wurden über 100.000 Exemplare verkauft und Ausgaben in 15 Sprachen veröffentlicht. Inhaltlich knüpft Magdoff an die im Umfeld von "Monthly Review", insbesondere von Paul Sweezy, Paul Baran und Joseph Steindl, entwickelte Theorie kapitalistischer Entwicklung an. Demnach kommt es nach Abschluss der Industrialisierung eines Landes zu einem langfristigen Nachfragemangel. Stagnation und Massenarbeitslosigkeit können unter diesen Bedingungen nur durch politische Nachfragestimulierung verhindert werden. Im Gegensatz zur keynesianischen Theorie, derzufolge Staatsinterventionen die kapitalistische Entwicklung langfristig stabilisieren und Vollbeschäftigung garantieren können, betont der "Monthly Review"-Ansatz allerdings, dass diese Interventionen mit einer Schuldenakkumulation einhergehen, die über die Akkumulation des produktiven Kapitals hinausgeht. Dadurch komme es zu ökonomischer Instabilität und einem politischen Machtzuwachs des Finanzkapitals, der schließlich – im Namen von Inflations- und Schuldenbekämpfung – eine Abkehr von der staatlichen Vollbeschäftigungsgarantie einfordert. Diese These wurde in den beiden von Magdoff und Sweezy herausgegebenen Bänden "Stagnation and the Financial Explosion" (1987) und "Irreversible Crisis" (1988) theoretisch entwickelt und empirisch illustriert.

Bezüglich des Imperialismus geht Magdoff von der Herausbildung eines "neuen Imperialismus" am Ende des 19. Jahrhunderts aus, der durch eine Welle von Basisinnovationen, inbesondere die Einführung und Anwendung von Verbrennungs- und Elektromotoren in Industrie und Transportwesen, Kunstdünger in der Landwirtschaft sowie Entstehung der Petrochemie, angestoßen worden sei. Hieraus ergaben sich weltwirtschaftliche und -politische Verschiebungen, weil die neuen Technologien entscheidend zur raschen Industrialisierung Amerikas und Deutschlands beitrugen. Im Zuge dieses Aufstiegs neuer Industriemächte wurde der auf dem britischen See- und Industriemonopol beruhende Freihandelsimperialismus durch eine Phase imperialistischer Konkurrenz abgelöst.

Obwohl diese Analyse deutliche Parallelen zu den klassischen Imperialismus-Theorien Lenins und Luxemburgs aufweist, ist auf eine Reihe wichtiger Unterschiede hinzuweisen. Insbesondere unterscheidet sich Lenins Charakterisierung des Kapitalismus als "letztem und höchstem Stadium des Kapitalismus" deutlich von Magdoffs Begriff eines "neuen" Imperialismus, dessen Sinn sich daraus ergibt, dass Magdoff die Entwicklung von Kapitalismus und Imperialismus als zwei komplementäre Prozesse auffasst. Demnach sind die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse sowie die hiermit notwendig werdende Akkumulation von Kapital mit der Herausbildung hierarchischer Beziehungen zwischen kapitalistischen Zentren und Peripherien verbunden. Bei der Integration der Peripherien in den von kapitalistischen Metropolen dominierten Weltmarkt spielt der Kolonialismus eine wichtige Rolle. Die politische Landnahme bereitet der peripheren Akkumulation den Weg.

Allerdings ist für Magdoff nicht der Kolonialismus, sondern die Entwicklung der Unterentwicklung das zentrale Merkmal des Imperialismus, so dass er analytisch auch nach der formalen Entlassung vormaliger Kolonien in die Unabhängigkeit am Imperialismus-Begriff festhalten kann. Der von den USA dominierte "Imperialism without Colonies" ist denn auch Magdoffs zentraler Untersuchungsgegenstand. Nicht von ungefähr sind eine Reihe älterer Aufsätze unter diesem Titel 2003 in Buchform herausgegeben worden.

Aus den unterschiedlichen historischen Einordnungen des Imperialismus, als ein historisches Stadium bei Lenin und als Herausbildung und beständige Reproduktion von Zentrum-Peripherie-Beziehungen bei Magdoff, ergeben sich auch unterschiedliche ökonomische Begründungen. Lenin leitet aus dem Übergang zum Monopolkapitalismus einen Kapitalüberschuss ab, der in den Zentren nicht profitabel angelegt werden kann und daher als Kapitalexport die Peripherien ökonomisch durchdringt. Magdoff hält dem entgegen, dass schon am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Masse internationaler Kapitalbewegungen nicht von den Zentren in die Peripherien, sondern innerhalb der Zentren verlaufen sind. Diese Feststellung hat eine wichtige Implikation hinsichtlich der Entwicklungsperspektiven peripherer Länder: Käme es tatsächlich zu massiven Kapitalzuflüssen aus dem Zentrum, könnten diese sich unter kapitalistischen Bedingungen industrialisieren.

