22. Februar 2016 Hinrich Kuhls: Der Europäische Rat zur EU-Neupositionierung Britanniens

Auf dem Weg zum Brexit-Referendum

Auf der Tagesordnung des Europäischen Rats am 18. und 19. Februar standen zwei Themen: die Migrations- und Flüchtlingspolitik in Europa und die Beschlussfassung zu Verhandlungen über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich in der Europäischen Union. [1] Die Frage der Sicherstellung und Ausweitung humanitärer Hilfe für Kriegsflüchtlinge und AsylbewerberInnen musste auf ein späteres Treffen verschoben werden.

Das dokumentiert die fortwährende Handlungskrise der europäischen Staaten zu dieser Problematik. Dagegen konnten die Staats- und Regierungschefs sich in der Frage der geplanten Neupositionierung Britanniens innerhalb der EU auf einen Kompromiss verständigen, der auf eine Stärkung der Sonderposition Britanniens hinausläuft, sofern bei dem für den 23. Juni anberaumten Referendum die britischen WählerInnen für den Verbleib in der EU votieren. Zugleich enthält der Beschluss einige weitreichende Implikationen für die Auslegung des europäischen Vertragswerks.


Die Vorverhandlungen

Die Europapolitik des britischen Premierministers David Cameron ist seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der Konservativen 2005 und dann als Chef einer konservativ-liberalen Koalitionsregierung ab 2010 von einer innenpolitisch begründeten doppelten Logik gekennzeichnet. Durch einen konfrontativen europapolitischen Kurs sollte sowohl seine persönliche Position und die des durch ihn repräsentierten Parteiflügels innerhalb der Tories gefestigt werden als auch die parteipolitische Erosion der britischen Konservativen Partei gegenüber der nationalistisch-rechtspopulistischen United Kingdom Independent Party (UKIP) eingedämmt werden. Seit Anfang 2013 bündelte sich dieser Kurs in der Ankündigung, dass in einem Referendum über den Verbleib Britanniens in der EU eine Entscheidung herbeigeführt werden soll.[2]

Das zentrale Wahlversprechen ließ sich nach dem Wahlsieg der Konservativen im Mai 2015 und der Wiederwahl Camerons als Ministerpräsident einer jetzt konservativen Alleinregierung nicht mehr aus der Welt schaffen. Er werde – so Cameron – bei dem Referendum für den Verbleib Britanniens in der EU votieren, wenn er in einer »rechtsverbindlichen Form« die Sonderposition Britanniens innerhalb der EU in Neuverhandlungen stärken könne.

Nach der Sitzung des Europäischen Rats im Dezember 2015, auf dem über Camerons Verhandlungsvorschläge und die vom Ratspräsidenten Tusk mit der Europäischen Kommission und mit Regierungsstellen aller anderen 27 Mitgliedsstaaten abgestimmte Einschätzung dazu diskutiert worden war, übernahm der Ratspräsident die Aufgabe, die britischen Verhandlungsvorschläge in diverse Beschlussentwürfe umzuarbeiten, die das Anliegen der britischen Regierung sowohl mit den EU-Verträgen als auch mit Einwänden seitens einiger Regierungen in Einklang bringen sollten. Unmittelbar nach Veröffentlichung dieses Bündels von Beschlussentwürfen Anfang Februar reklamierte Cameron für sich ein historisches Verdienst: Als bisher einziger Regierungschef eines EU-Mitgliedsstaates habe er es aus »dem stehenden Start« erreicht, dass nach Sonderverhandlungen, genauer nach »Schlussfolgerungen« aus seinen Vorschlägen, in einem Referendum über die weitere Mitgliedschaft in einem EU-Staat abgestimmt wird. [3]


Die politischen Entscheidungen des Europäischen Rats

Der Europäische Rat hat sämtliche Beschlüsse – sowohl jene, die die Europäischen Verträge (Primärrecht) berühren als auch diejenigen, die eine Änderung oder Ergänzung bestehender Verordnungen (Sekundärrecht) zum Inhalt haben – unter dem Vorbehalt gefasst, dass sie erst in Kraft treten, wenn sich das Elektorat im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland für den Verbleib in der Europäischen Union entschieden hat. So hatte die belgische Regierung schon vor dem Ratsgipfel angekündigt, dass sie keinerlei Anlass sieht, sich mit dem Beschlusspaket vor dem Referendum zu befassen. Damit hat Cameron seinen wichtigsten Verhandlungspunkt nicht durchsetzen können: die Feststellung der unabänderlichen Rechtsverbindlichkeit des Verhandlungsergebnisses des Europäischen Rats – trotz der an einigen Stellen formal festgestellten »Rechtsverbindlichkeit« einzelner Beschlussteile.

