11. September 2018 Otto König/Richard Detje: Völkischer Schulterschluss und Jagdszenen auf Migranten in Chemnitz

Auf dem rechten Auge blind

Demonstration zur Urteilsverkündung im NSU-Prozess im Juli 2018 in München (Foto: Henning Schlottmann/Wikimedia Commons)

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz spielt eine dubiose Rolle. Wie weit seine Behörde in den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) und sein Umfeld mit V-Leuten und anderen Ermittlern hineinwirkte[1], ist unaufgeklärt.

Weshalb sich Maaßen mit Spitzenvertreter*innen der AfD traf, ist von ihm bis heute nicht erläutert worden, obgleich Mutmaßungen so weit gehen, er habe die AfD vor Observation warnen wollen.[2] Mittlerweile ist zudem bekannt, dass Maaßen im Fall von Anis Amri, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, dem Parlament nachweislich die Unwahrheit gesagt hat. Und schließlich die anfängliche Leugnung der rechten Hetzjagd in Chemnitz mit der als »Erkenntnis« ausgegebenen Lüge, ein entsprechendes Beweisvideo sei Fake.

Es war der AfD-Fraktions- und Parteivorsitzende Alexander Gauland, der am Abend der Bundestagswahl 2017 verkündet hatte: »Wir werden sie jagen«. Er meinte damit die Bundeskanzlerin und ihre großkoalitionären Unterstützerkreise. In Chemnitz bekam das eine andere Deutung: Ein rechtsextremer Mob jagte Menschen angeblich nichtdeutschen Aussehens durch die Straßen der Stadt. Seite an Seite zogen Hooligans mit NPD und »3. Weg«-Anhängern, Aktivisten der Identitären Bewegung, Reichsbürgern, AfD- und Pegida-Anhänger*innen sowie der Pro-Chemnitz-Bewegung. Die Brücken, die zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus geschlagen werden, sind zahlreicher und breiter geworden.

Nach der tödlichen Messerattacke auf den 35-jährigen Daniel H. inszenierte die rechte Front die Rückeroberung des öffentlichen Raums durch »das Volk«. Für den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer haben sich am 26. und 27. August in der sächsischen Industriestadt wie in einem Brennglas fünf Faktoren gebündelt: Erstens das emotional ausbeutbare Signalereignis des Totschlags oder Mordes, mutmaßlich durch Asylbewerber, zweitens die außerordentliche Gewaltbereitschaft rechtsextremer Netzwerke und die Instrumentalisierungsfähigkeit der AfD und Pegida, drittens die effektive und professionelle Mobilisierungsfähigkeit dieser Netzwerke und viertens die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der sogenannten normalen Bevölkerung. Fünftens schließlich die Unterschätzung der kritischen Masse durch die politische und polizeiliche Führung. Und sechstens, so kann hinzugefügt werden, die teilweise Infiltration von Teilen staatlicher Sicherheitsapparate von rechts.

Das bisher nach rechtsextremen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte einsetzende Empörungsritual von Politikern, die den Rassismus schärfstens zurückweisen und die damit verbundene Gewalt verurteilen, wurde nach den Ereignissen in Chemnitz durch ein Ritual der Verharmlosung bei gleichzeitigem Bekunden von Verständnis abgelöst.[3] Nicht nur AfD-Chef Gauland hat es normal empfunden, dass »Menschen ausrasten«, wenn es zu derartigen Taten komme.

Den Anfang machte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der im Trump-Stil die Realität verdrehte. Während die Bundeskanzlerin von »Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft« sprach, erklärte der Landeschef in seiner Regierungserklärung im Dresdner Landtag kategorisch: »Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome« – wer aus Wut über das Tötungsdelikt auf die Straße gegangen sei, solle nicht »an den Pranger« gestellt werden. Die Verharmlosung des Rechtsextremismus hat Tradition in der sächsischen Landesregierung.[4] Dadurch wurde der Neuen und Alten Rechten der Raum geöffnet.

