10. Juli 2024 Friedrich Steinfeld: Ein neuer Präsident im Iran

Begründete Hoffnungen auf Reformen?

Aus den wegen des Todes von Ebrahim Raisin vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im Iran ging der gemäßigte Politiker Masud Peseschkian als Sieger gegen seinen erzkonservativen Konkurrenten Said Jalili, einem Kandidaten der Sicherheitskräfte, hervor.

Ein »Reformer« als Wahlsieger

Im Mai war der iranische Präsident Raisi bei einem Hubschrauberabsturz getötet worden. Er galt als aussichtsreicher Nachfolgekandidat des gesundheitlich angeschlagenen 81-jährigen Ayatollah Ali Khamenei, des obersten Führers des religiös-politischen Herrschaftssystems im Iran. Der Großteil der iranischen Bevölkerung, der seiner Wahl zum Präsidenten vor drei Jahren ohnehin ferngeblieben war, dürfte dem 63-Jährigen keine Träne nachgeweint haben. Raisi war u.a. als Generalstaatsanwalt des Iran für Todesurteile gegen ungezählte Regimegegner mitverantwortlich.

Der jetzt gewählte Masud Peseschkian kandidierte bereits 2021 für die Präsidentschaft, wurde jedoch seinerzeit vom sogenannten Wächterrat, der die Kandidaten prüft und die Wahlen überwacht, disqualifiziert. Er dankte jetzt dem obersten Revolutionsführer, dass dieser nun die Wahlen für mehr Wettbewerb und Wählerbeteiligung geöffnet habe.

Peseschkian ist nach Mohammed Khatami und Hassan Rohani der dritte moderate Präsident in der Geschichte der Islamischen Republik. Der 69-jährige Herzchirurg aus der nordiranischen Stadt Mahabad war Gesundheitsminister unter dem Reformpräsidenten Khatami gewesen und ist mehrfach als Abgeordneter ins iranische Parlament gewählt worden.

Dass Peseschkian jetzt antreten durfte, hängt wohl auch mit der immer weiter gesunkenen Wahlbeteiligung der letzten Jahre zusammen. Denn dieser Trend signalisiert einen massiven Legitimationsverlust des Mullah-Regimes. Der Sieg gelang allerdings erst in einer Stichwahl, in der er sich mit 16,3 Mio. zu 13,5 Mio. Stimmen gegen den ultrakonservativen Hardliner durchsetzte. In der ersten Runde hatte es bei einer Wahlbeteiligung von knapp 40% keiner der Kandidaten geschafft, die benötigte absolute Mehrheit zu erzielen.

Die Wahlbeteiligung lag in der Stichwahl bei knapp 50%, immerhin eine deutliche Steigerung gegenüber der Vorrunde, und auch gegenüber den letzten Parlamentswahlen und der Wahl eines Expertenrates (der im Todesfall den Nachfolger des Obersten Religionsführers bestimmt) im März dieses Jahres, wo die Wahlbeteiligung laut offiziellen Angaben mit 41% auf einem historischen Tiefstwert gelandet war (2020 waren es knapp 43%). Die Zahlen zu den Wahlbeteiligungen beruhen auf offiziellen Angaben des Regimes, ob sie zutreffend sind, wird von Regime-Kritiker*innen angezweifelt.

Die jetzt um 10% gestiegene Wahlbeteiligung zeigt, dass es Peseschkian gelungen ist, zumindest teilweise an den wachsenden Unmut in der iranischen Bevölkerung über das Mullah-Regime anzuknüpfen. Im Wahlkampf forderte er bessere Beziehungen zum Westen und plädierte für eine pragmatische Außenpolitik. Innenpolitisch tritt er für mehr gesellschaftliche Freiheiten sowie mehr Rechte für Frauen und Minderheiten ein. 2022 hatte er als einziger Parlamentsabgeordneter die Sicherheitskräfte kritisiert, als diese mit brutaler Gewalt gegen die Proteste – bekannt als »Frau, Leben, Freiheit«-Bewegung – vorgingen, die nach dem gewaltsamen Tod der kurdischen Studentin Mahsa Amini im Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei ausgebrochen waren. Er forderte eine Untersuchung der Todesursache der Studentin.