Seine wiederholte Ankündigung, mit neu ausgehandelten Vertragsteilen, die bei der nächsten Revision oder Erweiterung der Europäischen Verträge »automatisch« – ohne Einleitung eines Vertragsänderungsverfahrens – übernommen werden, vor die Wählerschaft zu treten und damit für den Verbleib in der EU zu werben, war von vornherein illusorisch. Sein politisches Kalkül, als Verfechter einer »reformierten EU« authentisch für den Verbleib Britanniens in der EU agieren zu können, hatte nicht aufgehen können. Statt »das Beste aus beiden Welten« bei der Terminierung des Referendums präsentieren zu können, ist er durch den Europäischen Rat in die Pflicht genommen worden, eindeutig – und nicht mehr wankelmütig – gegen einen EU-Austritt Britanniens Stellung zu beziehen, um nach einem positiven Ausgang des Referendums überhaupt erst in die Lage zu kommen, die ausgehandelten »Vertragsänderungen«, also die weiteren Sonderkonditionen für Britannien, effektiv auf den Weg zu bringen. Cameron drückte diesen Sachverhalt nach Abschluss der Verhandlungen mit den Worten aus, dass die »Rechtsverbindlichkeit der Reformen« darin bestehe, dass Britannien etwaigen Änderungen des getroffenen Beschlusses des Europäischen Rats »zustimmen« müsse – vorausgesetzt, das Vereinigte Königreich verbleibt nach dem Brexit-Referendum in der Europäischen Union.


Einschränkung von Sozialleistungen

Als Hauptstreitpunkt erwies sich der Verhandlungskorb »Sozialleistungen und Freizügigkeit«. Dem Europäischen Rat war und ist bewusst, dass die Position der britischen Regierung – wäre sie als ausformulierter Antrag an den Europäischen Rat gerichtet worden – als nicht konform mit dem Primärrecht hätte zurückgewiesen werden müssen. Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte – abgesehen von Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung – und das sozialrechtliche Diskriminierungsverbot sind zu gewährleisten und können nur »aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit« beschränkt werden. Derartige Gründe hat die britische Regierung nicht geltend gemacht.

Um dennoch die rechtspopulistische Profilierung Camerons – seine Diskriminierung des rechtlich gesicherten Anspruchs auf gesellschaftliche Teilhabe der EU-ArbeitsmigrantInnen mit geringen Einkommen – zu unterstützen, haben die »Sherpas und Ständigen Regierungsvertreter« (Tusk) einen Weg gewählt, der schwerlich einer höchstrichterlichen Beurteilung wird Stand halten können. Sie legten den Staats- und Regierungschef einen Beschluss vor, der das Gründungsprinzip der Freizügigkeit betont, zugleich aber Änderungen des Sekundärrechts vorschlägt, die mit der offenen sozialen Diskriminierung residenter EU-BürgerInnen eben diese Freizügigkeit einzuschränken versucht.

Hier geht es nicht um die rechtliche Würdigung des Beschlussbündels, politisch ist jedoch festzuhalten, dass der Beschluss die Intention der Lissaboner Verträge auf den Kopf stellt, indem davon abgesehen wird, dass Rechtsakte nach §21 AUEV dem Ziel zu dienen haben, das Recht aller UnionsbürgerInnen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern und deren soziale Sicherheit und sozialen Schutz zu verbessern.

Konkret soll die Einschränkung des Bezugs von Kindergeld sowie von Steuerrückvergütungen und Wohnungshilfen durch die Änderung zweier Verordnungen umgesetzt werden, der Verordnung (EG) Nr.883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EU) Nr. 491/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union.