Die Opfer der Übergriffe erzählen etwas anderes als Kretschmer. Beispielsweise der Betreiber eines jüdischen Restaurants, das überfallen wurde mit Parolen wie: »Judensau, verschwinde aus Deutschland!« Roland D., der mit einer 35-köpfigen SPD-Gruppe aus Marburg an der Gegendemonstration »Herz statt Hetze« in Chemnitz teilgenommen hatte, schilderte, wie sie auf dem Rückweg zu ihrem Bus von 15 bis 20 Männern mit dem Ruf »Deutschland-Verräter« angegriffen wurden (Frankfurter Rundschau, 7.9.2018). Allein bei der Opferberatung in Chemnitz haben sich bisher acht Geschädigte gemeldet, die auf offener Straße attackiert worden sind.

Insgesamt wurden 39 Fälle von Körperverletzung und Nötigung dokumentiert. Alles unterhalb des Radars des Bundesamtes für Verfassungsschutz und seines Präsidenten?
Tagelang schwieg der Bundesinnenminister zu den Vorgängen. Seine Zeitdiagnose unterscheidet sich kaum von der der AfD: Die Migrationsfrage sei »die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land«. Eine Pauschalverurteilung der knapp 20 Millionen Bürger*innen mit migrantischem Hintergrund in diesem Land. Den Bundesbürger*innen drückt – wie Umfragen zuletzt von Emnid ermitteln – der Schuh woanders. An erster Stelle steht die »Sicherung der Rente« (91%), an dritter Stelle eine wirkungsvolle »Mietpreisbremse« (85%). Das Thema Zuwanderung landet mit 66% erst auf dem achten Platz der wichtigsten Regierungsaufgaben. Seehofer, der seit Beginn der Flüchtlingskrise von einer »Herrschaft des Unrechts« spricht, wollte sich schon in der Vergangenheit gegen sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge »bis zur letzten Patrone« wehren. Eine Botschaft, auf die sich jeder »besorgte Bürger« berufen kann, wenn er »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!« brüllt.

Wer Migration als »Mutter aller politischen Probleme« der unter Globalisierungsdruck stehenden Gesellschaften geißelt, übergeht bewusst die Ursachen von Flucht – Krieg, Folter und politische Verfolgung, sei es in Syrien oder dem Irak, in Eritrea oder Afghanistan.[5] Diejenigen, denen sich der Bundesinnenminister unmissverständlich entgegenstellen müsste, betrachten ihn längst als einen der ihren. Es verwundert nicht, dass Alexander Gauland zufrieden flötete: »Seehofer hat in der Analyse vollkommen recht.«

Hans-Georg Maaßen trat seinem Dienstherrn treu zur Seite. Diesem und der BILD-Zeitung erklärte er, dem Inlandsgeheimdienst lägen »keine belastbaren Informationen darüber vor, dass Hetzjagden stattgefunden haben«. Stattdessen sprächen bei besagtem Video »gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken«. Eine Woche lang verkündete Maaßen seinen Fake – ohne ihn belegen zu können. Wer wird da behördenmäßig »geschützt«? In keinem Fall die Verfassung.

Der parteilose Maaßen war 2012 vom damaligen CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ins Amt gehievt worden und hat sich seitdem mehrfach als CSU-Mann bewährt. Entsprechend funktionierte das Zusammenspiel mit Seehofer. Es ist schlüssig, wenn die F.A.S. berichtet, dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundesinnenministerium miteinander abgesprochen haben, bevor Maaßen die umstrittenen Äußerungen in der Presse tätigte. Zu einem Zeitpunkt, als Rechercheure von ARD-Faktenfinder längst die Fakten auf den Tisch gelegt hatten.[6] Auch die Generalstaatsanwaltschaft Dresden bestätigt, dass Videos von den Demonstrationen in Chemnitz zahlreiche Übergriffe dokumentieren. Die 120 eingeleiteten Ermittlungsverfahren würden von Landfriedensbruch zu Körperverletzung bis hin zu Beleidigung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen reichen.

