3. Dezember 2019 Bernhard Sander: Macrons Neupositionierungen

Außenpolitische Disruption

Macron und NATO-Generalsekretär Stoltenberg (Foto: pa/dpa)

Seit Beginn seiner Amtszeit versucht der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, sein Land und die EU außenpolitisch neu zu positionieren, da seine Zeitdiagnose das Land am Beginn grundlegender Veränderungen sieht.

In einem zerrütteten Europa liegt Deutschland wirtschaftlich vergrippt in der Endphase einer großen Koalition von Parteien, die von inneren Differenzen gelähmt sind. Italien, Belgien und Spanien sind seit Jahresbeginn auf der Suche nach stabilen Regierungsmehrheiten. Großbritannien, auf dem Weg zum Brexit, stellt nur noch negativ einen Einflussfaktor für die Politik in Brüssel dar. Gegner Macrons sitzen vor allem in den illiberalen Demokratien Osteuropas. Der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk »warf Macron indirekt vor die EU zu spalten« (FAZ vom 15.11.2019).


Europa-Blockade

Macrons Umbaupläne für die EU sehen zu allererst einen Stopp der Erweiterungsstrategie vor, wie sie in den letzten Jahre von der deutschen Bundesregierung betrieben worden ist. Als historischen Fehler bezeichnet der ehemalige EU-Kommissions-Präsident, Jean-Claude Juncker, das französische Veto gegen Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien. Aber auch in Serbien und Montenegro sind die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für kapitalistischen Normalbetrieb nicht gegeben. Mit der Definition von Eintrittsbedingungen stellt Macron auch die Spielregeln innerhalb der jetzigen EU auf den Prüfstand, die bisher ja die Blaupause für den EU-Beitritt darstellten.

Macron hat ein Arbeitspapier unterbreitet, dass die Verhandlungen über eine Vollmitgliedschaft in einen neuen Stufenplan ordnet: Rechtstaatlichkeit, dann Zusammenarbeit bei Forschung & Entwicklung, Harmonisierung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Harmonisierung der Finanzpolitik und Beitrittsmöglichkeit in die Bankenunion, Übernahme in das Regelwerk des Binnenmarktes und Aufnahme in die Strukturfonds zu Regionalförderung und Sozialpolitik, und Abstimmung der Außenpolitik.

Aufnahmekandidaten sollen bei Fehlverhalten in ihrem Aufnahmestatus auch wieder herabgestuft werden können. Bisher werden die thematischen Kapitel von der Kommission parallel verhandelt. Die Stufenfolge bietet Schutz vor unregulierter Binnenkonkurrenz sowohl auf den Arbeitsmärkten als auch durch Produktionsverlagerungen, deren Probleme sich mit der Aufnahme südosteuropäischer Länder ergaben.

Deutschland hatte den Drang osteuropäischer Staaten zu Wachstum und Wohlstand genutzt, um die eigene ökonomische Vorherrschaft in politische Stärke umzumünzen. Die Ideen Macrons für einen europäischen Pol gegenüber der aufstrebenden VR China und dem langsamen Rückzug der USA bei gleichzeitigen Verfall der internationalen Nachkriegsordnung und -Institutionen werden von der deutschen Regierung nicht nur ignoriert, sondern mit anderen strategischen Optionen gekontert, wie sie etwa Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vorgetragen hat.

Macron knüpft an Mitterrand an. Auch bei ihm gibt es ein Kerneuropa, die Euro-Zone, die institutionell noch weiter vertieft werden soll. Darum legt sich ein zweiter Kreis von Vollmitgliedern im gemeinsamen Markt. Eine dritte Ländergruppe schließlich ist nur locker assoziiert, weil sie ähnliche Interessen und wirtschaftliche Freiheiten teilt.