Rechtspopulistische Familienpolitik

Zum Kindergeld lautete die Ausgangsforderung Camerons in seinem Brief vom 10. 11. 2015 –  allen Verträgen Hohn sprechend – lapidar: »Die Praxis der Überweisung von Kindergeld ins Ausland (›overseas‹) sollte beendet werden.«

Das Verhandlungsergebnis: Stimmen die BritInnen für den Verbleib in der EU, soll die Kommission einen Vorschlag unterbreiten, der es EU-Staaten ermöglicht, für neu einreisende EU-BürgerInnen das Kindergeld für Kinder, die im Ausland wohnen, entsprechend den dortigen Lebenshaltungskosten und dem dort gezahlten Kindergeld anzupassen. Ab 2020 soll diese »Indexierung« dann nicht nur für Neuanträge, sondern auch auf bereits dann seit mehr als vier Jahren im Land lebende Eltern ausgeweitet werden können.

Die Fakten, die von der britischen Regierung nicht bekannt gemacht worden sind: [4] In Britannien umfassen die Familienleistungen Kindergeld, steuerliche Kinderfreibeträge und Betreuungszuschüsse. Im Jahr 2013 erhielten 7,5 Mio. Familien für 13,1 Mio. Kinder Kindergeld in Höhe von 11,5 Mrd. Pfund. Darunter waren – Stand Dezember 2013 – 20.288 Familien, die Kindergeld erhielten für 34.052 Kinder, die außerhalb Großbritanniens in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebten. Sowohl die Zahl der Familien als auch die der Kinder hat sich von 2009 bis 2013 verringert. Steuerliche Kinderfreibeträge haben im Jahr 2012 insgesamt 4,1 Mio. Familien geltend gemacht. Darunter waren 3.447 Familien, die für 5.962 in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebende Kinder Steuernachlässe bekamen.

65% aller Familien, die Kindergeld für außerhalb Britanniens in der EU lebende Kinder beziehen, kommen aus Polen, gefolgt von Irland mit 6% und Litauen mit 5,9%.  Die wöchentlichen Kindergeldzahlungen betragen in Britannien £20,70 für das erste und £13,70 für jedes weitere Kind, also rund £90 (120 Euro) bzw. £60 (78 Euro) im Monat. Dem EUCO-Beschluss entsprechend wäre bei der Indexierung »der Lebensstandard des Mitgliedstaates, in dem das Kind wohnt«, zu berücksichtigen. In Polen variiert das monatliche Kindergeld zwischen £14 und £21 pro Kind. Irland zahlt £109 pro Monat pro Kind, während in Litauen etwa £29 pro Monat als Kindergeld gezahlt wird.

Legt man die Studien, auf die vom britischen Parlament Bezug genommen wird, zu Grunde, dann entfallen 0,26% aller Kindergeldfälle auf Kinder, die im EU-Ausland leben. Bei den Kinderfreibeträgen sind es 0,09% Fälle, in denen Familien mit im EU-Ausland lebenden Kindern begünstigt sind. Für Schätzungen, die von einer Ersparnis von bis 25-30 Mio. Euro ausgehen, liegen keine annähernd gesicherten Grundlagen vor, und berücksichtigen nicht den mit einem zweistelligen Millionenbetrag zu beziffernden höheren Verwaltungsaufwand.

Die ganze Absurdität dieses Beschlusses – gerade auch angesichts des auf dem Gipfel nicht gelösten materiellen und finanziellen Ausgleichs in der Flüchtlings- und Migrationsfrage – wird deutlich, wenn z.B. die polnischen und ungarischen Eltern den Hinweisen folgen sollten, die die Regierungschefs aus Polen und Ungarn in ihren Stellungnahmen herausgestellt haben, und – um die ungekürzten Kindergeldzahlungen weiterhin zu erhalten –  vor allem jüngere Kinder nach Britannien holten: Die öffentlichen Aufwendungen für Schulbesuch und Kinderbetreuung würden die erhoffte Ersparnis schon beim Zuzug von einigen wenigen Tausend Kindern um ein Vielfaches übersteigen. Dass die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin Merkel diesen Beschlussteil, der insbesondere für das Wählerpotential rechtspopulistischer Parteien anschlussfähig ist, als Wegweiser für die Sozialpolitik auch hier im Lande herausstellt, scheint dann auch der wohl wichtigste »Reformerfolg« Camerons zu sein. Die »allerbesten Wünsche für sein Referendum«, die sie Cameron mit auf den Weg gab, sollten dann auch als hintergründige Drohung in Richtung eines weiteren Abbaus familienbezogener Sozialleistungen ernst genommen werden – selbst im Falle eines Brexits.


