11. Januar 2023 Bernhard Sander: Frankreichs Linke vor keinen guten Aussichten

Bedingt einsatzfähig

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat angekündigt, die Rentenreform in diesem Jahr durchzusetzen, die er zu Beginn der Pandemiekrise auf Eis gelegt hatte. Er versucht deshalb, mit den rechts-konservativen Republikanern (LR) einen Kompromiss zu finden.

Macron muss diesen Deal eingehen, weil er im Parlament keine eigene Mehrheit besitzt und bisher nur mit dem Notstandsparagraphen 49.3 der Verfassung wesentliche Gesetze wie den Haushalt über die Ziellinie brachte. Die französische Linke befindet sich nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen im vergangenen Sommer nicht in der Verfassung, dem etwas entgegenzusetzen.

Entweder finden die eigenen Misstrauensanträge bei den Nationalen-Sozialen vom Rassemblement National (RN) hinter Marine Le Pen keine Unterstützung, oder deren Misstrauensanträge können wegen der darin eigebauten fremdenfeindlichen »Nationalen Präferenz« von der Linken nicht mitgetragen werden.

Darüber ist es nun mehr und mehr zum Streit gekommen, der als ideologischer Selbstfindungsprozess sowohl des gesamten Oppositionsbündnisses NUPES (neue soziale und ökologische Volks-Union) als auch innerhalb der sie konstituierenden Parteien eskaliert.


Das unbeugsame Frankreich (LFI)

Nach der Verurteilung von Adrien Quatennens, der bisherigen rechten Hand von Jean-Luc Mélenchon, wegen ehelicher Gewalt und dem Ausschluss anderer »historischer« Führungsgestalten (die Abgeordneten der »alten Garde« Clementine Autain, Alexis Corbière, Raquel Garrido) aus dem neuen Leitungsgremium, fordern nun umgekehrt immer mehr Militante der Bewegung, den früheren Kronensohn Mélenchons dauerhaft aus der Fraktion auszuschließen. 20 der 800 LFI-Aktionszellen sind dafür in den »Streik« getreten. Der Abgeordnete, der für vier Monate aus der Fraktion ausgeschlossen wurde mit der »Gelegenheit, sich in feministischen Organisationen einem Praktikum zur Verantwortlichkeit zu unterziehen«, verstoße gegen das Programm, das sich dem Kampf gegen Sexismus und sexuelle Gewalt verpflichtet habe.

Im Kern verbirgt sich in diesem Streit eine Konfrontation zwischen der Partei in der Nationalversammlung, wo La France insoumise neben den anderen NUPES-Partnerorganisationen die stärkste Fraktion stellt, und der ursprünglichen Sammlungsbewegung LFI, wie sie von Mélenchon aufgebaut wurde. Mehr als 50% der Mitglieder des Leitungsgremiums, das von einem nicht durch eine Satzung legitimierten Kreis von 160 Aktivist*innen gewählt wurde, sind neu.

In der Fraktion selbst gibt es Streit zwischen Autain, die sich als »Ökosozialistin« versteht und Francois Ruffin (ebenfalls Mitglied der Nationalversammlung), der sich selbst als »sozial und demokratisch« bezeichnet. Autain bezeichnet die »Kooptation von Höflingen« im neuen Koordinationskreis von LFI um Manuel Bompard als Methode, »Kritik zum Schweigen zu bringen«.

Die Partei, die keine sein will und keine formelle Mitgliedschaft kennt, will sich institutionalisieren, indem sie in Départements, in denen die Linke das Mandat knapp verfehlt hat, Parteilokale eröffnet und eine nationale und lokale Kassenführung auf Spendenbasis einführt. Für künftige Kader soll es einen einjährigen Bildungskurs beim Institut La Boetie geben, das von Mélenchon zusammen mit der Abgeordneten Clémence Guetté geleitet werden soll.

LFI will sich in den Basisstrukturen der ökologischen Jugendbewegungen vernetzen und mit spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit generieren. Die Militanten (aktive Mitglieder) der anderen NUPES-Partnerorganisationen sollen einbezogen werden, um an der Basis zu einer Amalgamierung zu kommen.

Der Abgeordnete Gabriel Amard mahnte, die nächste Sitzung der Parteileitung sei im Juni, bis dahin werde der Koordinierungskreis arbeiten und die Fraktion solle gemäß den parlamentarischen Modalitäten arbeiten. Autain mahnt zwar ebenfalls zur Geschlossenheit angesichts der Gefahr durch die extreme Rechte und der Auseinandersetzungen in den anderen linken Parteien und der Parteitage von PS und PCF über ihr Verhältnis zu NUPES, doch geht der Streit weiter.

