22. Januar 2024 Andrew Fisher: Neuer Anlauf nach 100 Jahren

Bilanz und Ausblick britischer Labour-Regierungen

Vor 100 Jahren trat die erste Labour-Regierung ihr Amt an. Umfragen deuten darauf hin, dass die Labour Party im Jubiläumsjahr wieder an die Regierung kommen könnte.

Ramsay MacDonald wurde am 22. Januar 1924 mit nur 191 Abgeordneten in einer Minderheitsregierung Premierminister. Seitdem war die Partei insgesamt nur 33 Jahre lang im Amt und stellte in dieser Zeit nur sechs Regierungschefs, während in den anderen 67 Jahren 14 Premierminister*innen aus der Konservativen Partei der Regierung vorstanden. Dennoch sind es in vielerlei Hinsicht die Labour-Regierungen, die unser Leben am meisten geprägt haben. Und es ist ein Signal an den aktuellen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer, welchen Einfluss er als Premierminister in Downing Street 10 haben könnte.

Trotz des Zustands, in dem sich unser Wohlfahrtsstaat heute befindet, haben wir es der Labour-Regierung von 1945 zu verdanken, dass wir einen nationalen Gesundheitsdienst, ein Sozialversicherungssystem und einige Überbleibsel von Rechtshilfe haben.

Den Regierungen von Harold Wilson in den 1960er- und 1970er-Jahren verdanken wir die Legalisierung der Homosexualität, die Abschaffung der Todesstrafe und das Recht der Frauen auf gleichen Lohn. Und die vorerst letzten Labour-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown haben uns den Mindestlohn, die Teilautonomie in Wales und Schottland, die kommunale Selbstverwaltung Londons und das Belfaster Karfreitagsabkommen gebracht.

Wahlplakat aus dem Jahr 1959

Obwohl Labour-Regierungen selten dauerhaft an der Macht waren, haben viele ihrer Maßnahmen Bestand und sind zu Institutionen geworden. Wir nehmen sie als selbstverständlich hin, weil sie heute unumstritten zu sein scheinen – aber viele wurden damals von den Konservativen, einem Großteil der Presse und auch von Teilen der Wirtschaft vehement abgelehnt.

Was könnte eine Labour-Regierung heute von ihren Vorgängern lernen? Wie Gordon Brown in seiner Parteitagsrede vor über 20 Jahren sagte, ist Labour »am besten, wenn wir am kühnsten sind«.

Angesichts des konservativen Erbes, das die nächste Labour-Regierung antreffen wird – eine stagnierende Wirtschaft, steigende Armut und Arbeitslosigkeit, Rekordwartelisten in Krankenhäusern und Arztpraxen und die Klimakrise – war die Notwendigkeit, die Probleme mutig anzupacken, selten größer.

Ein Kabinett Starmer wird wahrscheinlich die schlechteste Wirtschaftslage erben, die eine neue Regierung – gleich welcher Partei – seit Clement Attlee 1945 erlebt hat. Angesichts dieses düsteren wirtschaftlichen Erbes sollte es die heutigen Labour-Anhänger beunruhigen, dass das derzeitige politische Angebot angesichts der Größe der Aufgabe wie ein Zwerg aussieht.

Vorbei sind die beflügelnden Tage des Jahres 2020, als Starmer versicherte, Jeremy Corbyns Manifest von 2017 sei »unser Grundlagendokument«, oder die Tage des Jahres 2021, als Starmer Attlee als sein Vorbild beschwor: »Es liegt eine Stimmung in der Luft, die wir in Großbritannien nicht oft erleben. Sie war 1945 da, nach den Opfern des Krieges, und sie ist jetzt wieder da. Es ist die Entschlossenheit, dass unsere kollektiven Opfer zu einer besseren Zukunft führen müssen.«

Das Bonmot »It's the economy, stupid« war noch nie so zutreffend wie heute, wenn man bedenkt, warum Labour-Regierungen im Allgemeinen so kurzlebig waren. Die Regierungen von MacDonald, Attlee, Wilson, James Callaghan und Brown wurden alle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, durch Wirtschaftskrisen und ihre Reaktion darauf zu Fall gebracht. Starmer sollte diese Warnung der Geschichte beherzigen, wenn er mehr als eine Amtszeit als Premierminister erreichen will.