Unsozialer Schutzmechanismus

Um den »Missbrauch der Freizügigkeit« und den »Zustrom in unser Sozialsystem aus EU-Ländern« einzuschränken, hatte Cameron in seinem Antragsbrief gefordert:  EU-BürgerInnen »müssen in Britannien vier Jahre gelebt und Beiträge gezahlt haben, bevor sie Lohnzusatzleistungen oder Wohnungshilfen erhalten können«.

Das Verhandlungsergebnis: Bei einem Verbleib in der EU kann die Regierung in London einen »Schutzmechanismus« beantragen, um Sozialleistungen wie Lohnzuschüsse und den Anspruch auf Sozialwohnungen zu kürzen oder zu streichen, wenn die Zuwanderung auf ein »außergewöhnliches Maß« steigt. Hierzu soll – nach Änderung der entsprechenden Verordnung – auf britischen Antrag hin ein »Schutzmechanismus« (medienvulgär: »Notbremse«) genanntes Verfahren in Gang gesetzt werden, in dem auf Grundlage eines Vorschlags der Europäischen Kommission »der Rat den betreffenden Mitgliedstaat ermächtigen könnte, den Zugang zu nicht durch Beiträge finanzierten Lohnergänzungsleistungen in dem erforderlichen Umfang zu beschränken. Der Rat würde diesen Mitgliedstaat ermächtigen, den Zugang von neu hinzukommenden Arbeitnehmern aus der EU zu nicht durch Beiträge finanzierten Lohnergänzungsleistungen für einen Zeitraum von bis zu insgesamt vier Jahren ab Aufnahme der Beschäftigung zu beschränken. Die Beschränkung sollte abgestuft sein, wobei der Arbeitnehmer zu Beginn völlig von diesen Leistungen ausgeschlossen wäre, jedoch entsprechend seiner wachsenden Bindung an den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats schrittweise Zugang zu diesen Leistungen erhielte. Die Ermächtigung hätte eine begrenzte Geltungsdauer und würde für EU-Arbeitnehmer gelten, die während eines Zeitraums von 7 Jahren neu ankommen.«[5]

Voraussetzung einer positiven Prüfung des Antrags soll sein, »dass eine solche außergewöhnliche Situation vorliegt, die aufgrund ihres Ausmaßes wichtige Aspekte seines Systems der sozialen Sicherheit, darunter den Hauptzweck seines Systems der Lohnergänzungsleistungen, beeinträchtigt oder erhebliche und voraussichtlich anhaltende Schwierigkeiten auf seinem Arbeitsmarkt verursacht oder dazu führt, dass das ordnungsgemäße Funktionieren seiner öffentlichen Dienste übermäßigen Belastungen ausgesetzt ist«.

Diese Voraussetzungen liegen jetzt und in absehbarer Zeit im Vereinigten Königreich nicht vor. Die britische Regierung hat hierzu keine belastbaren Zahlen vorgelegt.[6] Anfang November veröffentliche der Premierminister zwar eine Statistik, wonach bis zu 43% der EU-Migranten in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts Sozialleistungen und Steuererleichterungen erhalten hätten. Umgerechnet in absolute Zahlen bedeutet dies für 2013, dass von den 525.000 EU-BürgerInnen, die weniger als vier Jahre in Britannien lebten, zwischen 195.000 und 235.000 Personen entweder Lohnzusatzleistungen (in-work benefits) oder Arbeitslosenunterstützung und andere Sozialleistungen außerhalb einer Tätigkeit (out-of-work benefits) bezogen hatten. Zwei Drittel der Leistungsbezieher, also etwa 150.000 Personen, bezogen demnach Lohnzusatzleistungen bzw. konnten Steuernachlässe geltend machen.

Trotz Rekurs auf das Informationsfreiheitsgesetz lehnten die zuständigen Stellen die Offenlegung ihrer Datenquellen ab. Insofern ist bis dato nicht nachprüfbar, ob die Aussage des Arbeitsministeriums überzogen ist oder zutrifft, dass die Steuernachlässe im Jahr 2013 für alle (also nicht nur für diejenigen, die weniger als vier Jahre im Land sind) EU-Migranten in Arbeit »dem Steuerzahler« 530 Mio. Pfund »gekostet« hätten, was einem Anteil von 1,6% an der Gesamtsumme der Steuernachlässe entsprechen würde – wohlgemerkt bei einem Anteil von rund 6,5% der beschäftigten EU-MigrantInnen an allen Erwerbstätigen.