Großbritannien vertrat bisher ebenfalls eine Linie »Erweiterung vor Vertiefung« und so stärkt der Brexit stärkt indirekt Macrons Position. Die Erweiterung würde nationalistische Projekte (Groß-Serbien, Groß-Albanien) unattraktiv machen, die einzelnen Kleinstaaten auf dem Westbalkan würden dem Einfluss chinesischer Seidenstraßen-Strategien (Infrastruktur-Kredite) und osmanisch-islamischer Großmachtträume leichter zu entziehen sein. Prompt versprach der deutsche Außenminister Heiko Maas bei seinem anschließenden Besuch in Nord-Mazedonien, dass man dort mit Eintrittsgesprächen rechnen könnte.


NATO-Strategie

Macrons Feststellung vom »Hirntod« der NATO hat wenige Tage darauf für neue Aufregung gesorgt. Die Grundidee des Militärbündnisses beruht auf der gegenseitigen Verteidigung, was bisher auf entsprechenden Abstimmungsmodalitäten über eine gemeinsame Bedrohungslage basierte. Sowohl der Rückzug US-amerikanischer Truppen als auch der Einmarsch türkischer Verbände in das so entstandene Vakuum zeigten aber, dass die Konsultationsmechanismen der NATO ausgesetzt haben.

Für Macron ist das nur ein Beispiel für seine These, dass auf die USA kein Verlass mehr sei und Europa militärisch, rüstungstechnisch und strategisch Autonomie anstreben müsse. »Ich weiß nicht, was morgen mit Artikel 5 ist«, kritisierte Macron die neue Unübersichtlichkeit. In dem Artikel sichern sich die Partner der Allianz gegenseitigen Beistand zu für den Fall eines Angriffs.

Macron hatte darauf hingewiesen, dass nach dem Brexit Frankreich das einzige europäische Land mit Atomwaffen sei. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag beinhaltet auch das Angebot verstärkter militärischer und strategischer Mitsprache des jeweiligen Nachbarlandes. Doch diese Systeme stehen nicht unter dem Kommando der NATO. Die US-amerikanischen Atomwaffen auf deutschem Boden unterliegen dem NATO-Kommando. Die Trump-Administration ist formell in diese Allianz eingebunden, dominierte sie jedoch faktisch.

Die spannungsgeladenen deutsch-französischen Beziehungen verschärfen sich seit einiger Zeit ausgerechnet in einem Bereich, der lange kaum für nennenswerten Widerspruch sorgte: der Russland-Frage. Im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern Sarkozy und Hollande knüpft Macron stärker an gaullistische Traditionen der französischen Außenpolitik an. Die internationale Sicherheitslage und das aufstrebende China hätten zu einer »außergewöhnlichen Schwäche Europas« geführt, kritisiert der französische Präsident in einem Interview im britischen Wirtschaftsjournal »Economist«.

»Wenn Europa sich nicht als Weltmacht sehen kann, wird es verschwinden«, warnte Macron. Um das zu verhindert forciert er – im Verbund mit der Bundesregierung – nicht nur die »militärische Souveränität« der EU, sondern wirbt auch für verbesserte Beziehungen mit Russland. Macron hatte vor dem letzten G7-Gipfel sich mit Putin ins Benehmen gesetzt. Nach Ansicht des französischen Präsidenten stehen die Chancen für einen Ausgleich mit Russland günstig. Tatsächlich habe das Land gar keine Alternative zu einer Zusammenarbeit mit der EU, wenn es nicht »der Vasall Chinas« werden wolle. Der Grund sei das instabile russische Entwicklungsmodell, das »übermilitarisiert«, krisenanfällig und von einer »schrumpfenden und alternden Bevölkerung geprägt sei«.

In der NATO will der deutsche Außenminister das Primat der Politik wieder stärken. Er schlägt vor deren Geburtstagsgipfel einen Arbeitskreis von Experten vor, der die inneren Abstimmungsprozesse reformieren soll. Im Militärbündnis werden die französischen Vorstöße uminterpretiert: »Jeder Versuch Europa von Amerika zu entfernen, wird nicht nur das transatlantische Band schwächen, sondern Europa spalten«, sagt etwa der NATO-Generalsekretär. Die Aufrüstung der USA an der »Ostflanke« gegenüber Russland erfolgt weitgehend jedoch ohne klare Absprachen mit den europäischen Regierungen.

