7. November 2019 Bernhard Sander

Beseitigung der sozialen Sicherheit in Frankreich

Jeanne Menjoulet/flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Der französische Staatspräsident Macron sieht sich zur Halbzeit seiner Amtszeit mit dramatischen Veränderungen sowohl auf der internationalen als auch innenpolitischen Ebene konfrontiert. Zwar sucht er darauf nach Antworten, findet dabei aus seiner Sicht aber keine ausreichende Unterstützung aus Deutschland.

Angesichts der Abstimmungsschwierigkeiten der deutsch-französischen Achse drängt Macron offenbar auf mehr nationale Stärke, um den »externen Schocks« Brexit, Handelskrieg zwischen China und den USA, Syrien-Krieg usw. begegnen zu können. Der Zusammenhalt von sozialdemokratischen Modernisierern und liberalen Bürgerlichen in der Bewegung des Präsidenten basiert auf der Redimensionierung der gesellschaftlichen Umverteilung, die zulasten der Ärmeren geht, solange keine Stärkung der produktiven Basis generiert werden kann.

Macron will auf diese Herausforderungen europäischen Antworten finden, doch die Kanzlerin und die Sozialdemokratie wimmeln die französischen Vorschläge ein ums andere Mal ab. Dies betrifft vor allem die französischen Initiativen zur gemeinsamen Unternehmensbesteuerung, für eine Rückversicherung der nationalen Arbeitslosenversicherungen im Falle von akuten volkswirtschaftlichen Krisenlagen und für die Sicherung nationaler Arbeitsmärkte gegen Lohn- und Sozialdumping aus Osteuropa. Bei letzterem geht es um den von Frankreich eingeführten Sozialversicherungsnachweis des Entsendelandes auch bei kurzfristigen Jobs und die Ablehnung der EU-Erweiterung (Nord-Makedonien). In der Industriepolitik gerät man ebenfalls aneinander, weil die (nicht wirklich) restriktive Export-Linie der Deutschen bei der Grande Nation auf wenig Gegenliebe stößt.

Überhaupt kein Verständnis hat Macron für die »Schwarze Null«. Mit der Schaffung einer europäischen Daten-Cloud und der Batterieproduktion betreibt zwar nun auch die deutsche Regierung europäisch angelegte Infrastrukturprojekte. In der sich anbahnenden Konjunkturabkühlung drohen Nachfrageausfälle aus Deutschland für alle anderen europäischen Volkswirtschaften zu einer Belastung zu werden. Die französische Regierung fordert daher bei jeder Gelegenheit öffentliche Ausgabenprogramme.

Das konjunkturell eher entspannte Umfeld (Arbeitslosenrate und Inflation sinken) dient seinem Kabinett als Rechtfertigung für den Umbau der Arbeitslosenbezüge (»Wenn der Markt dynamisch ist, muss man an die Arbeit zurückkehren«, sagte die Arbeitsministerin). Doch selbst der moderate CFDT-Gewerkschaftsvorsitzende Laurent Berger gibt zu bedenken, dass Arbeitslosigkeit nichts sei, was man sich aussuche. Die härteste Reform seit 25 Jahren sei mörderisch und beschwöre Dramen herauf. Zwar hat der Gewerkschaftsbund CGT Verfassungsbeschwerde eingelegt, doch der Mobilisierungsfaktor des Themas blieb sowohl vor als auch nach der Verkündigung des Gesetzes gering. Unter den Bannern der Haushaltskonsolidierung und des Anreizes zur Arbeit betrifft die Reform vor allem die Einkommen der Prekärsten, stellt die Zeitung Le Monde fest.

Derzeit sind 6,5 Mio. Franzosen bei der staatlichen Arbeitsvermittlung registriert, mit und ohne Ansprüche auf laufende Zuwendungen. Von den derzeit gemeldeten 1,4 Mio. Arbeitslosen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld werden rd. 710.000 schwerer Zugang zum Arbeitslosengeld bekommen. Bereits vorher war das Arbeitslosengeld zeitlich begrenzt und wird anschließend durch die allgemeine Sozialhilfe ersetzt.

Im April (nach der Kommunalwahl) soll die eigentliche Höhe der individuellen Sozialleistung neu festgesetzt werden. Umgekehrt soll ab 2021 ein Bonus/Malus-System den Missbrauch von befristeten Arbeitsverträgen erschweren. 3,4 Mrd. Euro will die Regierung in den kommenden drei Jahren mit dem Maßnahmenpaket einsparen.