Selbst wenn der höchste Schätzbetrag von gut 500 Mio. Pfund (für EU-MigrantInnen, die weniger als vier Jahre in Britannien arbeiten, dürfte er bei rund 200 Mio. Pfund liegen) zu Grunde gelegt wird, dann ist zu konstatieren, dass die »zweitstärkste Volkswirtschaft der EU und die fünfstärkste der Welt« (Cameron in seinem Antragsschreiben) für sich reklamiert, wegen eines Betrags bei Steuernachlässen und Kindergeld in Höhe von etwa 0,2 Promille des Bruttosozialprodukts den Notstand ihres Sozialversicherungssystems auszurufen. Das ist in der Tat kein Ausweis guter sechsjähriger Regierungstätigkeit.

Damit britische Regierung, Kommission und Rat der Europäischen Union nicht in die Verlegenheit kommen, einen volkswirtschaftlich und fiskalisch begründeten Antrag einreichen bzw. über ihn entscheiden zu müssen, ist der politische Freifahrtschein auch direkt in den Beschluss hineingeschrieben worden. Das Verfahren sei als »ein Warn- und Schutzmechanismus« zu verstehen »zur Reaktion auf die Situation, dass über einen längeren Zeitraum, auch als Ergebnis politischer Maßnahmen in der Vergangenheit aufgrund früherer Erweiterungen der EU, ein außergewöhnlich großer Zustrom von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten zu verzeichnen ist«.

In der Intransparenz der Beschlussfassung zum Verhandlungskorb »Sozialleistungen und Freizügigkeit« wird schlaglichtartig die Inkompetenz der Staats- und Regierungschefs beleuchtet, die die gesamten von Cameron aufgezwungenen Verhandlungen kennzeichnete: Dem Ratspräsidenten und den »Sherpas« in den Hinterzimmern wurden keine mit den EU-Verträgen konformen Richtlinien für die Verhandlungsführung vorgegeben.

Der Sache nach verdeutlichte der Verhandlungsablauf ein weiteres Mal, wie dringlich die Etablierung einer Sozialunion im europäischen Vertragswerk ist. Der Form nach wurde offensichtlich, dass die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung über Fragen, die die Grundlagen und die Arbeitsweise der Europäischen Union berühren, nicht wie bisher stattfinden kann. Es muss eine andere Gewichtung zwischen Europäischem Parlament, einer Zweiten Kammer von Repräsentanten der einzelnen Mitgliedsstaaten und Regionen sowie der Europäischen Kommission als einer Exekutive, die unmittelbar dem vom Souverän, der Bürgerschaft der Europäischen Union, gewählten Parlament verantwortlich ist. Die Vertragsverletzungen, die die Beschlüsse zur Stärkung der sozialrechtlichen Sonderrolle Britanniens enthalten, und die Handlungsunfähigkeit der europäischen Institutionen und aller Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten in der Flüchtlings- und Migrationsfrage sollten Anlass genug sein, für die Einberufung des Konvents zur Erneuerung Europas einzutreten.


»Verschleierte Integration« oder unverschleierte Desintegration?

Die Notwendigkeit der Erneuerung Europas im Zuge eines Ordentlichen Änderungsverfahrens (Konvent) verdeutlichen auch die Beschlüsse zu den Verhandlungskörben »Wirtschaftspolitische Steuerung« und „Souveränität«.

Bei der Ausgestaltung der wirtschaftspolitischen Steuerung, insbesondere des Verhältnisses von Euro- und Nichteurostaaten, wurde festgehalten, das der materielle Gehalt nicht mit dem bestehenden Vertragswerk zusammengeht und in einem Veränderungsverfahren mit entsprechender Beteiligung des Europäischen Parlaments und mit nationalen Ratifizierungsverfahren »in die Verträge aufgenommen« muss. Das in den Verträgen kodifizierte Ziel, eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, dessen Währung der Euro ist, ist in der Tat – trotz der seinerzeit protokollmäßig festgehaltenen Nichtbeteiligung Britanniens und Dänemarks an der dritten Stufe der WWU – schwer mit den getroffenen Beschlüssen in Einklang zu bringen: So enthält die Vereinbarung u.a. ein Verfahren, das bei weiteren Regelungen im Bereich der Bankenregulierung die Interessen der Staaten begünstigen soll, die nicht am Euro oder der Bankenunion teilnehmen.