Der frühere Vorsitzende der Linkspartei (PG), Eric Coquerel, Vorsitzender des Finanzausschusses im Parlament, wünscht, dass alle Strömungen in der Leitung vertreten sein müssten, greift aber Bompard, den er als großen Organisator lobt, nicht direkt an. Ohnehin hat der neu geschaffene politische Rat nur beratende Funktion, aber wen oder was beraten wird, bleibt unklar.

Coquerel, der in der trotzkistischen LCR sozialisiert wurde und Geschichtsprofessor ist, will der Bewegung nach den erfolgreichen Wahlen einen »beständigeren Rahmen geben«. Doch bleibt er bei der Kritik, die über lange Jahre entwickelte Konzentration der Entscheidungsprozesse bei den »historischen Persönlichkeiten« behindere die Meinungsbildung in der Partei. Es gehe nicht um das Fehlen des einen oder der anderen, sondern darum, dass 18 der 21 Mitglieder des neuen Gremiums aus der Fraktion kommen »mit einem ähnlichen soziologischen Profil«. Warum habe man nicht mehr nach einer »sozialen Parität« gesucht? Mit Leuten aus dem ländlichen Frankreich, den benachteiligten Vierteln, gewerkschaftlich Aktiven, also Leuten aus den »Classes Populaires«, den kleinen Leuten, »die unsere Wählerschaft bilden. Nur durch offene Diskussion lassen sich interne Spannungen überwinden.«


Grüne und Sozialisten

Über die Grünen ist an dieser Stelle bereits berichtet worden. Anfang des Jahres flog dann die NPA auseinander, die aus der trotzkistischen LCR nach dem Erfolg ihres Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 2007 entstanden war und von einzelnen deutschen Linke-Funktionären als Vorbild angepriesen wurde. Es ging um den Ukraine-Krieg, die Wahlbeteiligung und die Öffnung zu LFI. Von den ursprünglich 8.000 Mitgliedern blieben nach der x-ten Strömungsabspaltung noch 1.000 übrig.

Die Sozialisten (PS), die Partei François Mitterrands, holte bei den letzten Präsidentschaftswahlen gerade noch 1,75% der Stimmen und reihte sich daraufhin in die NUPES ein. Der Chef dieser Operation, Olivier Faure, muss nun auf dem Parteitag Ende Januar mit zwei Gegenkandidaturen rechnen, die dieses Bündnis aufkündigen wollen: die Bürgermeisterin des Lyoner Vorts Vaulx-en-Velin, Hélène Geoffroy, und der Bürgermeister der Großstadt Rouen, Nicolas Mayer-Rossignol. Teile der Partei waren schon in der ersten Amtszeit zum ehemaligen PS-Minister Macron gewechselt.

Am ebenfalls ehemaligen PS-Minister Mélenchon entzündet sich die Kontroverse, dessen konfrontativer Stil den verbliebenen neoliberal gefärbten Sozialdemokraten bei ihrem Versuch, unzufriedene Macron-Wählerschaft zurückzugewinnen, nicht passt. Daher agitiert man gegen Faure, der seit dem Wahlkampf im letzten Jahr die Rückkehr zur Rente mit 60 Jahren (bei 43 Beitragsjahren) fordert – im Gegensatz zu seinen Konkurrent*innen, die bei 62 Jahren bleiben wollen. Macrons Gesetzes-Projekt sieht einen Anstieg auf 64 Jahre 2030 vor.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Wiedereingliederung nicht geimpfter Kräfte in den notorisch unterbesetzten Pflegedienst der Krankenhäuser. Faure unterstützt den Gesetzesvorschlag von LFI, während seine Mitbewerber*innen strikt dagegen sind. Bei der Anhebung des Mindestlohns auf 1.600 Euro, den Hilfen für die Ukraine und der Migrationskontrolle ist das Bewerber-Trio sich weitgehend einig.

Da der Widerstand gegen Faure vor allem aus den Reihen der Kommunalpolitiker kommt, will Faure die Bürgermeisterin von Nantes zu seiner Stellvertreterin machen, um so seine Wiederwahl Ende Januar zu sichern. Da die Grünen auf ihrem Parteitag bereits eine gemeinsame Liste mit LFI bei der Europawahl ausgeschlossen haben, sieht auch Faure keinen Grund mehr für solches Projekt; damit fällt zwar der Widerstand in der PS in sich zusammen, aber für die französische Linke insgesamt sind dies keine guten Aussichten.

