20. Juni 2024 Bernhard Sander: Nach den Wahlen zur Nationalversammlung
Belgiens Rechte blockiert das politische System
Zeitgleich mit den EU-Parlamentswahlen wurde in Belgien die Nationalversammlung neu gewählt. Die rechtsnationalistische N-VA (Neue flämische Allianz) und der radikalrechte Vlaams Belang (Die Flämische Sache) sind die stärksten Parteien geworden. Beide kommen aus der Opposition.
Amtliches Endergebnis der belgischen Parlamentswahl (Unterhaus) am 9. Juni 2024 (Stimmenanteile)
Mit elf Millionen Einwohner*innen hat Belgien sechs offizielle Regierungen – eine föderale, fünf regionale – und drei Sprachgemeinschaften. Das Land ist zwischen politisch teilautonomen Flamen, Wallonen und Brüssel aufgeteilt; sprachlich zwischen Niederländisch, Französisch und Deutsch. Die große nördliche Region Flandern gehört mit Häfen und Logistik, Dienstleistungen und Petrochemie zu den reichsten in Europa, während die kleine südliche Region Wallonien – einst Standort von Stahlwerken, Textilfabriken und Bergwerken – vergleichsweise arm ist. In Belgien, wo das föderale Parlament über 150 Sitze verfügt, ist die eine Mehrparteienkoalition die conditio sine qua non für die Bildung einer Regierung. Die letzten Koalitionsverhandlungen dauerten 16 Monate.
Einzig die ex-maoistische Partei der Arbeit (PTB) erhob traditionell den Anspruch, als nationale Partei anzutreten. Ihre Kampagnen erzielten durchaus sichtbare Erfolge. Die PTB erreichte mit einem Zuwachs von 1,2% im gesamten Land 9,9% und ist damit viertstärkste Kraft.
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Moderner versus reaktionärer flämischer Nationalismus
Die flämische rechtspopulistische N-VA (Neue flämische Allianz) stellte drei Monate vor der Wahl in der Wallonie eine Liste auf, was die Liberalen (dort zweite Kraft) stark verärgerte. Die separatistischen Ansichten der N-VA werden im Süden des Landes nun von Drieu Godefridi vertreten – Börsenhändler, Anwalt und Publizist. Er hat an der Sorbonne in Paris promoviert und ist Gründer des liberalen Think Tanks Institut Hayek in Brüssel. Seine Meinungsartikel und Stellungnahmen haben im französischsprachigen Belgien häufig Kontroversen ausgelöst.
Godefridi war ein Anhänger von Donald Trump – bis zum Ansturm auf das Kapitol – und eckt mit ausländer- und islamfeindlichen Positionen an. In seinem Buch »L’utopie verte« greift er den Ökologismus an, die politische Ideologie der grünen Parteien. In einem anderen Buch, »La loi du genre«, kritisiert er die Woke-Bewegung und die »Gender-Ideologie«. Er selbst bezeichnet sich nicht als flämischer Nationalist, ist auch kein Mitglied der Partei, befürwortet aber den Konföderalismus wie die N-VA. Das brachte zwar zählbar in der Wallonie nichts, aber für die Gesamtpartei einen Zuwachs auf 16,7% und die Position der stärksten Partei, die bei der Regierungsbildung wohl nicht mehr zu übergehen sein wird.
Gleichzeitig setzte der Parteivorsitzende Bart De Wever seinen Anti-Eliten-Diskurs fort, weil er die Kandidatur in der Wallonie damit begründet, die dort aussichtsreichen Parteien seien an der amtierenden Bundesregierung beteiligt, die Wähler*innen hätten also »keine Möglichkeit ihren Protest zum Ausdruck zu bringen«. Er hat mit demselben Motiv einmal mehr für eine »Neuorientierung aller politischen Kräfte im Zentrum und rechts vom Zentrum« plädiert und nannte die deutschen Christdemokraten als Vorbild für eine solche Bewegung. Seine N-VA könne in einer solchen Partei aufgehen, so De Wever.
Die Christdemokraten führen in beiden Landesteilen nur noch ein Schattendasein, konsolidierten sich jetzt aber vor allem durch die Zugewinne im französischsprachigen Landesteil (+3,1% auf 6,8%) und in Flandern (8%). Die Liberalen waren im flämischen Landesteil in Teilen offen für eine neue Formation. Der ehemaligen Vorsitzenden der flämischen Liberalen Open VLD, Egbert Lachart, kann sich vorstellen, dass man die flämische Parteienlandschaft auf zentrum-rechter Seite neu orientieren könnte. Der Rechtsschwenk hat sich jedoch nicht ausgezahlt, sondern wurde mit einem Verlust von 3,7% abgestraft, sodass die landesweite Bedeutung auf 5,4% zurückging.
