6. Juli 2022 Bernhard Müller: Keine Zeiten »für eine tarifpolitische Handbremse«

Aussichten der »Konzertierten Aktion«

Deutschland steht wie alle kapitalistischen Länder im Sommer 2022 vor einer großen Herausforderung, auf die Bundeskanzler Olaf Scholz die Bürger*innen schon mal eingestimmt hat.

Es ist mit einer langanhaltenden Krise mit hohen Preisen zu rechnen. »Die aktuelle Krise wird nicht in wenigen Monaten vorübergehen.« Die Folgewirkungen der Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und der zusammenhängende drastische Anstieg der Lebenshaltungskosten, aber auch die Folgen des Klimawandels führen zu einer erheblichen Beschädigung des gesellschaftlichen Lebensprozesses und bedrohen den Wohlstand vieler Privathaushalte.

Yasmin Fahimi, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), unterstreicht die Sichtweise der organisierten Lohnarbeit: Es müsse vor allem darüber geredet werden, wie Privathaushalte und Betriebe die steigenden Energiekosten stemmen könnten. Man sei sich einig gewesen, dass es keine Lohn-Preis-Spirale gebe, die Inflation also nicht von hohen Löhnen angetrieben werde. »Es geht um die Perspektive 2023 und es geht allem voran darum, jetzt alles zu unternehmen, um eine Rezession zu verhindern, Standorte zu stabilisieren, Wertschöpfungsketten zu erhalten und Beschäftigung zu sichern.«

In der Tat: Sollte es im laufenden Monat gar zu einer Einstellung der russischen Gaslieferungen kommen, ist eine Rezession unvermeidlich.[1] Die Frustration und Verunsicherung größerer Teile der Bevölkerung vor allem über die steigenden Lebenshaltungskosten und die weitere wirtschaftliche Entwicklung drängen mehr und mehr den Ukraine-Krieg als zentrales Nachrichten- und Gesprächsthema in den Hintergrund. Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben mit den drastischen Stimmenverlusten von Sozialdemokratie und Freidemokraten und einem deutlichen Rückgang der Wahlbeteiligung hier schon deutliche Zeichen im politischen Feld gesetzt.

Bundeskanzler Scholz hat zu einer »Konzertierten Aktion« eingeladen, um eine Verständigung über die Folgen der hohen Inflation zu erreichen und über Gegenmaßnahmen zu beraten. Das erste Treffen fand Anfang Juli statt. Geladen waren Vertreter*innen von Gewerkschaften, Arbeitgebern, der Bundesregierung und der Bundesbank sowie Wissenschaftler*innen.

Ziel der Gespräche ist, gemeinsame Instrumente zu entwickeln, um den Preissteigerungen in Deutschland etwas entgegenzusetzen. Geplant ist ein längerer Prozess mit mehreren Treffen. Ergebnisse soll es im Herbst geben. »Wir werden als Land durch diese Krise nur gut durchkommen, wenn wir uns unterhaken, wenn wir gemeinsam uns auf Lösungen einigen«, sagte Scholz. Die Gesellschaft sei viel stärker, als manchmal unterstellt werde. »Wichtig ist mir die Botschaft: Wir stehen zusammen.«

Die DGB-Vorsitzende Fahimi hatte im Vorfeld schon deutlich gemacht, worum es nach ihrer Ansicht gehen muss: »Wir haben eine echte Notlage. Wegen der Gas-Engpässe drohen ganze Industriezweige dauerhaft wegzubrechen: Aluminium, Glas, die chemische Industrie. Ein solcher Kollaps hätte massive Folgen für die komplette Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Deutschland. Schon jetzt treibt die Energiekrise die Inflation in Rekordhöhen, das kommt bei allen Haushalten an. Der soziale Frieden ist bedroht.«