Um überhaupt anspruchsberechtigt zu sein, muss man künftig in den letzten 24 Monaten sechs Monate gearbeitet haben (bisher vier Monate Arbeit in 28 Monaten). Auf diese Weise werden rd. 200.000 Lohnabhängige aus dem System unmittelbar ausgeschlossen. Der Anspruch auf eine bestimmte Zeit der Bezüge wird gesenkt, und kann auch nicht mehr durch zusätzliche kurzfristige Beschäftigung erneut angehoben werden (was bisher Kurzzeitverträge auch für Arbeitnehmer*innen attraktiv machen konnte).

Besonders hart trifft die Reform Führungskräfte mit mehr als 4.500 Euro Monatseinkommen. Die Höhe ihrer Arbeitslosenbezüge wird ab dem siebten Monat der Arbeitslosigkeit um rund 30% gesenkt. Für Soloselbständige wird ein sechsmonatiges Übergangsgeld von 800 Euro eingeführt, wenn ihr Geschäft in die Pleite geht.

Die Höhe der Bezüge wird nicht mehr auf Basis der gearbeiteten Tage, sondern des Durchschnittseinkommens der gesamten Erwerbstätigkeit berechnet, was nach Berechnungen des Arbeitsamtes für rd. 850.000 Arbeitslose eine Absenkung der monatlichen Bezüge um durchschnittlich 22% bedeutet, für 190.000 unter ihnen, die weniger als halbtags gearbeitet haben, sogar um 50%. Im Gegenzug soll die Bezugsdauer auf 10 Monate verlängert werden.

Die Betroffenen berichten von ihren Ohnmachtsgefühlen: »Ich bin wie gelähmt und kann kaum noch meine Meldung beim Amt erneuern«, berichtet eine Frau, deren Miete vom Sozialamt übernommen wird, weil ihr derzeitiger Job in der Kinderbetreuung gerade mal 500 Euro einbringt. »Es ist zum Kotzen. Will man, dass man um jeden Preis malocht, nur um einen Sechs-Monatsvertrag zu bekommen?«, fragt sich ein Techniker aus dem Baugewerbe, der seit 2017 auf Arbeitssuche ist und sich mit Kurzverträgen in einem Krankenhaus und Textilunternehmen über Wasser hält.

Für die 600 Gelbwesten, die sich am 1. November auf der 4. Nationalen »Versammlung der Versammlungen« trafen, spielte dieser Umbau der Sozialsysteme und der weitere Verlust sozialer Sicherheit kaum eine Rolle. Für sie steht der laufende Lebensunterhalt bereits infrage. Die Delegierten von rund 200 »Kreisverkehren« befassten sich angesichts ihrer schwächelnden Bewegung damit, wie die Verbindung mit der Bevölkerung neu geknüpft werden kann, wie mit anderen Bewegungen konkret zusammengearbeitet werden soll, was zu tun sei angesichts der staatlichen Repression und wie Gegner und Verbündeten zu definieren sind, und wie die Bewegung sich im Kontext der Kommunalwahlen verhalten soll. Da Journalist*innen ausgeschlossen waren, blieben die Antworten weitgehend der Öffentlichkeit verborgen.

Die Arbeitslosen werden, im Gegensatz zu den Rentner*innen[1], von den Rechtspopulisten vom Rassemblement National nicht unterstützt, in deren Agitation werden diese sogar als Sozialschmarotzer (»Assistanat«) verunglimpft. Darüber hinaus ist die nationale Sammlung von Marine Le Pen auch eher mit dem eigenen Image beschäftigt, da einer ihrer Kandidaten bei den letzten Kommunalwahlen, bei der er 14,62% erzielte, durch einen terroristischen Überfall auf eine Moschee mit zwei Verletzten das »entdiabolisierte« Saubermann-Image der Partei beschädigt hat. Kurz zuvor war bereits ein Regionalratsmitglied durch einen verbalen Angriff auf eine Begleitperson mit Kopftuch unangenehm aufgefallen, was in den Massenmedien wieder die den Rechten nützende Debatte über das Tragen dieses angeblich religiösen Kleidungsstückes im öffentlichen Raum auslöste.

Der bewaffnete Täter sei schon unmittelbar nach der Wahl 2015 ausgeschlossen worden, weil der bekennende Fan des gerade wegen Anstiftung zum religiösen Hass verurteilten rechtsradikalen Journalisten Eric Zemmour Reden gehalten habe, die »gegen den Geist und die politische Linie des RN gerichtet« waren, wie es in einem Kommuniqué hieß. Aus der Partei hörte man, dass die Tat ein »schändlicher und unausgewogener Akt« sei. Der »Staat müsse mit aller Härte gegen jene vorgehen, die Gewalt säen«. Der Versuch, sich von den Rechtsradikalen um die Le Pen-Nichte Marion Marechal abzugrenzen, wird immer wieder scheitern.

[1] Vgl. Bernhard Sander, Frankreich – die extreme Rechte vor einem weiteren Durchbruch, in: Sozialismus Heft 11-2019.

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