17. Oktober 2018 Bernhard Sander: Kommunalwahlen in Belgien

Belgiens Mitte geschwächt

Belgiens Wählerschaft hat die etablierten Parteien sowohl der Schweden-Koalition (Liberale und Rechtspopulisten) als auch der Sozialdemokraten abgestraft. 38% der Belgier*innen würden am liebsten sowohl bei Kommunalwahlen als auch bei den Parlamentswahlen nicht mehr ihre Stimme abgeben, wenn die strafbewehrte Wahlpflicht entfiele.

Auch in Belgien herrschen ein großes Unbehagen und eine stille Wut auf die politische Kaste. Im französischsprachigen Landesteil Wallonie haben Lokalpolitiker*innen, die wegen Scheinarbeitsverhältnissen bei öffentlichen Unternehmen unter Anklage stehen, unbefangen wieder kandidiert. Wenige Tage vor der Wahl erschütterte ein Betrugsskandal die erste Fußball-Liga. Beängstigender ist sicherlich der erwartete nationale Stromengpass, wenn im November sechs der sieben Atommeiler vom Netz genommen werden müssen wegen aufgeschobener Wartungsarbeiten.

Sowohl die Versorgungs-Infrastruktur als auch die sozialstaatlichen Grundlagen der Existenz sind in Belgien nicht mehr sicher. FGTB-Präsident Verteneuil beschrieb auf dem Aktionstag der drei Gewerkschaftsbünde gegen das Rentenpaket der Bundesregierung die Sorgen: »Das, was die Regierung heute macht, lässt sich mit den Worten zusammenfassen: Kämpfen, kämpfen, und nochmals kämpfen gegen die Misere. Wenn jemand jung ist, muss man kämpfen, um einen Job zu bekommen. Wenn man eine Arbeit hat, kämpft man ständig gegen die Misere, weil der Job meist schlecht bezahlt und unsicher ist und man großem Druck ausgesetzt ist. Und wenn man am Ende seiner Berufszeit angelangt ist, heißt es wieder: Kämpfen gegen die Misere. Denn dann bekommt man eine verschwindend kleine Rente.« Aber die Gewerkschaften haben Mühe, die nun schon seit einem Jahr andauernde Mobilisierung aufrechtzuerhalten.

Demgegenüber klopft sich die liberal-rechtspopulistische Bundesregierung auf die Schulter: »Seit vier Jahren gibt es wieder eine positive Dynamik, wächst die Wirtschaft, die Beschäftigungsrate steigt und die Arbeitslosigkeit fällt«, sagte Ministerpräsident Charles Michel. Das liege daran, dass die Regierung ernst gemacht habe mit ihren Vorhaben zur Ankurbelung der Wirtschaft. »Heute liegen die Fakten auf dem Tisch. Wir haben Wort gehalten. Wir haben bessere Ergebnisse erzielt, als gedacht«, so Michel. »Noch bis zu den Wahlen im Mai kommenden Jahres werde die Regierung diese Politik tägliche Realität für 219.000 Menschen geworden sein, die in den vergangenen vier Jahren einen Arbeitsplatz gefunden haben. Zu ihrem Vorteil, zum Vorteil der Gesellschaft.«

Manche gehören dann wohl nicht zur Gesellschaft, kann man angesichts der Armutszahlen Zahlen denken: In den Kommunen Boom (Provinz Antwerpen), Oostende (Westflandern), Antwerpen, Genk (Limburg), Maasmechelen (Limburg) und Turnhout (Provinz Antwerpen) leben mehr als 25% aller Kinder in Haushalten unter der Armutsgrenze, während der allgemeine flämische Durchschnitt bei 13,8% liegt. Beunruhigt, in diese soziale Spaltung abzurutschen, wenden sich Mittelschichten der NVA oder dem Vlaams Belang zu, deren rassistischen Vorurteile in der ehemaligen Kolonialmacht schon immer geteilt wurden.

Mit Blick auf die Transitmigrant*innen, also die Menschen, die an der belgischen und französischen Kanalküste stranden, weil es kaum legale Wege gibt, in das Wunschland Großbritannien weiterzureisen, sind 55% der Befragten der Meinung, das Problem werde nicht streng genug angepackt. Außerdem sprachen sich 41% der Befragten für das Einsperren von Familien mit Kindern aus, wenn diese Familien abgeschoben werden sollen. Rund ein Viertel (28%) der Jung- und Erstwähler*innen zwischen 18 und 23 Jahren in Flandern geben an, dass sie einen autoritären Führer der Demokratie vorziehen würden. Dies, weil sie die Demokratie nicht mehr für die beste Form der Politik halten.