Peseschkian sprach sich wiederholt gegen die gewaltsame Durchsetzung des Hijab-Gesetzes aus, ohne jedoch die obligatorische Hijab-Pflicht selbst in Frage zu stellen. In seiner Wahlkampagne stellte er sich als Vertreter der Protestbewegung dar. Die Opposition erinnerte an ein Interview von 2014, in dem er mit Stolz sagte, bereits einen Monat nach der Revolution 1979 in dem Krankenhaus, in dem er arbeitete, das Tragen des Hijab obligatorisch gemacht und Frauen ohne Hijab entlassen zu haben.

Der neu gewählte Präsident, der in der kurdischen Stadt Mahabad im Westen Irans geboren wurde, aber aserbaidschanische Wurzeln hat, konnte durch die Betonung seiner Herkunft einen Teil der Stimmen der Aserbaidschaner*innen gewinnen, die sich aufgrund ethnischer Diskriminierung benachteiligt fühlen. Während seiner Wahlkampagne sprach er in den aserbaidschanischen Städten nicht Persisch, sondern Aserbaidschanisch.

Gleichzeitig gab sich Peseschkian aber auch stets als treu ergebener Anhänger des Revolutionsführers Khamenei und äußerte sich lobend über die Revolutionswächter – jene Garde, die als »Staat im Staate« das Militär und große Teile der Wirtschaft des Landes kontrolliert und sich darüber refinanziert sowie die Sicherheits- und die Außenpolitik des Landes maßgeblich bestimmt. Er stellte sich zudem hinter den iranischen Drohnen- und Raketenangriff auf Israel im April. Möglicherweise gelang es ihm so, auch Stimmen aus dem konservativen Lager zu gewinnen.

Die auf knapp 50% gesteigerte Wahlbeteiligung macht allerdings auch deutlich, dass eine Mehrheit der Wahlberechtigten der Wahl fernblieb und in Peseschkian keine wirkliche Reformalternative zum Regime sah. Nach den gescheiterten Reformversuchen der vergangenen Jahre haben sich viele, vor allem junge Menschen von der Politik abgewandt und glauben auch nicht mehr an substanzielle Reform-Fortschritte innerhalb des erstarrten politisch-religiösen Herrschaftsgefüges.


Bleierne Stimmung im Land

Die innenpolitische Situation in Iran wirkt nur äußerlich stabil. Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung würde – wenn sie es denn könnte – die Islamische Republik abschaffen. Rund 90% der Bevölkerung sollen laut einer geleakten Umfrage des Regimes unzufrieden mit dem politischen System sein. Das zeigten nicht zuletzt die langanhaltenden landesweiten Proteste infolge des Todes von Mahsa Amini im September 2022, die das Regime mit allen Mitteln niederknüppelte. Trotzdem halten sich vor allem jüngere Frauen immer weniger an den Schleierzwang, müssen dafür aber nach wie vor mit Verhaftungen, Folter und Gefahr für das eigene Leben durch die Sitten-Polizei rechnen.

Für die massive Unzufriedenheit der iranischen Bevölkerung mit dem Mullah-Regime sind nicht nur die fehlende politische Freiheit und die massive Unterdrückung der Frauen verantwortlich, sondern vor allem auch die schlechte wirtschaftliche Situation und die miese soziale Lage der breiten Masse der Iraner*innen. Wahlsieger Peseschkian hatte die soziale Verschlechterung in einer Wahlkampfrede in einem Vergleich mit der Zeit des Schahs zum Ausdruck gebracht: Er habe seinerzeit als einfacher Soldat Wehrdienst geleistet und sich von der Hälfte seines Soldes ein Motorrad kaufen können. Heute könne er sich selbst als Herzchirurg von dreien seiner Monatsgehälter kein Motorrad leisten.