Durch die beabsichtigte Verfestigung der britischen Rechtsposition wird für die Weiterentwicklung der WWU notgedrungen der Weg der »verschleierten Integration« weiter geöffnet: »Das Modell ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet, die einander ergänzen. Zum einen übertragen die nationalen Regierungen in der Substanz politische Entscheidungskompetenzen an die europäische Ebene, die nicht ausdrücklich im EU-Vertrag zu finden sind. Die Kompetenzverlagerung wird sodann kaschiert, indem entweder Strukturen für ›nur‹ politisch, aber nicht rechtlich verbindliche Entscheidungen geschaffen werden oder der Umweg über ergänzende völkerrechtliche Verträge gegangen wird. Der 2012 beschlossene Fiskalpakt etwa bedeutet keine formelle Änderung des EU-Vertrags. Dennoch haben die Mitgliedstaaten vereinbart, strengere Haushaltsregeln in ihre nationalen Verfassungen oder auf einer äquivalenten Rechtsebene zu integrieren, und neue Sanktions- sowie Überwachungssysteme eingeführt. De facto, wenn auch nicht de jure wurden damit aber die Möglichkeiten der europäischen Ebene gestärkt, Einfluss auf nationale Haushaltspolitik zu nehmen.

Zum anderen werden in diesen Integrationsschritten die für eine reguläre Vertragsänderung notwendigen Verfahren umgangen. Instrumente hierzu sind eine großzügige Auslegung der EU-Verträge, ergänzende völkerrechtliche Verträge und intergouvernementale Koordinierung. Ein Beispiel hierfür ist die Bankenunion. Sie konnte erst durch eine Kombination aus EU-Sekundärrechtsetzung unter weitreichender Interpretation der EU-Verträge und ergänzendem völkerrechtlichem Vertrag geschaffen werden. Die ›verschleierte‹ Integration steht damit im Gegensatz zur reinen Lehre, der zufolge Verträge nur über einen Konvent mit größtmöglicher Rechtssicherheit, Transparenz und demokratischer Legitimation geändert werden sollen.«[7]

Die Gefahren dieser Verschleierung sind schwerwiegend. Erstens verletzt sie »wichtige Prinzipien, deren Einhaltung die regulären Verfahren zur Vertragsänderung mit ihren hohen Hürden auf europäischer wie nationaler Ebene garantieren sollen. Dabei handelt es sich erstens um Transparenz und demokratische Beteiligung bei der Beratung von Vertragsänderungen in einem Konvent. An diesem sollen, wie vertraglich festgelegt, nicht nur die europäischen und nationalen Parlamente teilnehmen. Auch die interessierte Öffentlichkeit soll eingebunden werden. Zwar wurden Integrationsschritte wie Bankenunion oder Fiskalpakt nicht hinter verschlossenen Türen vollzogen, erlaubten aber deutlich weniger Transparenz und Mitwirkung als ein neuer Konvent.«

Zweitens »geben Volksabstimmungen, die in einigen Mitgliedstaaten bei Souveränitätstransfers nötig sind, einer Vertragsänderung zusätzliche demokratische Legitimität in den Augen der Öffentlichkeit.«

Drittens »gefährdet das bisherige Vorgehen langfristig die Rechtssicherheit und -klarheit in der EU. Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft, deren Legitimität und Stabilität auch davon abhängen, dass Prinzipien wie die begrenzte Einzelermächtigung aufrechterhalten werden. Wird aber das bestehende EU-Recht durch zahlreiche völkerrechtliche Nebenverträge mit Widersprüchen angereichert oder durch großzügige Auslegungen gebogen, um Integrationsschritte durchzusetzen, untergräbt diese Praxis langfristig die EU.«[ebd.]