Positionsverschiebungen im rechten und linken Lager

Die Neue Flämische Allianz (N-VA) setzt angesichts solcher Stimmungen weiter auf ihren ausländerfeindlichen Grundton. Die flämischen Regionalisten von der N-VA wollen sich in den kommenden Wahlkampagnen auf das Thema »Identität« konzentrieren. In einem Interview erklärte der Parteivorsitzende Bart De Wever seinen Standpunkt:[1] »Die Software unserer Identität, das heißt die Werte und Normen unserer Aufklärung, stehen unter Druck.« Nach Auffassung von De Wever haben »viele Migranten die Aufklärung nicht mitgemacht. Deshalb müssen wir nochmals deutlich sagen, wer wir sind.«

Massenmigration lasse die Debatte wiederaufleben, so De Wever. »Der Gott des Christentums ist ein gemütlicher Gott geworden: In schwierigen Momenten anwesend, aber im Alltag abwesend. Ein Mensch bestimmt selbst, was er isst und mit wem er schläft. Doch dann taucht Allah auf, der den Alltag regeln will. Das führt zu Spannungen.«

Orthodoxen Juden seien »äußerliche Symbole des Glaubens auch sehr wichtig«, so De Wever weiter, »… Muslime fordern aber ihre Teilhabe mit ihren äußerlichen Religionssymbolen am öffentlichen Leben und im Unterrichtswesen. Das führt zu Spannungen. … Durch falsch verstandene Menschenliebe von Links scheint jeder andere Diskurs knüppelhart zu sein. Das ist eine Falle, die von links kommt. Alles ist unmenschlich, sogar die Anpassung des Gesetzes.«

De Wever stand als amtierender Bürgermeister im Industrie- und Dienstleistungszentrum Antwerpen unter dem Druck des rechtsradikalen Vlaams Belang, der in den letzten Umfragen in Flandern um 10% taxiert wurde.

Die Sozialdemokraten Belgiens schrumpfen schon seit vielen Jahren (Flandern 2014 14%), sind aber meist am Links-Rechts-Spiel der parlamentarischen Regierungsbildung auf Bundesebene beteiligt gewesen. Die französischsprachigen Sozialisten Belgiens (PS) befinden sich in einer aktuellen Krise, nachdem sie in einen Skandal um fiktive Arbeitsverhältnisse in öffentlichen Unternehmen verwickelt waren und auch aus der Regierung gedrängt wurden.

Seit über zwei Jahren wurden in der Partei Ideen gesammelt, um sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser stellen zu können. Erstmals seit vierzig Jahren hielt die Partei einen ideologischen Kongress ab. Die frankophonen Sozialisten haben »170 Engagements für eine ideale Zukunft« beschlossen sowie eine neue aktualisierte sozialistische Charta verabschiedet. Die ersetzt die 120 Jahre alte marxistisch geprägte Charta von Quaregnon. PS-Präsident Elio Di Rupo, der selbst als langjähriges Regierungsmitglied am neoliberalen Umbau des Landes aktiv mitgewirkt hat, sprach von einer »neuen Ära des Sozialismus«.

Die programmatische Erneuerung ist als Linkswende zu werten, auch wenn das Programm keine Antwort zur Erneuerung der produktiven Basis der von Kohle und Stahl geprägten Wallonie findet. Die PS tritt u.a. für eine Vier-Tage-Woche ohne Gehaltseinbußen bei gleichzeitiger Neueinstellung von Arbeitssuchenden ein. Auch will sie einen »allgemeinen Sozialbonus« einführen, mit dem sichergestellt werden soll, dass alle Einkommen oberhalb der Armutsgrenze liegen. Zudem sprechen sich die frankophonen Sozialisten für die Schulpflicht ab drei Jahren aus, um die Chancengleichheit für alle Kinder zu erhöhen. Eine weitere Initiative zielt darauf ab, dass Bürger*innen in den Parlamenten Gesetzesvorschläge einbringen dürfen. Das neue sozialistische Manifest hält auch am Begriff des »Klassenkampfs« fest, mit besonderer Betonung der Rolle der Arbeiterklasse. Die Umfragen ließen danach einen leichten Aufwärtstrend erkennen. Die Kommunalwahlen konnten als Glaubwürdigkeitstest für die Erneuerungsfähigkeit der Partei gelten. Ähnliche Entwicklungen sind bei den flämischen Sozialdemokraten jedoch nicht absehbar.