Die N-VA hat zudem den ehemaligen LDD-Rechtspopulisten Jean-Marie Dedecker reaktiviert, der für die Nationaldemokraten auch als Nicht-Mitglied geeignet zu sein scheint, der Vlaams Belang Wähler*innen abzujagen.
Die »Staatsreform«, also der Status der Landesteile zueinander und die Kompetenzen gegenüber der Bundesregierung, wird einer der größten Streitpunkte bei der künftigen Regierungsbildung sein. Hinter der Frage der Staatsreform lauert ein ganzer Komplex an Themen, dessen wichtigster kein Sprachenstreit ist, sondern die Frage der Arbeitsmarktreform. Der nationalistisch-separatistische Diskurs der N-VA steht aber noch im Gegensatz zu den Erfordernissen der Mobilisierung der innerstaatlichen Arbeitnehmer-Migration.
Der radikale Vlaams Belang vertritt am entschiedensten den separatistischen Kurs eines Kapitalismus, der von den Dividenden des vorigen Jahrhunderts lebt, sich aber hartnäckig weigert, sich an die heutige Zeit anzupassen. Beide wehren sich gegen die europäische Arbeitnehmer-Freizügigkeit.
Das ist sicherlich auch eine Abwehr von Forderungen beispielsweise des flämische Arbeitgeberverbandes VOKA, der in den letzten zehn Jahren eine Begrenzung des Arbeitslosengeldes gefordert hat. »Vor allem die in Flandern ansässigen KMU fordern mehr Arbeitskräfte und niedrigere Löhne, um die Exportwirtschaft des Nordens am Laufen zu halten.« Da eine Politik der offenen Grenzen in einer Region, die zunehmend von den Visionen des »Großen Bevölkerungs-Austauschs« fasziniert ist, politisch unmöglich erscheint, bleibt nur die Möglichkeit, die große Zahl der wallonischen Arbeitslosen zu aktivieren. Die Kapitalisten von VOKA glauben, dass es dieser Schicht an Disziplin mangelt, weil sie die »Hängematte« der sozialen Sicherheit habe, auf die ihre Pendants in Ostdeutschland oder Nordfrankreich zu verzichten gelernt haben.
In Westflandern sind französische Arbeiter aus Lille und Dünkirchen bereits aufgerufen, den Arbeitskräftemangel auszugleichen. Aus diesem Grund drängen Arbeitgeberverbände auf mehr Pendlerwege, um die Sprachgrenze zu überschreiten: Die N-VA setzt verbal auf flämischen Nationalismus, hat aber als quasi Avantgardepartei des flämischen Kapitals diese Agenda energisch vorangetrieben und auf »Degressivität« (die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung im Laufe der Zeit) gesetzt.
Die N-VA propagiert das Ende der letzten Lohnindexierungssysteme in Belgien und die Einführung einer staatlichen Kontrolle über die Sozialleistungen, die derzeit von den Gewerkschaften verwaltet werden. Als reichste Partei Westeuropas – gestützt auf ein Immobilienimperium und jede Menge staatlicher Subventionen – verfügten die flämischen Nationalisten auch im Wahlkampf über die Mittel, um ihre neoliberale Offensive zu finanzieren. Vlaams Belang erscheint mit dem harten Separatismus als der Gegenpol, weshalb N-VA eine Koalition mit dieser Bewegung im Wahlkampf ausschloss.[1]
Die Operation der N-VA ist insgesamt erfolgreich verlaufen. Sie erzielte aufs Bundesgebiet gerechnet sogar einen leichten Zugewinn auf 16,7% und liegt damit weiter knapp vor dem Vlaams Belang, der mit einem deutlichen Plus von 1,8% nun bundesweit mit 13,8% zweitstärkste Kraft ist.
Sozialdemokratie am Scheideweg
Die Sozialdemokraten sind in der Wallonie stärkste Kraft mit landesweit 8% geblieben (Verlust 1,4%). Eben so viel erzielten die Sozialdemokraten in Flandern, die sich dort »Vorwärts« nennen, mit einem Zugewinn von 1,4%.
