1. Februar 2024 Joachim Bischoff: Pragmatische Reformpolitik und ein sozial-ökologischer Umbau der Produktions- und Lebensverhältnisse
Argumente gegen die Schuldenbremse
Die deutsche Konjunktur kommt nicht aus den Schlagzeilen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) bescheinigt in seiner neuen Prognose für die deutsche Wirtschaft, dass die Berliner Republik in seinem Miniwachstum von 0,5% für 2024 verharrt. Allerdings wachsen auch die anderen kapitalistischen Wirtschaftsräume nur mit deutlich abgeschwächten Zuwachsraten: die USA um 2,1%, lediglich die VR China könnte mit 4,6% einen bemerkenswerten Zuwachs erreichen.
Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im vierten Quartal 2023 gegenüber dem Vorquartal um 0,3% gesunken. Und viele Ökonomen gehen wegen des schwachen Starts 2024 von keiner dynamischen Akkumulation des nationalen Kapitals aus. Die Unternehmen klagen in nahezu allen Wirtschaftsbereichen über eine rückläufige Nachfrage und schleppende Produktion. Zusätzlich werde die Wirtschaft durch eine Reihe von Sonderfaktoren belastet, die Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser benennt: »Dazu zählen der hohe Krankenstand und die Streiks um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.«
Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft hat sich zu Beginn des Jahres verschlechtert. Das vom Ifo-Institut ermittelte Geschäftsklima fiel im Januar den zweiten Monat in Folge. »Die deutsche Wirtschaft steckt in der Rezession fest«, kommentierte Ifo-Präsident Clemens Fuest.
Andere Wirtschaftsforschungsinstitute senkten ihre Prognosen für 2024 ebenfalls, einige Volkswirte schließen auch einen erneuten Rückgang des BIP im Gesamtjahr nicht aus. Die Bundesbank rechnet für 2024 noch mit einem Plus von 0,4%. Mit diesen schlechten Konjunkturaussichten trägt Deutschland die Schlusslaterne im internationalen Konjunkturzug der kapitalistischen Nationen.
Mehr als 50 Vorstände von Unternehmen haben aus Sorge um die Wirtschaft, das Klima und die Demokratie einen Brandbrief an die Politik verfasst. Der »Unternehmensappell«, initiiert von der »Stiftung KlimaWirtschaft« und unterzeichnet von 54 Unternehmen, attackiert die die Schuldenbremse als Investitionshindernis. Die Unternehmen fordern eine »Weiterentwicklung«, d.h. eine Lockerung, die dem Staat mehr Neuverschuldung ermöglicht. Das Argument: Um die Wirtschaft klimagerecht umzubauen, würden »massive – vor allem finanzielle – Ressourcen« benötigt. Dafür brauche es einen geeigneten »haushaltspolitischen Rahmen«, um staatliche Investitionen zu ermöglichen, die dann private Investitionen anregen.
Die Kritik an der Schuldenbremse in ihrer derzeitigen Ausprägung ist deshalb bemerkenswert, weil die Unternehmen damit den Unionsparteien und der FDP widersprechen, die ihnen in der Regel näherstehen als SPD und Grüne. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass sich der Unternehmensappell mit Kritik und Forderungen nicht nur an die Ampel-Regierung wendet, sondern ausdrücklich auch an die Opposition.
In nahezu allen Wirtschaftsbereichen registrieren die Unternehmen eine sinkende Nachfrage und folglich einen schleppenden Geschäftsverlauf. In der Industrie und der Bauwirtschaft sind mittlerweile die dicken Auftragspolster abgeschmolzen, die die Unternehmen noch zu Corona-Zeiten aufgebaut hatten. Die Auftragseingänge sind seit vielen Monaten rückläufig, und vor allem im Wohnungsbau schwappte eine Stornierungswelle durch das Land. Hinzu komme noch die restriktive Kreditpolitik. Im Kampf gegen die Inflation haben die Notenbanken in Europa und Nordamerika ihre Leitzinsen kräftig angehoben, was derzeit die volle Wirkung entfalte. Die Finanzierung von Investitionen wird dadurch deutlich teurer.
Zwar deutet der sich bisher abzeichnende Rückgang der Konjunktur auf eine vergleichsweise milde Rezession hin. Ökonomen sehen allerdings auch für den weiteren Jahresverlauf noch keine Trendwende. Deutschland als größte Volkswirtschaft bremst auch weiter das Wachstum in der Europäischen Union. Nach Daten des EU-Statistikamts Eurostat blieb die Wirtschaftsleistung sowohl in der Eurozone als auch in den 27 EU-Ländern im vierten Quartal gegenüber dem Vorquartal unverändert. Für das Jahr 2023 verzeichnete Eurostat insgesamt ein leichtes Wachstum von 0,5% im Vergleich zum Vorjahr.
Auch die Wirtschaftsverbände attackieren die Stabilitätspolitik der Bundesregierung: In Deutschland herrsche wirtschaftlicher Stillstand, sagte der Präsident des mächtigen Industrieverbandes BDI Siegfried Russwurm zum Jahresauftakt. Im Vergleich zu den anderen großen Industriestaaten falle das Land immer weiter zurück. Die Politik habe sich in eine Komplexitätsfalle manövriert und erhöhe die Komplexität weiter bei der Suche nach Auswegen, ohne überzeugende Fortschritte zu machen, schimpfte er.