 

Die kommunistische Partei und die Zukunft von NUPES

Denn auch in der kommunistischen Partei tobt über die Frage der Eigenständigkeit ein intensiver Kampf, der seinen vorläufigen Höhepunkt darin gefunden hat, dass gegenüber den langjährigen Gepflogenheiten nicht nur der vom Vorstand durchgeboxte Leitantrag dem Parteitag vorliegen wird, sondern sich digital der unterlegene Entwurf Unterstützung organisiert. Der Parteivorsitzende Fabien Roussel, mit einem Walergebnis von 2,3% im Rücken ebenfalls nur noch ein Schatten seines großen Vorbildes George Marchais, konnte sich im früher Zentralkomitee genannten nationalen Leitungsgremium mit 84 gegen 55 bei fünf Enthaltungen durchsetzen, aber die Abstimmungen in den Basis-Zellen zeigen ein knapperes Bild.

Roussel hatte im vergangenen Jahr versucht, gegenüber dem Wokismus in seiner Partei Profil zu gewinnen als er »einen guten Wein, gutes Fleisch und guten Käse« als Errungenschaften Frankreichs lobte und über die »Beihilfe-Linke« (»gauche des allocs«) herzog. Roger Martelli kommentiert den in der Geschichte der Partei einmaligen Vorgang als »Bruch in der Parteikultur mit völlig offenem Ausgang«, deshalb soll er an dieser Stelle ausführlich zu Wort kommen.

»Die Gründung der NUPES war trotz allem ein frischer Wind in einer Linken, die durch zu viele Jahre der sozialliberalen Versuchung und Regierungszeit blutleer geworden war. Heute sind ihre linksten Komponenten die vernehmlichste Stimme, nicht nur in der Nationalversammlung. Ein Auseinanderbrechen dieses Rahmens wäre daher ein Rückschritt, den zu verhindern nicht vernünftig wäre. Doch ist die Geschichte der Linken seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch eine Geschichte der selbstverschuldeten Niederlagen, die vom Spiel der Parteiidentitäten, dem Geist der Hegemonie, der Verschärfung von Unterschieden und einer Spirale des Misstrauens gekennzeichnet blieb.

Die heutigen Herausforderungen für die soziale Transformation sind gigantisch: Es gilt in den eigenen Reihen der Besessenheit von der eigenen Identität entgegenzuwirken, indem man die Gleichheit stärkt und modernisiert, die Verbindungen zwischen sozialer Kampfbereitschaft und politischen Konstruktionen neu knüpft, die Linke und die Bevölkerungsschichten versöhnt, die organisierte politische Aktion neu legitimiert, jedem Programm und jedem Vorschlag den Atem eines alternativen Projekts verleiht, jede Banalisierung der extremen Rechten zurückweist. Weder die als ›populistisch‹ geltenden Auswüchse, die die LFI versucht haben, noch die Identitätskrise der PCF, noch das Schwanken zwischen Bruch und Anpassung, das die Sozialisten und die Grünen erlebt haben, haben es vermocht, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Es ist besser, sich von Anfang an davon zu überzeugen, dass dies auch in Zukunft nicht möglich sein wird.

Auch die Addition der einzelnen Komponenten reicht nicht aus. Bis heute ist die NUPES, wie die frühere Linksfront, ein Kartell, das die Umstände um die parlamentarische Arbeit herum strukturiert haben. Damit die NUPES zu einer dauerhaften und populären Realität werden kann, darf man eine wichtige Tatsache nicht ignorieren: Historisch gesehen gibt es die Linke immer im Singular und im Plural – ›die‹ Linke und ›die‹ Linken. Es ist schwierig, ihre Einheit – ohne die keine Mehrheit möglich ist – herzustellen und gleichzeitig ihre Vielfalt – ohne die jede Dynamik ins Stocken gerät – zu respektieren. Soll die NUPES also der Ort sein, an dem die gesamte Linke organisiert wird, und wie kann man in diesem Fall verhindern, dass sie unter die Vorherrschaft einer einzelnen Partei gerät? Oder soll sie vor allem der Ort sein, an dem eine weiter linksstehende Linke, eine Linke des Bruchs, zusammenkommt, und was geschieht dann mit dieser ›anderen Linken‹, die historisch gesehen ihr Gegenstück war?«[1]