Im flämischen Landesteil scheint sich ein Modernisierungskurs um den bisherigen Staatssekretär Thomas Dermine auszuzahlen, der als Neuling in der Parteielite, der nach seiner Arbeit bei McKinsey und seinem Studium in Harvard den Sozialisten beigetreten ist, eine Form der regionalen Versöhnung erreichen will, also in der Staatsreform eine Gegenposition vertritt. »Seiner Meinung nach müssen die belgischen Regionen lernen, in einem sich wandelnden wirtschaftlichen Klima zusammenzuarbeiten, was in der Praxis bedeutet, dass mehr wallonische Ressourcen für flämische Unternehmen freigesetzt werden.«
Die flämische Wirtschaft »hat mit einem Mangel an Platz und Personal zu kämpfen«, sagt er, und »Wallonien verfügt über ein großes Reservoir an Arbeitskräften und Brachflächen zu Dutzenden«. Anstelle von Wallonen, die nach Westflandern pendeln, will Dermine, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) aus dem Norden in den Süden ziehen und sich dort niederlassen.
Diesem flämischen Macron steht im französischsprachigen Landesteil der Sozialist Paul Magnette gegenüber, der vergleichbar der niederländischen Parteifusion von Grünen und Sozialdemokraten, eine Programmatik der sozial-ökologischen Erneuerung vertritt. Mit einem Plädoyer für die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und entsprechenden Neueinstellungen in den Unternehmen oder Behörden geht PS-Chef Magnette sehr weit. Postwendend kam aus Flandern der Kommentar: »Unmöglich. Zu teuer«. Die sozialistische Gewerkschaft ABVV/FGTB unterstützt die Idee und geht davon aus, dass der Plan umsetzbar ist.
Klimapolitik oder eher keine
Das zweite Streitthema in der Regierungsbildung wird die Klimapolitik werden. Es wird wahrscheinlich aber durch die Staatsreform überlagert. Der Appellationshof (Verfassungsgericht) hat Ende 2023 den Föderalstaat und die Regionen Flandern und Brüssel verurteilt. Geklagt hatte die NGO Affaire Climat/Klimaatzaak, zusammen mit 58.000 Bürger*innen, was aus dem Ganzen das größte Gerichtsverfahren in der belgischen Geschichte machte. Die beklagten Regierungen tun zu wenig im Kampf gegen den Klimawandel. Und damit, so argumentieren die Richter*innen, schaden diese Regierungen ihren Bürger*innen, verletzen sogar deren Menschenrechte.
Der Appellationshof verlangt, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen von Flandern und der Region Brüssel bis 2030 zwingend die Treibhausgasemissionen um 55% im Vergleich zum Referenzjahr 1990 senken. Die Wallonische Region ist von dem Urteil ausgenommen, weil das Richterkollegium zu dem Schluss kam, dass die von der Regierung in Namur bereits beschlossenen bzw. schon eingeleiteten Maßnahmen ausreichten.
Die Wahlergebnisse der Grünen enttäuschen trotz der Bürgermobilisierung mit 2,9% für die wallonischen Ecolo (-3,1%) und 4,6% für das Flämische Groen (-1,5%).
Rot-rot-grüne Kaufkraftkoalition keine Option
Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik hat durch den Erfolg der PTB (Partei der Arbeit) ebenfalls einen gewissen Stellenwert bekommen. Der Studiendienst der PTB ermittelte, dass inflationsbereinigt ein/e Vollzeitarbeitnehmer*in, die/der im Jahr 2020 einen Durchschnittslohn von 3.350 Euro brutto hatte, unter der Regierung De Croo gemittelt 3.068 Euro an Reallohn übers Jahr verloren hat. Das sei nur geringfügig weniger als der Kaufkraftverlust unter der Vorgänger-Regierung des liberalen Charles Michel.
Diese Zahlen belegten, dass die Koalition unter Regierungsbeteiligung von Sozialisten und Grünen kaum mehr für die Löhne der Arbeitnehmer*innen getan habe als die vorherige Mitte-Rechts-Regierung mit MR und N-VA, so der PTB-Vorsitzende Raoul Hedebouw. Das erkläre auch zum Teil die Verluste dieser Parteien. Die oppositionelle PTB-PVDA fordert deshalb nicht nur die Beibehaltung der automatischen Indexanpassung der Löhne, sondern auch Lohnerhöhungen.