Sie fordert nachhaltige Entlastungen: »Wir erwarten von der Politik ein drittes Entlastungspaket, und zwar explizit auch für diejenigen, die keine Arbeit haben: Rentner, Studierende, Arbeitslose. Es ist doch furchtbar, dass Menschen wegen ihrer Strom- und Gasrechnung überlegen müssen, welches Gemüse sie sich noch leisten können. Wir brauchen dringend einen Energiepreisdeckel für Privathaushalte.« Das würde heißen, dass für jeden Erwachsenen und jedes Kind ein Grundbedarf für Strom und Gas festgelegt wird. Für diese Menge gibt es eine Preisgarantie. Für Energie, die jemand darüber hinaus verbraucht, muss er oder sie mehr zahlen. Damit gibt es eine deutliche Entlastung vor allem für Haushalte mit kleinem Einkommen.

Von dem auch von der Bundesregierung im Vorfeld des Treffens ins Spiel gebrachte Argument, es gelte eine Lohn-Preisspirale zu verhindern, hält selbst der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger wenig: »Löhne sind aktuell kein Inflationstreiber, aber die Menschen spüren die Inflation.« Aktuell seien die Inflationstreiber vor allem auf der Angebotsseite zu finden – insbesondere beim Thema Energie. Ihm sei bei der konzertierten Aktion wichtig, dass die Tarifautonomie nicht angetastet werde. Von der Politik erwartet er allerdings, was sich Arbeitgeber*innen immer wünschen: eine Senkung von Steuern und Sozialabgaben.

ver.di-Chef Frank Werneke schloss eine tarifpolitische Zurückhaltung der Gewerkschaften aus: Es sei »keine Zeit für eine tarifpolitische Handbremse«. Man müsse davon auszugehen, dass die Preise dauerhaft steigen und auf hohem Niveau bleiben. Deshalb müssten auch die Tariflöhne »mit dauerhafter Wirkung« steigen. Es sei das erklärte Ziel der Gewerkschaften, Einkommen ihrer Mitglieder »zu sichern«. Auch IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hat keinen Bedarf an Ratschlägen für tarifpolitisches Handeln aus der Politik.

Die entscheidenden Runden der »Konzertierten Aktion« wird es erst nach der Sommerpause geben – wenn das tatsächliche Ausmaß der Energie- und Preiskrise klarer wird. Das drängendste Problem ist derzeit der Gaspreis. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnte zuletzt vor einer Preisexplosion bei Stadtwerken, falls Russland den Gashahn zudrehen und große Versorger weiter in Not geraten sollten.

Die größten Herausforderungen bei den Preisen aber – so sagte es Scholz vor dem Treffen – dürften erst im nächsten Jahr folgen. »Für dieses Jahr sagen fast alle, die nachgerechnet haben, dass wir bei den unteren und mittleren Einkommen ungefähr 90% der Preissteigerungen durch die vielen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, aufgefangen haben.«


»Unterhaken« galt schon in der Vergangenheit nicht

Schon das ist, folgt man Sozialverbänden und Gewerkschaften, nur begrenzt richtig, denn die in diesem Jahr beschlossenen Entlastungspakete waren weder ökologisch durchdacht (Benzinpreissponsoring) oder hatten z.T. eine soziale Schieflage, da etwa Rentner*innen und Studierende vom Klimageld ausgeschlossen wurden. Mit dem von Scholz vorgeschlagenen »Unterhaken« war es allerdings auch schon bei den für die Bekämpfung der Corona-Pandemie aufgelegten Maßnahmen nicht weit her.

So weist der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem neuesten Armutsbericht[2] darauf hin, dass die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,6% im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht hat. 13,8 Mio. Menschen müssen hierzulande zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Damit fügt sich auch das Jahr 2021 in einen besorgniserregenden Aufwärtstrend der Armutsquoten, der bereits 2006 eingesetzt hat.

»Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie«, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.