Russwurm erhält Unterstützung von weiteren Verbandsvertretern. So meldete sich auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger (BDA) zu Wort und warf der Koalition vor, trotz Wirtschaftskrise bislang keine erkennbare Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angestoßen zu haben: »Wir Unternehmer haben das Vertrauen in die Bundesregierung verloren.«
Die vier Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft – neben BDI und BDA auch der Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) und der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) – veröffentlichten einen gemeinsamen Brandbrief, der an Bundeskanzler Olaf Scholz adressiert ist: »Wir appellieren dringend an Sie und die gesamte Bundesregierung, jetzt Maßnahmen zu ergreifen, die einen wirtschaftlichen Aufbruch in unserem Land fördern«, denn der Frust und die Verunsicherung bei vielen Betrieben wachse. In ihrem Schreiben fordern die vier Verbandspräsidenten einen »Befreiungsschlag« beim Bürokratieabbau, eine Steuerreform, sinkende Sozialversicherungsabgaben, sowie eine Reform des Rentensystems.
Allerdings ist das Plädoyer für eine Absenkung der Unternehmenssteuern, die Verminderung der Sozialversicherungsabgaben und Kürzung im Rentensystem kontraproduktiv: Wer sich in der angespannten Verteilungskonstellation für eine Absenkung der Masseneinkommen und einen Abbau des erreichten Niveaus des Sozialstaates einsetzt, trägt mit Sicherheit nicht zur Überwindung der heftigen ungelösten Tarifsituation bei und befördert die Streikbereitschaft.
Die Intervention des »Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« über die Schuldenbremse, die die Neuverschuldung begrenzt, führt da deutlich weiter. Die »Wirtschaftsweisen« sind sich einig: Die Schuldenbremse sei in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung starrer, als es zur Aufrechterhaltung der Schuldentragfähigkeit nötig sei. Damit beschränke sie die fiskalischen Spielräume für zukunftsgerichtete Ausgaben unnötig stark.
Schon vor dem durch das Verfassungsgericht erzwungenen Umbau des Bundeshaushalts für 2024 hatte das Mitglied des Sachverständigenrats Achim Truger für eine pragmatische Finanzpolitik votiert (siehe hierzu: Achim Truger, »Progressive Finanzpolitik: Pragmatismus statt angebotspolitischer Zeitenwende«, in: Heft 9-2023 von Sozialismus.de, S. 2–6). Eine »pragmatische Reform« könne die Flexibilität der Finanzpolitik erhöhen, ohne die Stabilität zu gefährden, unterstreichen jetzt alle »Wirtschaftsweisen« in ihrem Policy Brief 1-2024, und empfehlen, dafür an drei Stellen anzusetzen.
Erstens schlagen sie vor, die zulässigen Defizitgrenzen nach der Höhe des gesamtstaatlichen Schuldenstands zu staffeln. Derzeit ist die Defizitgrenze (außer in Notlagen wie der Corona- oder der Energiekrise) immer gleich: Das strukturelle Defizit darf 0,35% des BIP nicht überschreiten. Verwiesen wird auf Simulationsrechnungen, wonach die Schuldenstandsquote (Staatsschulden in Prozent des BIP) selbst bei voller Ausschöpfung dieser Grenze und bei regelmäßigen Krisen mit höherer Nettokreditaufnahme stetig und deutlich sinken wird.
Empfohlen wird deshalb eine Staffelung: Liegt die Schuldenstandsquote unter 60% des BIP, sollte ein strukturelles Defizit von bis zu 1% des BIP zulässig sein. Bei einer Schuldenquote zwischen 60 und 90% sollte die Defizitgrenze auf 0,5% des BIP sinken, und bei einer noch höheren Verschuldung sollte die derzeitige Grenze von 0,35% greifen.
Zweitens sollte die Ausnahmeklausel der Schuldenbremse, die in Notlagen eine höhere Neuverschuldung erlaubt, durch eine Übergangsregel ergänzt werden. Diese sollte festlegen, dass die Neuverschuldung während drei bis vier Jahren schrittweise reduziert wird, bis die Regelgrenze wieder erreicht ist. Begründet wird dies damit, dass ökonomische Krisen auch in den Jahren nach einer akuten Notlage noch erhebliche Auswirkungen haben könnten. Eine sofortige Konsolidierung des Haushalts könne dann zu unnötig starken negativen Impulsen für die noch schwächelnde Volkswirtschaft führen. Eine Übergangslösung sorge für zusätzliche Spielräume.
Drittens fordert der Sachverständigenrat eine Reform der Konjunkturbereinigung. Durch eine symmetrische Berücksichtigung der konjunkturellen Lage erhöht diese die zulässige Neuverschuldung in mageren Jahren, während sie in fetten Jahren reduziert wird. Die hierzu verwendeten Schätzverfahren gelten aber als revisionsanfällig und erschweren damit die Haushaltsplanung. Moderne ökonometrische Schätzverfahren könnten diese Revisionen reduzieren, argumentieren die »Wirtschaftsweisen«.