Einige Tage vor Beginn des Wahlkampfes hatte der iranische Wirtschaftsverband in einer Stellungnahme zu den Präsidentschaftskandidaten 20 ökonomische Probleme aufgelistet, vor allem:

  • den drastische Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens;
  • die Arbeitslosigkeit. Gerade die Jugendarbeitslosenquote im Iran ist seit Jahren hoch.
  • die zweistellige Inflationsrate, die bei manchen Lebensmitteln 80 % erreicht;
  • die Blockade bzw. den beschränkten Zugang zu den sozialen Netzwerken, was nach Schätzung eines Experten bereits in 2022 einen wirtschaftlichen Schaden von 773 Mio. US-Dollar verursacht hat.

Schätzungen des Statistikzentrums zufolge ist der Anteil der Männer auf dem iranischen Arbeitsmarkt mehr als fünfmal so hoch wie der der Frauen, obwohl nach offiziellen Angaben fast 70% der weiblichen Arbeitssuchenden über eine Hochschulausbildung verfügen, während dieser Anteil bei den Männern bei rund 25% liegt. Allein schon aus wirtschaftlicher Sicht stellt dieses krasse Ungleichgewicht der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt eine enorme Verschwendung weiblicher Potenziale dar.

Dass tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit wird vom Machtapparat durch die Ausblendung bestimmter Arbeitslosengruppen und die künstliche Aufblähung von Beschäftigung verschleiert. Die offiziell angegebene Arbeitslosigkeit lag im April bei 8,6%. Offiziell gilt im Iran nur als arbeitslos, wer nachweislich nach Arbeit sucht. Das Heer der Menschen, die die Suche nach einer Arbeit aufgegeben haben und sich nicht mehr bei Ämtern und Firmen melden, aber auch derjenigen, die illegal arbeiten oder von ihren Familien unterstützt werden, wird nicht erfasst.

7,5 Mio. Menschen arbeiten weniger als 24 Stunden pro Woche. Dabei werden Jobs ab einer Stunde wöchentlich berechnet. Laut Expert*innen nimmt ein Großteil der Beschäftigten im Iran minderwertige, kleine und ertragsschwache Jobs an, die bei jedem wirtschaftlichen Einbruch vernichtet werden können. Besonders Frauen der ärmeren Schichten werden in dieser äußerst prekären Form ausgebeutet. Die meisten von ihnen seien nicht einmal krankenversichert und verarmten immer mehr.

Als Ursachen für die wirtschaftliche und soziale Misere wurden vom Wirtschaftsverband die beständig weiter um sich greifende Korruption und die Konzentration von Macht und Geld in wenigen Händen (Stichwort: Revolutionswächter) benannt. Die Lösung dieser Probleme könne nur in der Aufhebung der internationalen Sanktionen und im Abbau der Spannungen mit der Weltgemeinschaft liegen.


Welche Spielräume bestehen für Veränderungen
?

Auf den Wahlsieger warten enorme Herausforderungen. So steckt Iran seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise und leidet vor allem unter dem wirtschaftspolitischen Missmanagement des Regimes, der fehlenden politischen Freiheit und der massiven Unterdrückung von Frauen, aber auch unter den westlichen Wirtschaftssanktionen (einschließlich der sogenannten Sekundärsanktionen).

Infolge der Wirtschaftssanktionen nimmt z.B. auch der Wert der von Deutschland in den Iran exportierten Waren seit 2005 stetig ab. Während Deutschland in dem Jahr noch Waren im Wert von fast 4,4 Mrd. Euro in das Land exportierte, betrug dieser Wert vergangenes Jahr nur etwa 1,2 Mrd. Euro. Umgekehrt sind deutsche Ausfuhren zwar teilweise von großer Bedeutung für die iranische Gesellschaft, insbesondere bei der medizinischen Versorgung im Bereich der Diagnostik und Behandlung bestimmter Krankheiten, an der iranischen Wirtschaftsmisere ändert all dies nichts. Im Ergebnis ist die soziale Lage der übergroßen Mehrheit des Volkes auf einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Das Kooperationsabkommen mit China von März 2021, das vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder fördern soll, hat offenbar bisher noch nicht viel bewirken können. Zwar hat sich China zum Hauptabnehmer des iranischen Erdöls entwickelt – laut »Reuters« nehmen kleine chinesische Raffinerien 90% der gesamten iranischen Ölexporte ab – und haben sich die chinesischen Investitionen in die iranischen Wirtschaft innerhalb eines Jahres auf zwei Mrd. US-Dollar verzehnfacht, aber der Gesamtumfang der Wirtschaftsbeziehungen ist vergleichsweise noch gering.