Es gehe heute nicht darum, »zwischen verschiedenen Fraktionen des ›Volkes‹, zwischen Ausgebeuteten und Diskriminierten, zwischen sozialen und gesellschaftlichen Forderungen, zwischen den als geschützt geltenden und den prekarisierten Menschen, zwischen den ›In‹ und den ›Out‹, zwischen dem großstädtischen Zentrum und den fernen Randgebieten zu wählen. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, das zusammenzuführen, was nicht mehr zusammengehört, damit die Ausgebeuteten – Beherrschten – Entfremdeten sich zu einer kämpfenden Menge und dann zu einem politischen Volk mit Mehrheitsanspruch formieren können. Das wird nicht gelingen, wenn man hier und da damit beginnt, die Augen zu verschließen, die für diesen oder jenen Widerspruch in der Realität besonders empfänglich sind. […]

Es stimmt, dass es nicht einfach ist, einen dauerhaften Weg zu finden, Vielfalt und Kohärenz miteinander zu verbinden und dabei sowohl vom Einstimmigkeitsprinzip als auch von der Parzellierung der Kapellen abzuweichen. In der Tat ist dies weder der traditionellen Parteikultur noch der Anrufung der ›Bewegung‹ gelungen. Aber mit alten Annahmen und vermeintlich bewährten Kulturen kommt man nicht weiter. Und auf jeden Fall nicht, indem man die Forderungen nach einer größeren Offenheit gegenüber der Vielfalt von vornherein delegitimiert.

Wie auch immer die Antwort auf diese allgemeinen Fragen ausfallen mag, sie wird von einem doppelten strategischen Fortschritt abhängen: einerseits von der immer entscheidenderen Neuartikulation der praktizierten Sozialkritik und des eigentlichen politischen Feldes; andererseits von der Erprobung dauerhafter politischer Organisationsformen, die die doppelte Krise der ›Parteiform‹ und des ›Mouvementismus‹ (der Bewegungslinken – B.S.) überwinden.«[2]

Anmerkungen

[1] Roger Martelli, Réflexions pour toute la gauche - regards.fr.

Martelli, der früher selbst Mitglied in der nationalen Leitung des PCF gewesen ist, reflektiert an dieser Stelle seine eigene Lage damals folgendermaßen: »Hier kann die kritische Reflexion der Geschichte von Nutzen sein, zwar nicht, um fertige Lösungen zu finden, aber zumindest, um Wege zu formulieren und Fallen zu vermeiden. Nehmen wir zum Beispiel die Kommunistische Partei Frankreichs, die die Linke von der Befreiung bis in die 1970er Jahre dominierte. Sie galt lange Zeit als das Modell einer Massenpartei und wies viele ihrer Qualitäten auf: ihre dichte Zusammensetzung aus der Bevölkerung, ihre kohärente Aktion über ausreichend lange Zeiträume, ihre Sorgfalt in der Erziehung der Militanten (aktiven Mitglieder), ihre Aufmerksamkeit für Ideologie und Symbolik, die Vielfalt ihrer militanten Praktiken in Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Kultur. Aber diese Qualitäten wurden auch von ihrem Gegenteil negiert: die Weltanschauung wurde zu einer geschlossenen Doktrin herabgestuft; die Kohärenz wurde in ein unendlich reproduzierbares Modell verwandelt; die Bindung an die Partei wurde zur Besessenheit einer Identität, die im Register der Differenz gelebt wurde; die Angst vor Dissidenz wurde durch die Formel legitimiert, dass ›die Partei immer Recht hat‹; die allgemeine Undifferenziertheit der Organisation (das Kollektiv hat Vorrang vor dem Individuum); die Verwechslung zwischen der Partei und ihrem Apparat, ja sogar zwischen dem Apparat und dem ersten Führer. Wer kann heute sagen, dass er die Qualitäten verkörpert und von Natur aus gegen diese Fehler gefeit ist?

Viele Jahre lang habe ich das Leben der kommunistischen Aktivisten geteilt und an ihren Führungen teilgenommen. Innerhalb der Partei habe ich zusammen mit anderen lange versucht zu erklären, dass die KPF, wenn sie auf ihren Funktions-, Denk- und Handlungsweisen beharrt, Gefahr läuft, die sich vollziehenden gewaltigen sozialen Veränderungen zu verkennen, und dass sie dadurch verkümmern, geschwächt und sogar marginalisiert werden könnte. Ich erlebte das, was ich als Misstrauen und sogar Feindseligkeit empfand, mehr als mir lieb war. War ich nicht ein Spielball des Klassengegners? Wäre es nicht besser gewesen, den Optimismus der Aktivisten zu stärken, um den kollektiven Kampfgeist zu nähren, als sie zu beunruhigen? War es besser, die Existenz von Sensibilitäten in der Partei zu institutionalisieren, wie es in der Praxis üblich ist?