Auf die Bedrohung der Lebenslagen bis in die Mittelschicht durch die steigenden Lebenshaltungskosten und die Notwendigkeit weiterer finanzpolitischer Entlastungsmaßnahmen für Privathaushalte[3] weisen auch Sebastian Dullien und Bettina Kohlrausch[4] in einer Studie des IMK hin: Der »sozialpolitische Sprengstoff« sei unübersehbar. Die Rekordinflation setze Haushalte bis in die Mitte der Einkommensverteilung hinein unter Druck. Dieser Druck führe zu einer tiefen Verunsicherung der Gesellschaft, die durch die Corona-Pandemie bereits erschöpft sei. Vermieden werden sollten aber teure Entlastungen mit verteilungspolitisch fragwürdigen Folgen wie etwa eine allgemeine Absenkung der Einkommensteuer.

Rund ein Viertel der in der Erwerbstätigenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung angesprochenen gut 6.200 Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden gab dabei Ende April an, die eigene finanzielle Situation »äußerst stark« oder »stark« belastend zu finden und sich »große Sorgen« um die eigene wirtschaftliche Situation zu machen. Damit seien die Sorgen und Belastungen in Folge von Ukraine-Krieg und Inflation verbreiteter als auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, macht der Vergleich mit vorhergegangenen Befragungswellen deutlich. »Die aktuelle Krise ist somit unmittelbar in den Haushalten spürbar«, betonen die Forscher*innen.

Die Belastungen sind ungleich verteilt, wobei sich stark verteuerte Lebensmittel und gestiegene Energiepreise unterschiedlich auswirken: Während die Energiepreise Haushalte mit niedrigen bis mittleren Einkommen beinahe gleichstark treffen, belasten die teureren Lebensmittel die unteren Einkommen deutlich stärker als die mittleren und oberen. So berichteten von den Befragten mit niedrigeren Haushaltseinkommen bis maximal 2.000 Euro netto monatlich 65 bis 75% von »äußersten« oder »starken« Belastungen durch die gestiegenen Lebensmittelpreise. »Besonders problematisch ist, dass dieser finanzielle Stress vor allem jene Haushalte mit oft ohnehin niedrigen Einkommen trifft, die bereits während der Corona-Pandemie überdurchschnittlich häufig Einkommenseinbußen hinnehmen mussten«, sagt WSI-Direktorin Kohlrausch.

Die großen finanziellen Belastungen der unteren Einkommensgruppen »schlagen als gesamtgesellschaftliche Vertrauenskrise auf«. Das Vertrauen in die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft, die dargestellten finanziellen Belastungen aufzufangen und gerecht zu kompensieren, sei gering. So stehen Sorgen um eine Zunahme der sozialen Ungleichheit und um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft nach Ängsten vor einer Eskalation des Ukraine-Krieges und Sorgen um die Inflation weit vorne im Ranking der Befragten. Knapp ein Drittel stimmte der Aussage zu, dass »sie sich vom Staat nicht ausreichend unterstützt fühlen« und ein ebenso großer Anteil ist überzeugt, dass die Einkommensverteilung in Deutschland durch den Ukraine-Krieg noch ungleicher wird. Ein Viertel der Befragten teilte die Befürchtung, »dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet, dass sie Gefahr läuft daran zu zerbrechen«.

Nur ein knappes Viertel der befragten Erwerbspersonen äußerte sich im April »zufrieden« oder »sehr zufrieden« mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung. »Die aktuell weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem Management der Kriegsfolgen ist somit offenbar vor allem von Sorgen um soziale und finanzielle Fragen getrieben«. Es gehe bei der Umsetzung »zielgenauer Entlastung somit nicht nur um schnelle und dringend notwendige Hilfen für untere und mittlere Einkommen, sondern auch um den Beweis der Handlungsfähigkeit des Staates beziehungsweise der Bundesregierung sowie den Nachweis, dass es gelingt diese Krise gerecht und mit Respekt vor den Schwächsten der Gesellschaft zu bewältigen«, lautet ihr Fazit zum aktuellen gesellschaftlichen Klima.


Was tun?

Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage und appelliert an die Bundesregierung, umgehend ein weiteres Entlastungspaket auf den Weg zu bringen, das bei den fürsorgerischen Maßnahmen ansetzt: Grundsicherung, Wohngeld und BAföG seien bedarfsgerecht anzuheben und deutlich auszuweiten, um zielgerichtet und wirksam Hilfe für einkommensarme Haushalte zu gewährleisten.

Er kritisiert insbesondere das jüngste Entlastungspaket: »Pandemie und Inflation treffen eben nicht alle gleich. Wir haben keinerlei Verständnis dafür, wenn die Bundesregierung wie mit der Gießkanne übers Land zieht, Unterstützung dort leistet, wo sie überhaupt nicht gebraucht wird und Hilfe dort nur völlig unzulänglich gestaltet, wo sie dringend erforderlich wäre«, so Schneider. Nur zwei Mrd. Euro des insgesamt 29 Mrd. Euro schweren Entlastungspakets seien als gezielte Hilfen ausschließlich einkommensarmen Menschen zugekommen, kritisiert der Verband. Dazu würden die Einmalzahlungen durch die Inflation »aufgefressen«, noch bevor sie überhaupt ausgezahlt sind.

Gefordert wird umgehend ein neues Maßnahmenpaket, das bei den fürsorgerischen Leistungen ansetzen müsse, konkret den Regelsätzen in der Grundsicherung, bei Wohngeld und BAföG: »Wir brauchen dringend ein weiteres Entlastungspaket, eines das zielgerichtet ist, wirksam und nachhaltig«, so der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen. »Grundsicherung, Wohngeld und BAföG sind nach unserer Auffassung die wirksamsten Hebel, um schnell zu einer Entlastung unterer Einkommen zu gelangen, die nachhaltig wirkt und nicht nach kurzer Zeit wieder verpufft. Es geht darum unsere letzten Netze sozialer Sicherung wieder höher zu hängen.«

Neben dem Höherhängen der letzten Netze sind Maßnahmen, wie der von DGB-Chefin Fahimi vorgeschlagene Gaspreisdeckel, sicherlich zwingend erforderlich. Und man muss die Gewerkschaften dabei unterstützen, über Lohnerhöhungen die Folgen der steigenden Lebenshaltungskosten abzumildern. Darüber hinaus aber geht es aber auch um weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen, um die drohende Rezession mindestens abzupuffern. Schließlich steht auch noch die Herausforderung, die sozial-ökologische Transformation zu beschleunigen, auch um dem Klimawandel zu begegnen. Das Alles kostet viel Geld.

Der Kampf gegen die Kaufkraftverluste und die sich abzeichnende Rezession wird von Uneinigkeit innerhalb der Ampel-Koalitionäre gebremst. Die FDP hat ihre spezifische Auffassung zur anstehenden Herausforderung: Inflation bekämpfe man nicht mit höheren Steuern und höheren Staatsausgaben, sondern mit einer soliden Finanzpolitik. »Das bedeutet: die Rückkehr zur Schuldenbremse.« Die Kombination aus Steuererhöhungen und zusätzlicher Verteilungspolitik auf Pump »wäre toxisch und ein Verarmungsprogramm«, meint FDP-Chef Christian Lindner. Keine guten Aussichten für eine »Konzertierte Aktion«.

Anmerkungen

[1] Zur wirtschaftlichen Entwicklung im Detail siehe Joachim Bischoff, Zäsur für die kapitalistischen Wirtschaften und die Finanzmärkte, in: Sozialismus.de, Heft 7/8-2022.
[2] Der Paritätische Gesamtverband, Zwischen Pandemie und Inflation. Paritätischer Arbeitsbericht 2022, Juni 2022.
[3] Siehe dazu auch Bernhard Müller, Inflation als Treibsatz sozialer Konflikte, in: Sozialismus.de, Heft 7/8/2022.
[4] Sebastian Dullien, Bettina Kohlrausch, Konzertierte Aktion: Weitere Entlastung für Privathaushalte notwendig, IMK Kommentar Nr.7, Juli 2022.

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