Durch die Waffenlieferungen an Russland (Drohnen, Raketen) hat sich Iran weiter vom Westen isoliert. Darüber hinaus droht das Land angesichts der Kämpfe in Gaza bzw. wegen der Raketen-Angriffe der schiitischen Hizbullah-Milizen gegen Israel vom Libanon aus in einen offenen Krieg gegen Israel und Amerika zu geraten.

Geo-politische Unsicherheit besteht auch angesichts der Möglichkeit eines Wahlsieges von Trump in den US-Präsidentschaftswahlen im Herbst und einer Neuauflage seiner toxischen Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten, in der Iran die Rolle des Bösewichts zukam, dem nur mit einer Politik des »maximalen Drucks« beizukommen sei. Diese außenpolitische US-Strategie hat dem Iran zwar eine Menge Wirtschaftsprobleme beschert, insbesondere was die Modernisierung der Wirtschaft betrifft, aber den angestrebten Regime Chance nicht bewirken können.

Diese Strategie war in jeder Hinsicht kontra-produktiv. Iran wurde dadurch immer stärker an die Seite Russlands und Chinas gedrängt. Das Land kommt nach Einschätzung von Expert*innen im Bau einer Atombombe, den Iran offiziell bestreitet, immer weiter voran. Auch die politische Position der »Reformer« im Iran wurde mit der Kündigung des Atomabkommens durch die USA unter Trump und deren erneute Wirtschaftssanktionen erheblich geschwächt.

Ob Peseschkian innenpolitisch viel bewirken kann, ist fraglich, denn die Macht des Präsidenten ist begrenzt, ebenso wie die des Parlaments, das zudem von Hardlinern dominiert wird. Er wäre nicht der erste moderate Präsident, der sich an den ultra-konservativen Machteliten die Zähne ausbeißt. Seinen Vorgängern Khatami und Rohani wurden von Khamenei und den Revolutionswächtern schnell die Grenzen aufgezeigt. Der neue Präsident wird deshalb wohl vordringlich versuchen, die zuletzt eng angezogenen Daumenschrauben wieder etwas zu lockern und innere Spannungen abzubauen. Angesichts eines drohenden Wahlsieges von Trump dürfte dieses Ziel letztlich sogar im Interesse des Mullah-Regimes liegen.

Auch außenpolitisch hat der neue Präsident vor dem Hintergrund der innenpolitischen Machtverhältnisse und der erheblich gewachsenen geo-politischen Spannungen wohl nur wenig Spielraum für nachhaltige Veränderungen. Zwar hat er erklärt, die Verhandlungen über ein neues Atomabkommen wieder aufnehmen zu wollen. Allerdings hängen deren Erfolgsaussichten nicht nur von der Zustimmung der Teheraner Machtelite ab, sondern auch davon, wer im November die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnen wird.

Europa versuchte zwar nach dem Ausstieg der USA krampfhaft am Atomabkommen festzuhalten, konnte Iran aber keine substanziellen Kompensationsmöglichkeiten bieten. Das Abkommen ist daher Geschichte. Inzwischen konzentriert sich Europa auf die weitere militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine. Die Versäumnisse der EU in der Vergangenheit, eine Position der geo-strategischen Autonomie zu entwickeln, werden deutlich zutage treten, sollte Trump, dessen Erfolgsaussichten bei den kommenden Präsidenten-Wahlen weiter gestiegen sind, tatsächlich neuer US-Präsident werden.

Für die Iraner*innen bedeuten diese Aussichten nichts Gutes. Weitergehende innenpolitische Reformen oder gar ein Sturz des politisch-religiösen Herrschafts-Regimes sind unter den gegenwärtigen innen- wie außenpolitischen Rahmenbedingungen trotz der immer weiter wachsenden Unzufriedenheit der großen Mehrheit des iranischen Volkes mit der Politik des Mullah-Regimes kaum denkbar.

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