Der Widerspruch, der den Labour-Regierungen der letzten 100 Jahre zugrunde liegt, ist folgender: Sie wollen den wirtschaftlichen Wandel minimieren, eine atlantische Außenpolitik betreiben und eine gerechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft schaffen. Aber wenn es zum unvermeidlichen Konflikt zwischen Wirtschafts-, Außen- und Sozialpolitik kommt, werden die sozialen Ziele in der Regel über Bord geworfen.

Als »größten Verrat in der politischen Geschichte dieses Landes« bezeichnete Attlee das Vorgehen der zweiten Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald im Jahr 1931. Angesichts einer wirtschaftlichen Depression und steigender Arbeitslosigkeit schlug MacDonald vor, die Leistungen für Arbeitslose zu kürzen. Die meisten Labour-Abgeordneten lehnten dies ab, woraufhin MacDonald und sein Finanzminister Philip Snowden aus der Labour Party ausgeschlossen wurden. Sie und ihre verbliebenen Anhänger bildeten daraufhin eine von den Konservativen dominierte Regierung, um die Austeritätspolitik umzusetzen. Die anderen Parteien waren mehr als bereit, einem nominellen Labour-Premierminister die Führung einer Koalition zu überlassen, die Kürzungen bei der sozialen Sicherheit und den öffentlichen Ausgaben vornahm.

Clement Attlee bei den Parlamentswahlen 1945

Attlee ist insofern ein Sonderfall unter den Labour-Vorsitzenden, als er nicht an einer schlechten Wirtschaftslage scheiterte, sondern an einer schlechten wirtschaftspolitischen Entscheidung bei der Abwägung von Sozial- und Außenpolitik. Er kam mit einem klaren sozialistischen Manifest an die Regierung (»Die Labour Party ist eine sozialistische Partei, und sie ist stolz darauf«), sah sich mit unglaublich schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen konfrontiert und setzte dennoch vieles davon um. Obwohl er ein Land erbte, dessen Staatsverschuldung mehr als doppelt so hoch war wie heute, baute Attlee den staatlichen Gesundheitsdienst und den Wohlfahrtsstaat auf, führte Prozesskostenhilfe ein, startete ein massives Programm zum Bau von Sozialwohnungen und verstaatlichte unter anderem die Wasser-, Telekommunikations- und Energieversorgung sowie die Eisenbahnen.

Anfang der 1950er-Jahre sah sich Attlee jedoch mit einem anderen Problem konfrontiert. Die Wirtschaft wuchs stark, aber die USA, die in den Koreakrieg verwickelt waren, forderten eine Aufrüstung. Vor die Wahl zwischen Aufrüstung und sozialen Errungenschaften gestellt, führte Attlee die Rezeptgebühren und die Gebühren für zahnärztliche und augenärztliche Behandlungen sowie für Optikerleistungen wieder ein. Die US-Interessen in Korea hatten Vorrang vor der öffentlichen Gesundheit. Der Gründer des NHS, Nye Bevan, trat daraufhin aus dem Kabinett zurück. Trotz seiner bleibenden Erfolge verlor Attlee bei den Wahlen 1951 sein Amt.

Nur Harold Wilson widersetzte sich der amerikanischen Außenpolitik. Trotz des Drucks aus dem Weißen Haus weigerte sich das Vereinigte Königreich, Truppen nach Vietnam zu entsenden, wie es Attlee in Korea getan hatte. Wie seine Vorgänger schränkte auch Wilson seine sozialen Ambitionen ein, als die Wirtschaftskrise einsetzte.

Nicht nur im Vereinigten Königreich stehen in diesem Jahr Parlamentswahlen an, sondern im November auch in den USA. Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahl wird für Starmer von Bedeutung sein. Er hat sich bisher eng mit Biden abgestimmt, was die Unterstützung der israelischen Bombardierung des Gazastreifens, die Luftangriffe auf den Jemen und die Unterstützung der Ukraine betrifft.