Die Partei der Arbeit (PTB) ist neu im Spiel. In den Umfragen galt sie als dritte Kraft in der Wallonie. PTB ging hervor aus einer maoistischen Sekte, die sich vor ca. 10 Jahren ähnlich wie in den Niederlanden für einen Kurs »mit dem Volk« statt »für das Volk« entschied, mit den Trotzkisten und der Kommunistischen Partei fusionierte und seit dem eine immer bessere lokale Verankerung in Bürgerinitiativen, Vereinen usw. hinbekommt.

Für die PTB war bei den Kommunalwahlen der Ausbau ihrer flämischen Basis wichtig, um im kommenden Jahr auch flämische Abgeordnete ins Bundesparlament entsenden zu können, da man als einzige Partei strikt als nationale Kraft wahrgenommen werden möchte. Zweites Ziel des PTB in Flandern war, De Wever in Antwerpen zu schwächen.

Der PTB kämpft »für eine andere Vision der Stadt, für die Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts, grüne Räume, ÖPNV, Bürgerbeteiligung und radikale Gehaltsbegrenzungen bei politischen Beamten und Verwaltungsspitzen.« Der Slogan »Erobern wir die Stadt zurück« richte sich gegen die großen Immobilien-Promotoren, die der Stadt ihre Vision aufdrücken, insbesondere durch den Bau von Appartements mit Preisen zwischen 350.000 und 800.000 Euro, was sich kaum jemand leisten könne.

Man wolle den Typ Politiker entmachten, der in den Hinterzimmern, den VIP-Lounges der Ligavereine und bei Dienstessen in schicken Restaurants Arrangements verabreden, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. Transparenz sei für die Politik des 21. Jahrhunderts unabdingbar. Schließlich gälte es, die Stadt aus den Händen jener zurückzuholen, die Hass und Zwietracht säen. In Städten, die von der NVA beherrscht werden, sei die Hetze gegen Arbeitslose und Geflüchtete Tagesgeschäft. Aber die Stadt sei per Definition ein Ort des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit.


Ergebnisse der Kommunalwahlen

In Flandern sind ziemlich eindeutig die flämischen Sozialdemokraten der SP.A Verlierer der Wahl. Sie bleiben zwar in den beiden Städten Löwen (Leuven) und Vilvoorde die größte Partei, doch in anderen Oberzentren hatten sie das Nachsehen. In Antwerpen kamen weniger Stimmen zusammen als erhofft. In Gent könnte ein Liberaler Bürgermeister werden. Brügge ging an die Christdemokraten verloren. In den symbolträchtigen Städten Genk, Hasselt und Lommel in der früheren Bergbauprovinz sind die Resultate rundweg enttäuschend.

Ergebnisse der Region Flandern:

Quelle: https://www.vrt.be/vrtnws/de/2018/10/14/verfolgen-sie-hier-die-ergebnisse-der-kommunalwahen-live/#/11/1/11002/percentages

Die NVA verliert deutlich 3,4% in Flandern, aber auch die Koalitionspartner CDH und liberale OpenVLD. Zu den eindeutigen Gewinnern in Flandern gehört zweifellos die rechtsradikale Vlaams Belang. Deren Vorsitzender rief denn auch am Sonntagabend aus: »Vlaams Belang is back!« Doch in Antwerpen kam Vlaams Belang wieder nicht über die angepeilte 10%-Marke, während NVA trotz Verlusten zusammen mit den bisherigen Koalitionspartnern (geschwächte Christdemokraten und Liberale) die Mehrheit im Stadtrat behauptet. Die »Vlaams Belang« legte vor allem in Städten wie Brügge, Hasselt, Oostende zu und erreichte im armen Antwerpener Vorort Turnhout 17,6% (+7,6%).

Die anderen Gewinner sind in Flandern zweifellos die Grünen von Groen (+5,4%) und PvdA (PTB). In vielen Städten und Gemeinden klettern die Grünen auf über 20% der Stimmen und in Antwerpen konnten sie ihr Potenzial verdoppeln.