Die Reallöhne, die angeben, was man sich tatsächlich vom Lohn kaufen kann, sanken im OECD-Durchschnitt um fast 4% (-3,8%). Nur in Belgien stiegen sie um fast 3% (2,9%). »Das lag an der automatischen Lohnindexierung in unserem Land. Die sorgte für durchschnittlich rund 10% mehr Lohn auf dem Gehaltszettel«, sagt die regierungsnahe Presse. 3.886 Euro brutto verdient ein/e Arbeitnehmer*in in Belgien im Schnitt monatlich.
An die Lohnindizierung wagten sich sowohl die neoliberale als auch die Mitte-Links-Regierung heran, brachen ihre Reformprojekte aber unter dem Eindruck der Arbeitnehmerproteste immer wieder ab. Eine Regierung unter Beteiligung der Rechtspopulisten und Nationalisten von N-VA würde hier eine neue Dynamik entfachen, denn nicht nur der wallonische Spitzenkandidat ist überzeugter Hayek-Anhänger.
Europäisches Diktat der Haushaltskonsolidierung
Der Haushalt 2024 der Vivaldi-Regierung sah am Ende vor, 1,2 Mrd. Euro einzusparen, um sowohl dem Maastricht-Kriterium bei der Neuverschuldung gerecht zu werden als auch einige Wahlgeschenke verteilen zu können. Das Haushaltsabkommen sah vor, dass das System der Flexi-Jobs auf zwölf weitere Sektoren, in denen ein akuter Personalmangel herrscht, erweitert wird. Bei einem solchen Job entspricht das Bruttogehalt dem Nettogehalt. Doch nur wer entweder pensioniert ist oder lediglich in einem Vierfünftel-Arbeitsverhältnis beschäftigt ist, darf einen Flexi-Job annehmen. Die Mindestlöhne wurden indirekt durch Verringerung der Sozialabgaben angehoben.
Die PTB-PvdA warf der Regierung vor, einmal mehr zu wenig für die Kaufkraft der Menschen im Land getan zu haben. Man hält weiterhin nichts von den Flexi-Jobs, denn hier würden die Arbeitskräfte sowieso nur mit geringen Löhnen ausgenutzt. Als Rückschritt bezeichneten auch christliche und liberale Gewerkschaften diese Entscheidung. Flexi-Jobs seien prekäre Arbeitsverhältnisse und würden nicht dazu beitragen, den Mangel an Arbeitskräften nachhaltig zu bekämpfen.
Von einem ehrlichen Beitrag der größten Vermögen im Land sei ebenfalls nichts zu sehen, monierte PTB. Die Koalition beschloss eine Sondersteuer für vier Großbanken, die bis zu 150 Mio. Euro einbringen sollte. »Das nimmt uns den Spielraum, um die Zinsen auf Sparbücher zu erhöhen«, kündigte Karel Baert an, Vorsitzender des Verbands der belgischen Banken (Febelfin). In diesem Zusammenhang steht die seit der Finanzkrise in staatlicher Hand befindliche Belfius-Bank unter dem Druck, dem belgischen Staat als Hauptanteilseigner 200 Mio. Euro Dividenden auszuzahlen. Die »Kaiman-Steuer«, eine Abgabe auf Gelder, die an der Steuer vorbei im Ausland angelegt oder deponiert werden, wurde ebenfalls erhöht.
Die flämischen Nationaldemokraten der N-VA warfen der Regierung De Croo vor, sie verschiebe hier lediglich den budgetären Schrotthaufen auf die folgende Regierung und auf die folgenden Generationen. Der rechtsradikalen Vlaams Belang wetterte gegen zusätzliche Mittel für die Unterbringung von Asylsucher*innen und geißelte den Mangel an Maßnahmen, um die Kaufkraft im Land zu stärken.
Die Arbeitgeberverbände in Belgien reagierten eher zurückhaltend. Durch das Haushaltsabkommen der Regierung De Croo würden die Risse im ökonomischen Gewebe des Landes immer größer: Zum einen sei da weiter der Kaufkraftverlust und zum anderen wachse der Druck auf die Handelsbilanz. Die Folgen davon werde man spätestens 2025 deutlich spüren. Der flämische Arbeitgeberverband VOKA konkretisierte die Kritik in Hinsicht auf den Arbeitsmarkt, trotz der Zufriedenheit mit der Ausweitung des Systems der Flexi-Jobs. Der Mittelstandsverband für Flandern und Brüssel erhob erneut die Forderung, dieses System auf alle wirtschaftlichen Bereiche und Sektoren auszuweiten.