Die Diskussion über die Schuldenbremse hat nach dem Verfassungsgerichtsurteil, das die Ampelregierung zu hektischen Korrekturen des Staatshaushalts 2024 gezwungen hat, stark an Fahrt gewonnen. Veronika Grimm, ebenfalls Mitglied im Sachverständigenrat, die die Schuldenbremse stets öffentlich verteidigt hat, erklärte ihre Zustimmung zur aktuellen Stellungnahme damit, dass die Vorschläge die fiskalischen Spielräume moderat erweitern würden, ohne die Schuldentragfähigkeit zu gefährden. Insgesamt wurden in der Debatte auch Vorschläge in den Raum gestellt, die das Regelwerk deutlich stärker lockern würden als die Vorschläge des Sachverständigenrats.
Die Schuldenbremse ist aktuell in Artikel 115 des Grundgesetzes festgelegt. Danach beträgt die maximal zulässige strukturelle (um konjunkturelle Einflüsse und finanzielle Transaktionen bereinigte) Nettokreditaufnahme 0,35% des jährlichen BIP. Die Konjunkturkomponente sorgt dafür, dass die Grenze für die Neuverschuldung in konjunkturell schlechten Zeiten erhöht und in guten Zeiten reduziert wird. »Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen«, kann die Schuldenregel ausgesetzt und die Kreditobergrenze überschritten werden.
Die »Wirtschaftsweisen« sehen ihre Vorschläge auch als Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, laut dem die Schuldenbremse deutlich enger auszulegen sei als von der Bundesregierung zuvor praktiziert. Insbesondere könnten Kreditermächtigungen, die während einer Notlage erteilt worden seien, nicht mehr in Sondervermögen übertragen und in späteren Jahren genutzt werden. Nach der Ausnahmesituation müsse daher entweder eine sofortige Konsolidierung erfolgen oder in Folgejahren eine Notlage neu begründet werden.
Noch zu Beginn der Amtszeit der Ampelregierung hatte sich die Koalition auf eine Beschleunigung der Transformation des Umbaus der kapitalistischen Betriebsweise auf Dekarbonisierung und Digitalisierung festgelegt. Diese Reformstrategie ist unter dem öffentlichen Druck weitgehend an den Rand gedrückt worden. Jetzt überwiegt die Konsolidierungs- und Sparpolitik, die in der Konsequenz zu einer Verschärfung der ökonomischen Krisenkonstellation führt.
Trotz des Potenzials grüner Initiativen zur Steigerung der Einkommen, der Produktivität und des Wirtschaftswachstums tun sich progressive Kräfte schwer, eine überzeugende Gegenerzählung zum konservativen Narrativ zu formulieren und in der gesellschaftlichen Debatte Hegemonie fähig zu machen. Wenn die falsche Dichotomie zwischen wirtschaftlichem Wohlstand und ökologischer Nachhaltigkeit fortbesteht, wird es schwierig, dafür die nötige politische Unterstützung zu finden.
Die Gewinnraten sind zwar weltweit hoch, doch die Investitionsraten sind es nicht, was auf den zunehmenden Finanzmarktkapitalismus im Finanzwesen und in der Wirtschaft zurückzuführen ist. In den kapitalistischen Metropolen fließen nur 20% der Mittel in die produktive Wirtschaft; der Rest fließt in den eher spekulativen Finanz-, Versicherungs- und Immobilienbereich.
Angesichts der verschärften politischen Konfrontation zwischen der bürgerlichen Politik und dem rechten Populismus ist ein progressives sozial-ökologisches Narrativ unerlässlich. Es muss gezeigt werden, wie neue öffentliche und private Investitionen, die auf sozial und ökologisch vorteilhafte Ergebnisse abzielen, einen wirtschaftsweiten Wachstumsmultiplikator schaffen können, der für sozialstaatliche Reformen einen größeren Spielraum schafft, die nach wie vor fortbestehende Armut und soziale Ungerechtigkeit zu überwinden hilft und die große Transformation weg von den fossilen Brennstoffen befördert.
Hauptursache der klimaschädlichen Emissionen sind die Investitionen, nicht die individuellen Konsummuster. Entscheidungen über Geschäftsmodelle und Investitionen werden in der Bundesrepublik wie in allen kapitalistischen Gesellschaften von einer winzigen Oberschicht innerhalb der herrschenden Klassen getroffen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass große gesellschaftliche Mehrheiten und vor allem die eigentlichen Produzenten von Produktionsentscheidungen ausgeschlossen sind.
Es gilt, die Gleichgültigkeit der Arbeitenden gegenüber den erzeugten Waren und ökologischen Entwicklungen aufzubrechen. Der Konformismus und die politische Indifferenz können nicht nur angesichts der Bedrohung durch rechtspolitische und völkisch nationalistische Herausforderungen attackiert werden, sondern müssen in einem Narrativ zur sozialverträglichen ökologischen Arbeits- und Lebensweise durchbuchstabiert werden.