Die Bundesregierung verfolgt eine gänzlich andere Strategie. Die Sanktionen gegenüber Russland verfolgen das Ziel, »eine Verhaltensänderung der Russischen Föderation in ihrer Ukraine-Politik fortzuführen und zu einer Lösung des Konfliktes in der Ostukraine und auf der Krim beizutragen«. Da sich jedoch keine politische Lösung abzeichnet, setzt die Bundesregierung seit einiger Zeit auf die »Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen« – und dafür braucht sie weder die EU noch Frankreich.

Einigkeit scheint zwischen Macron und der deutschen Regierung darin zu bestehen, dass man die Außenpolitik auch mit militärischen Mitteln stärken müsse. Macron lässt offen, ob er die europäischen Staaten außerhalb der NATO-Strukturen zu einer eigenständigen militärischen Macht entwickeln will bzw. was der der Nordatlantik-Allianz zukünftig noch zu zutraut.


Unterschiedliche Wirtschaftskonzeptionen

Die Spannungen in der EU und die Furcht, mit der gelähmten EU in die globale Zweitliga abzusteigen, zwingen Macron, innenpolitisch den Modernisierungskurs zu forcieren, um nicht auf einen Vasallenstatus gegenüber Deutschland zu sinken, was zweifellos die französischen Rechtspopulisten stärken würde.

Die relativ stärkere Wirtschaftsdynamik Frankreichs gegenüber Deutschland begründet sich in den hohen Staatsausgaben, die mit 56% des BIP in Europa an der Spitze liegen, und in der mit 53% ebenfalls sehr hohen Abgabenquote. Die je nach Schätzung 10 oder 15 Mrd. Euro Mehrausgaben, die nach dem Gelbwesten-Protesten ausgeschüttet wurden, haben sich als konjunkturstabilisierend erwiesen. Der eingeschlagene Umbaukurs (Kürzung der Arbeitslosenhilfe, Vereinheitlichung des Rentensystems, Steuersenkungen für die Spitzeneinkommen) könnte die robuste Binnennachfrage allerdings erheblich destabilisieren.

Doch hält Macron ebenso unverzagt an der Strategie aktiver europäischer Wirtschaftspolitik fest, und gerät damit ebenfalls auf Konfrontationskurs mit den Regierungen in Deutschland, Niederlande u.a. Die Defizitregel des Maastricht-Vertrags stamme »aus einem anderen Jahrhundert«, wird Macron zitiert. Angesichts der technologischen Überlegenheit der USA (Digitalkonzerne) und der erfolgreichen Aufholjagd der VR China fordert er: »Wir brauchen mehr Expansion, mehr Investitionen.«

Die Begrenzung der EU-Ausgaben auf 1% des europäischen BIP sei veraltet, es müsse »Ausnahmen geben bei Themen, die für die Zukunft Europas unverzichtbar sind«, also Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Energiespeicherung und Klimawende. Es gehe im Konkurrenzkampf mit den USA und China um den Aufbau europäischer Champions durch eine ambitionierte Industriepolitik und staatliche Förderung. Die deutsche Bundesregierung versucht, durch inhaltliche Nichtbefassung und durch das finanzpolitische Pochen auf die Maastricht-Regeln den Ansatz zu erledigen.

Die europäische Linke hat dem Ansatz bisher nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, während die Rechte die sozialen Kosten der europäischen Integration in Rechnung stellt und die Stärkung der Nation propagiert. Außenpolitisch bleibt die Linke in ihrer Fixierung auf den US-Imperialismus gefangen und kann in den französischen oder deutschen Bestrebungen einer Umorientierung nur Reform oder Ersatz der amerikanischen Weltpolizisten-Rolle erkennen.

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