Vor schwierigen Verhandlungen
Die Haushaltsberatungen und -beschlüsse zeigten einmal mehr, dass sich die etablierten Parteien nur noch auf Minimalkonsense im Rahmen eines »Weiter so« verständigen können, die bei keiner Klasse wirkliche Begeisterung auslösen. Die Verluste von Grünen und Sozialdemokraten sind wohl darauf zurückzuführen, dass sie sich an diesem perspektivlosen Handel beteiligen. Der Erfolg der beiden bisher nicht an Regierungen beteiligten rechtsextremen Parteien stellt insofern einen Ausbruch dar.
Bei der Regierungsbildung zeichnet sich eine äußerst knappe Mehrheit von Liberalen und Christdemokraten beider Landesteile und der N-VA ab (76 von 150 Sitzen). Wie bei der Regierungsbildung in den Niederlanden müsste dieses Experiment einer »Zivilisierung« oder »Melonisierung« der Rechtsradikalen durch Übertragung von Regierungsverantwortung geadelt und von unsicheren Kantonisten aus den Splitterparteien gestützt werden.
Eine rot-rot-grüne Kaufkraft-Koalition, die in den Umfragen angesichts der sozialen Spreizung bis kurz vor der Wahl eine Mehrheit hatte, käme nur mit Unterstützung der Christdemokraten auf eine Mehrheit von 78 Sitzen. Die PTB/PVDA hatte dafür bereits ihre Bedingungen definiert: einen Bruch mit der europäischen Austeritätspolitik, die Rückkehr des Rentenalters auf 65 Jahre und eine Steuer für Millionäre. Sie blieb damit allerdings ebenso wie die Grünen und die wallonischen Sozialisten auf der Ebene der Verteilungsfragen.
Dabei bleibt die Frage offen, woher denn der umzuverteilende Reichtum kommen soll. Einen Zusammenhang mit den Notwendigkeiten einer sozial-ökologischen Transformation, der Dekarbonisierung und Digitalisierung und damit einer Neuproportionierung des Gesamtarbeitskörpers auch in und zwischen den tiefgespaltenen Landesteilen konnte keine der Parteien glaubhaft darstellen.
Zunächst schien es wenig wahrscheinlich, dass König Philippe seinen Sondierungsauftrag, gar den Auftrag zur Regierungsbildung an die N-VA geben könnte, deren Artikel 1 der Parteistatuten lautet: »In ihrem Streben nach besserer Regierungsführung und mehr Demokratie setzt sich die Neue Flämische Allianz (N-VA) logischerweise für eine unabhängige Republik Flandern ein, die Mitglied einer demokratischen Europäischen Union ist.« Damit verlöre der König die Hälfte seines Reiches.
Der Taktiker de Wever hatte drei Tage vor der Wahl im Fernsehen jedoch vorausschauend relativiert: »Wenn der Konföderalismus dazu führt, dass man eine eigene finanzielle Verantwortung hat, dass man den Wohlstand in Flandern stärken und schützen kann, dann ist das für mich genug.« Die N-VA sei die Partei, »die heute den Konföderalismus unterstützt, weil der belgische Föderalismus leider gescheitert ist, viel Geld gekostet und einen Staat geschaffen hat, in dem man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht«, argumentiert der N-VA-Chef. »Wenn das funktioniert, reicht es mir. Ich bin nicht darauf versessen. Der Nationalismus ist ein Instrument, um gut zu regieren. Er ist kein Selbstzweck.«[2]
Belgien könnte eine weitere Rechts-Regierung bekommen, was die Kräfteverhältnisse im Europäischen Rat verschiebt.
Anmerkungen
[1] Anton Jäger, Ein Königreich in Aufruhr — 31. Juli 2023. Anton Jäger (1994) Ist Publizist und Forscher am Höheren Institut für Philosophie Der Katholischen Universität Leuven. Dieser Artikel wurde zuerst in der Rubrik Sidecar der New Left Review veröffentlicht; 30. Juni 2023 Un royaume en plein bouleversement | LAVA (lavamedia.be).
[2] https://www.vrt.be/vrtnws/de/2024/06/06/flaemische-unabhaengigkeit-ist-fuer-n-va-chef-bart-de-wever-kein/.