Mehr als mir lieb war, erlebte ich das, was ich als Misstrauen oder gar Feindseligkeit empfand. Habe ich nicht dem Klassengegner Sand in die Augen gestreut? Wäre es nicht besser gewesen, den Optimismus der Aktivisten zu stärken, um den kollektiven Kampfgeist zu nähren, als sie zu beunruhigen? Hätte man die Existenz von Sensibilitäten in der Partei institutionalisieren sollen, wie es in der politischen Gesellschaft üblich ist? Hieß das nicht, den Finger in eine Logik der Tendenzen zu legen, die die militante Einheit zugunsten von kleinen Klüngeln beeinträchtigt, die quasi als Parteien funktionieren und schließlich das gemeinsame Interesse zugunsten des Interesses der besonderen Kaste vergessen? Das Spiel der Tendenzen wurde mit der sozialdemokratischen Kultur und dem Lehramt der Schönredner gleichgesetzt. Die Aktionspartei der Revolutionäre, die vor oder auf Effizienz bedacht war, musste andere Methoden und Funktionsweisen haben als die, die das allgemeine gesellschaftliche Leben bestimmen [...]

Diese Kultur hat ihre Wurzeln in der Zeit der europäischen Bürgerkriege, als Lenins erste Statuten der Kommunistischen Internationale im Juli 1920 feststellten, dass die Partei ›ihre Rolle nur erfüllen kann, wenn sie auf die zentralisierteste Weise organisiert ist, wenn in ihr eine eiserne, an militärische Disziplin grenzende Disziplin zugelassen ist und wenn ihr Zentralorgan mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet ist, eine unbestrittene Autorität ausübt und das einhellige Vertrauen der Aktivisten genießt‹. Dabei wurde übersehen, dass diese Sorge um Einstimmigkeit nach und nach dazu geführt hatte, dass die Leidenschaft für Kohärenz in Konformität und Gehorsam umschlug. So konnte die tatsächliche Macht von den Aktivisten auf die kollektive Führung und dann auf den ersten Führer übergehen, der schließlich durch aufeinanderfolgende Schritte der Legitimste war, um die Doktrin zu verkünden, die Strategie zu formulieren, die politische Linie festzulegen und vor allem zu entscheiden, wann der Zeitpunkt gekommen war, von einer Linie zu einer anderen überzugehen, die der vorherigen möglicherweise widersprach.

Dies ist die Erfahrung, die ich gemacht habe. Ich glaube nicht, dass meine damaligen Bedenken unbegründet waren. Ich mache daher keinen Hehl aus meinem Erstaunen und meiner Angst, dass sich dieselbe Kultur in einem anderen Kontext und innerhalb anderer Kräfte als selbstverständlich durchsetzen könnte.

Es wurde angenommen, dass diese Art, den Aufbau eines kollektiven Willens zu betrachten, eine Quelle der Effizienz sei. Durch die extreme Konzentration der Handlungsrichtung, das Misstrauen gegenüber abweichenden Gedanken und die Sorge, sie zu bekämpfen, bevor man überhaupt versteht, was sie motiviert, war es unmöglich, das Körnchen Wahrheit zu erkennen, das sich im Kern eines Vorschlags befinden könnte, selbst wenn seine Bedingungen am Ende nicht beibehalten wurden. In einer stets widersprüchlichen Realität führte dieses Vergessen oft zu plötzlichen Umschwüngen angesichts von Entwicklungen, die der Führungskern nicht immer oder nicht ausreichend wahrnahm. Vor allem aber erschöpfte es die Aktivisten selbst und entfernte auf Dauer die Vertreter der zurückgewiesenen Standpunkte, die zur Unterwerfung, zur Resignation oder zum Zynismus gezwungen wurden und ständig erklären mussten, dass ihre Kritik die Einheit der Gruppe nicht in Frage stellte und keine Hintergedanken enthielt, die die in jeder Hinsicht überlegene Legitimität der gewählten Aktivistengemeinschaft beeinträchtigen würden.«

[2] Roger Martelli a.a.O.

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