Diese Möglichkeit wird von Magdoff explizit ausgeschlossen, die nachholende Entwicklung in einzelnen Ländern nicht als Folge ökonomischer Gesetzmäßigkeit verstanden – dann hätten sich nicht einzelne, sondern alle peripheren Länder unter dem Zustrom von Kapital industrialisieren müssen –, sondern mit außenpolitischen Zielsetzungen der kapitalistischen Zentren, insbesondere der USA, erklärt. Durch die Gewährung eines privilegierten Marktzutritts und finanzieller Hilfe sind einige Länder der Peripherie, das wichtigste Beispiel dürfte Südkorea sein, als antikommunistische Bollwerke aufgebaut worden. Außenpolitik und wirtschaftliche Entwicklung sind demnach unauflöslich miteinander verbunden. Dies gilt insbesondere angesichts der Stagnationstendenzen des entwickelten Kapitalismus, denen der Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes vorübergehend entgegenwirken konnte. Das auch nach dem Zweiten Weltkrieg sehr hohe Niveau der Rüstungsproduktion schuf schließlich nicht nur das militärische Drohpotenzial im Kalten Krieg, sondern auch Arbeitsplätze. Letzteres allerdings in abnehmendem Maße, da die Entwicklung der Waffensysteme in besonderem Maße von arbeitssparendem technischem Fortschritt gekennzeichnet ist.

Die Frage nach einem Kapitalüberschuss in den Zentren, der nur in der Peripherie profitabel angelegt werden kann, gewann nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidende Bedeutung. Eine Implikation dieser Sichtweise besteht ja gerade darin, dass sich die Peripherie auf diese Weise industrialisieren kann. Mit dem Verweis auf imperialistische Rivalitäten konnte Lenin eine solche Sicht noch zurückweisen, weil es vor der Entwicklung der Peripherie zum Krieg im Zentrum käme; was sich dann ja auch bewahrheitet hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die USA jedoch als unbestrittene Führungsmacht des Kapitalismus durchgesetzt, so dass vorhandene Kapitalüberschüsse nunmehr zur Industrialisierung der Peripherie hätten genutzt werden können. Dass es dazu nur in wenigen, politisch begründeten Ausnahmefällen gekommen ist, erklärt Magdoff mit dem Militärkeynesianismus der USA, der profitable Anlagemöglichkeiten im Zentrum schuf und zugleich eine entscheidende Rolle im Kalten Krieg spielte.

Bezüglich der in jener Zeit stattfindenden Entkolonialisierung stellt Magdoff eine Durchdringung des kapitalistischen Weltmarktes durch US-Konzerne fest. Demnach geht es im Imperialismus ohne Kolonien nicht um den, ökonomisch zumeist wenig gewinnbringenden, Ausschluss ausländischer Konkurrenz von kolonialen Märkten. Vielmehr wurden sich tatsächlich bietende Gewinnmöglichkeiten wahrgenommen und außerdem ein Netz ökonomischer Stützpunkte aufgebaut, der US-Konzernen und -Politik globale Einflussnahme ermöglicht hat.

Obwohl nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die wesentliche Legitimationsgrundlage für den Aufbau einer permanenten Kriegsökonomie entfallen war, behielten die USA ihre Mischung aus Militarismus und ökonomischer Durchdringung nicht nur bei, sondern konnten sie auch auf das Gebiet der vormals staatssozialistischen Länder ausdehnen. In seinem für das Socialist Register 1992 geschriebenen Aufsatz "Globalization to What End?" machte Magdoff allerdings klar, dass er die, von linken Theoretikern mit dem Begriff "Empire" bezeichnete, Auffassung, mit dem Ende des Kalten Krieges werde auch das Ende eines in Nationalstaaten organisierten Weltsystems eingeleitet, nicht teilt. Andererseits folgert er aus dem erweiterten Einflussbereich des US-Imperialismus, im Unterschied beispielsweise zu den Herausgebern des "Socialist Register", keine dauerhafte Festigung amerikanischer Vorherrschaft. Vielmehr betont er die gerade seit 1989 sich zuspitzende Polarisierung zwischen Zentren und Peripherien sowie die sich ebenfalls weiter beschleunigende Schuldenakkumulation.

Hieraus ergeben sich soziale Spannungen und ökonomische Instabilitäten, die zum Ausgangspunkt anti-imperialistischer und sozialistischer Bewegungen werden können. Die Erfahrungen der russischen und chinesischen Revolution resümierend hat Magdoff in seinem letzten, zusammen mit seinem Sohn Fred verfassten Aufsatz für "Monthly Review" im Sommer 2005 darauf hingewiesen, dass linke Bewegungen trotz des Scheiterns der beiden genannten revolutionären Anläufe nur erfolgreich sein können, wenn sie eine sozialistische Perspektive eröffnen. Diese Botschaft sowie Magdoffs anti-imperialistische Orientierung scheinen in einigen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere Venezuela und Bolivien, praktische Bedeutung zu gewinnen.

Seit Magdoff in den 1960er Jahren begonnen hat, sich auf Fragen des Imperialismus zu konzentrieren, hat ihn die Frage beschäftigt, wie Impulse fortschrittlicher Politik in der Peripherie auf die kapitalistischen Zentren übertragen werden können. Eine praktische Antwort auf diese Frage steht auch nach Harry Magdoffs Tod noch aus. Die Suche danach geht weiter.

Ingo Schmidt, Ökonom, arbeitet als Research Associate an der Simon Fraser University, New Westminster, Kanada.

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