Das Wegsehen der »Verfassungsschützer« hat System, sie sind seit Gründung der Bundesrepublik auf dem rechten Auge blind. Der Inlandsgeheimdienst zeigt seit vielen Jahren keine Motivation, ernsthaft gegen Rechtsradikalismus vorzugehen. Den Geheimdienstleuten war es stets wichtiger, V-Leute in der Szene zu decken, als Straftaten zu verhindern. Die dubiose Rolle der Kölner Behörde im NSU-Komplex ist trotz Mammut-Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Gesinnungskumpane sowie zahlreicher parlamentarischer Untersuchungsausschüsse im Bund und den Ländern vertuscht worden. Dabei legt auch die gezielte Vernichtung von Akten über V-Leute in der Neonaziszene im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz im November 2011 nahe, dass die bekannt gewordenen Skandale nur die Spitze eines Eisbergs sind.

Nicht nur Politiker*innen der Oppositionsparteien – mit Ausnahme der AfD – verlangen den Rücktritt von Maaßen. Darüber hinaus fordern neben der Partei DIE LINKE auch die Grünen eine Auflösung seiner Behörde, da ein personell und strukturell völlig neues »Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr«, das klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben arbeite, nötig sei. Um die Strukturen und Zusammenhänge demokratie- und menschenfeindlicher Bestrebungen zu beobachten und zu analysieren, sei ein »unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung« notwendig, nur so ließen sich »die wiederkehrenden eklatanten Missstände im alten Verfassungsschutz beseitigen.«


[1] Vgl. dazu Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz, Hamburg 2017.
[2] Seit der Veröffentlichung des Buches einer AfD-Aussteigerin steht der Vorwurf im Raum, Maaßen habe Petry darüber beraten, wie eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz vermieden werden könne. Maaßen hat zu den AfD-Kontakten geschwiegen: Mit den Gesprächspartnern sei »Vertraulichkeit« verabredet worden.
[3] Den »Schulterschluss« belegen Recherchen und Aufnahmen des ARD-Magazins »Monitor«: Beteiligt waren u.a. die Pegida-Repräsentanten Siegfried Däbritz und Lutz Bachmann sowie der Anführer des völkisch-nationalistischen Flügels in der AfD, Bernd Höcke, darüber hinaus der neurechte Ideologe Götz Kubitschek und der Kopf der Identitären Bewegung Österreichs, Martin Sellner. Dabei waren einschlägige Rechtsextreme wie Maik Arnold von der verbotenen Kameradschaft Nationale Sozialisten Chemnitz, der Neonazi Ives Rahmel des rechtsextremen Musiklabels PC Records und Christian Fischer, ein früheres Mitglied der Heimattreuen Deutschen Jugend.
[4] Im August 2007 jagten im sächsischen Mügeln rund 50 Frauen und Männer acht indische Besucher eines Stadtfestes. Der damalige Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) wehrte sich dagegen, den »Überfall« Hetzjagd zu nennen.
[5] Natürlich kann man das Verhalten von Horst Seehofer auch damit erklären, dass die CSU kurz vor der bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober mit dem Rücken zur Wand steht und mit rechten Sprüchen um Wähler kämpft, die bei der AfD ihr Kreuz machen wollen. »Wir haben erstmals eine Partei rechts der Union, die sich mittelfristig etablieren könnte, ein gespaltenes Land und einen mangelnden Rückhalt der Volksparteien in der Gesellschaft«, erklärte der CSU-Chef.
[6] Ein Kirchturm, Straßenschilder, eine Werbetafel und die Bebauung, die im Video zu sehen sind, zeigen, dass es in der Chemnitzer Bahnhofstraße an der Johanniskirche entstand. Wetter und Kleidung der Menschen passen zum 26. August in Chemnitz, Schatten und Sonnenstand verweisen auf den späten Nachmittag. Etwa zu dieser Zeit hatte bereits der Journalist Johannes Grunert, der für Zeit Online vor Ort war, von Übergriffen auf Migranten an diesem Ort geschrieben.

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