Noch offensichtlicher wird die freie Interpretation des Europäischen Vertragswerks durch den Europäischen Rat im Beschluss zur Bindungsentpflichtung des Vereinigten Königreichs im Verhandlungskorb »Souveränität«: »Es ist anerkannt, dass das Vereinigte Königreich in Anbetracht seiner Sonderstellung nach Maßgabe der Verträge nicht zu einer weiteren politischen Integration in die Europäische Union verpflichtet ist. Der materielle Gehalt dieser Ausführungen wird anlässlich der nächsten Überarbeitung der Verträge im Einklang mit den einschlägigen Vertragsbestimmungen und den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten in die Verträge aufgenommen werden um deutlich zu machen, dass die Bezugnahmen auf eine immer engere Union nicht für das Vereinigte Königreich gelten.«

Wenn ein Organ des Rechtssubjekts Europäische Union die Grundvereinbarung und das vorrangige Ziel seines Zusammenschlusses, nämlich

  • »die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen«,
  • »durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Staaten zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen« und
  • »die stetige Besserung des Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben«

im Vorübergehen für obsolet erklärt, dann ist der Übergang zur unverschleierten Desintegration vollzogen.

Die weitere Auseinandersetzung um das EU-Referendum in Britannien bleibt wichtig, ist aber angesichts des Versagens der europäischen politischen Klasse nachrangig. Entweder es gelingt nicht, die Wählerinnen in England, Wales, Schottland und Nordirland vom Verbleib in der Europäischen Union zu überzeugen – dann werden die jetzigen Staats- und Regierungschefs das Stigma des Brexits und der beginnenden Auflösung der EU auf der Stirn tragen, auch wenn sie jegliche Verantwortung weit von sich weisen werden. Oder es gelingt, – trotz der zweigleisigen Kampagne der britischen Konservativen und ihrer Kumpanei mit den Rechtspopulisten – mit einer auf die Erneuerung Europas ausgerichteten Protestbewegung das Referendum mit einem Ja zu Europa zu entscheiden, um in einer gemeinsamen europaweiten politischen Anstrengung die Umsetzung des Beschlusses zur Neuregelung Britanniens in der EU zu unterbinden.

Hinrich Kuhls lebt in Düsseldorf und arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit.

Anmerkungen
[1] Europäischer Rat (EUCO): Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (18. und 19. Februar 2016); http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/02/19-euco-conclusions/
[2] Vgl. hierzu Hinrich Kuhls: Kein Ja und kein Nein zum Brexit. Die britischen Konservativen und das EU-Referendum. Sozialismus 1-2016, S. 30-36.
[3] Diese Sichtweise hat der Karikaturist Steve Bell in einem Cartoon aufgegriffen: http://www.theguardian.com/commentisfree/picture/2016/feb/02/steve-bell-on-david-camerons-eu-negotiations-cartoon
[4] Zum Folgenden vgl.: Uuriintuya Batsaikhan: Child benefits for EU migrants in the UK. Bruegel Blog Post, 18.2.2016; http://bruegel.org/2016/02/child-benefits-for-eu-migrants-in-the-uk
[5] Zeitgleich zur Verhandlungsrunde in Brüssel veröffentlichte das britische Arbeits- und Sozialministerium (Minister Iain Duncan Smith ist eines der fünf Kabinettsmitglieder, die prominent für den EU-Austritt werben) den mittelfristigen Rahmenplan der Sozialausgaben, der zahlreiche Kappungen vorsieht, darunter Leistungen für Arbeitssuchende aus EU-Ländern und die »Reduzierung der Zuwanderung von EU-Arbeitsmigranten, indem Sozialleistungen für sie gekürzt werden, damit unser Sozialsystem kein Magnet mehr ist und gerechter wird für jene, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten«. Department for Work and Pensions: DWP single departmental plan: 2015 to 2020. Published 19 February 2016; https://www.gov.uk/government/publications/dwp-single-departmental-plan-2015-to-2020/dwp-single-departmental-plan-2015-to-2020.
[6] Alberto Nardelli: Key data on migrant benefit claimants being hidden, Tom Watson says. Labour deputy leader says EU referendum debate impossible without statistics that HMRC are refusing to disclose. The Guardian, 9.1.2016; http://www.theguardian.com/politics/2016/jan/08/hmrc-key-data-migrant-benefit-claimants-hidden-tom-watson-labour.
[7] Nicolai von Ondarza: Und ewig droht die Vertragsänderung? Perspektiven für die Reform der Europäischen Union. Berlin: SWP-Aktuell 89, November 2015; http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A89_orz.pdf.
[8] ebd.

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