In der mehrheitlich frankophonen Region Brüssel, die neben Flandern und Wallonien ein eigenes Regional-Parlament hat, kandidieren aufgrund der Sprachenvielfalt in den Kommunen insgesamt 14 Parteien, viele quasi sprachlich verdoppelt (neben den örtlichen Wählervereinigungen). In der Verwaltungsmetropole sind die Grünen relativ stark und die rechtspopulistischen Parteien schwächer als in den anderen Landesteilen. Sowohl der wochenlange Ausnahmezustand 2016, mehrerer missglückter Projekte (Stadionneubau, Innenstadtring) als auch Skandale in halböffentlichen Unternehmen schwächten das Ansehen der Sozialisten der Hauptstadt. Drei Bürgermeister erlebte die ablaufende Wahlperiode.

In der Region Brüssel mit ihren 19 Gemeinden legten die Grünen, Ecolo-Groen, überall stark um gut 10 Prozentpunkte zu. Die flämischen Sozialdemokraten (SP.A) ließen sich mit ihrer Liste Change. Brussels erstmals ohne die französischsprachigen Sozialisten aufstellen und blieben bei 3,9% hängen.

Bei den niederländischsprachigen Kandidat*innen waren alle Augen auf die flämischen Regionalisten von der N-VA gerichtet, doch die liegen mit ihrem Programm in der Multikultistadt Brüssel offenbar daneben. Sie haben ersten Berechnungen zufolge knapp ein Prozent verloren. In Anderlecht kamen die flämischen Separatisten der NVA auf 4,4%, obwohl Spa und Christdemokraten eine gemeinsame Liste gebildet hatten.

In der als »Islamisten-Hochburg« verschrieenen Stadt Moelenbeek in der Region Brüssel kam der PTB auf 13,6%, der PS auf 31,3 und die NVA auf 3,4%.

Ergebnisse der Region Brüssel:

Quelle: https://www.vrt.be/vrtnws/de/2018/10/14/bruessel-ecolo-groen-grosser-gewinner-ps-bleibt-aber-groesste/#/10/1/21004/percentages

Im frankophonen Landesteil gibt es zwei große Gewinner der Kommunalwahlen: die Grünen von Ecolo und PTB, vor allem in den alten Industriebecken an Sambre und Maas. In Charleroi, das bisher aus einer Großen Koalition aus MR und PS regiert wurde, sind die Marxisten die zweite politische Kraft, auch in Mons und Lüttich konnte die PTB zulegen. Stärkste Kraft bleibt allerdings der PS, obwohl sie wie in großen Städten Namur und Mons jeweils um die 10% verlor. In Mons wird Parteivorsitzender Elio Di Rupo seine Bürgermeisterschärpe abgeben. In Charleroi verliert Bürgermeister Paul Magnette knapp seine absolute Mehrheit, erzielt aber immer noch über 40%. Auch in Lüttich verliert der skandalgeschüttelte PS über 7%. Der Rechtspopulismus spielt nur eine marginale Rolle.

In Molenbeek, Charleroi und Lüttich haben die designierten PS-Bürgermeister bereits angekündigt, Gespräche mit der PTB führen zu wollen. Die PTB reagiert darauf verhalten. Man werde sich anhören, was die PS zu sagen habe. Aber regieren um jeden Preis, das werde man nicht, sagte PTB-Sprecher Raoul Hedebouw.

Die größten Verluste landesweit musste also die liberale MR des Ministerpräsidenten Charles Michel bzw. das flämische Pendant open VLD hinnehmen. Der PTB konnte sich landesweit verankern und Hochburgen ausbauen: Anderlecht 14,6% (+12%), Turnhout 5,6% (+3,2%), Hasselt (neu) 6,5%, Region Brüssel 11%, Namur 7,8% (Verwaltungshauptstadt der Region Wallonien), Lüttich 16,3%. Das Wahlziel, eine flämische Basis für die nationalen Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu schaffen, wurde also erreicht.

Le Soir kommentiert den Wahlausgang so: MR, PS und konservative (EVP-Mitglied) CDH »sollten über die Lektion nachdenken, die von den Wählern erteilt wurde, die sichtlich beunruhigt sind von ihrer sozialen Lage und vom Zustand der Umwelt, in den Gemeinden, wo Präkarität und Ungleichheit stark sind, aber auch in den reichsten und bürgerschaftlichsten Gemeinden.«[2]


[1] Alle Zitate De Wevers hier: www.vrt.be/vrtnws/de/2018/03/18/n-va_konzentriertsichaufthemaidentitaet-1-3165395/
[2] https://plus.lesoir.be/184557/article/2018-10-15/edito-communales-2018-un-avertissement-pour-les-partis-traditionnels

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