Als Callaghan 1976 nach der zweiten Wilson-Regierung die Regierung übernahm, beging er den Fehler, die Löhne im öffentlichen Sektor zu kürzen und öffentliches Eigentum zu veräußern, was zu massiven Streiks im öffentlichen Sektor und zur Wahl von Margaret Thatcher führte.

Tony Blair und Gordon Brown

Die New-Labour-Regierungen von Blair und Brown (1997-2010) schreckten von Anfang an vor großen wirtschaftlichen Veränderungen zurück. Die Thatcher-Regierung hatte öffentliches Eigentum privatisiert, Gewerkschafts- und Arbeitsrechte beschnitten und ihre wirtschaftspolitische Strategie reichte nicht über den Finanzmarkt der Londoner City hinaus.

Wie Blair selbst sagte: »Ich dachte immer, meine Aufgabe sei es, auf einigen der Dinge aufzubauen, die sie getan hatte, und nicht, sie rückgängig zu machen.« Trotz aller positiven Errungenschaften (Mindestlohn, Menschenrechtsgesetz, Vorschulförderprogramm Sure Start, Informationsfreiheitsgesetz, Frieden in Nordirland) hatte New Labour die Grundlagen des Thatcherschen Erbes nicht beseitigt. In mancher Hinsicht ging sie sogar über deren Deregulierungen hinaus.

Als der globale Finanzcrash 2007/08 die Wirtschaft ins Trudeln brachte, ging auch der soziale Fortschritt zurück. Die Kinderarmut nahm wieder zu, die Löhne stagnierten. Das Ausbleiben struktureller Veränderungen bedeutete, dass die Errungenschaften der Labour Party nur vorübergehend waren, und wieder rückgängig gemacht werden konnten. Dieser Prozess, der durch die Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten (2010-2015) beschleunigt wurde, leitete für die Labour Party 14 Jahre in der Opposition ein.

Wie es auch 2024 der Fall sein dürfte, erbte Labour 1924 eine schwache Wirtschaft und steigende Arbeitslosigkeit. Die Labour-Minderheitsregierung erhöhte damals die Arbeitslosenunterstützung, was der Arbeiterklasse direkt zugutekam. Ihr größtes Vermächtnis war jedoch die Wohnungspolitik, die von John Wheatley, der als Gesundheitsminister auch für die Wohnungspolitik zuständig war, vorgeschlagen wurde.

Während des Ersten Weltkriegs hatte Wheatley gegen die Wehrpflicht gekämpft und war an der Organisation von Mieterstreiks in Glasgow beteiligt (was heute wahrscheinlich zum Ausschluss aus der Labour Party führen würde). Unter Wheatley wurde ein Wohnungsbaugesetz verabschiedet, das den Bau von Sozialwohnungen subventionierte, »zu Mieten, die sich Arbeiter leisten können«, wie die Times schrieb.

Obwohl die Labour Party damals nur neun Monate an der Macht war, wurde das Gesetz verabschiedet und die Politik umgesetzt, wodurch auch Arbeitsplätze in der angeschlagenen Bauindustrie geschaffen wurden. Bis 1933 wurden im Vereinigten Königreich mehr als eine halbe Million Sozialwohnungen gebaut.

Heute, 100 Jahre später, hat die Labour Party keine Pläne zur Erhöhung der Sozialleistungen, obwohl sie den Bau von 1,5 Mio. Wohnungen zugesagt hat. Der Bau von mehr Wohnungen ist zwar begrüßenswert, reicht aber nicht aus. Auch die Eigentumsverhältnisse spielen eine Rolle, und Starmers Labour Party hat sich bisher geweigert zu sagen, wie viele dieser Wohnungen Sozialwohnungen für die Arbeiterklasse sein werden. Angesichts der Rekordzahl obdachloser Familien und der Tatsache, dass mehr Kinder als je zuvor das letzte Weihnachtsfest in provisorischen Unterkünften verbracht haben, war ein massives Programm für den Bau von Sozialwohnungen noch nie so dringend notwendig wie heute.

Eine weitere Persönlichkeit der Labour Party, die sich um den sozialen Wohnungsbau verdient gemacht hat, war Nye Bevan, Gesundheitsminister der Labour Party in der Nachkriegszeit. Bevan, besser bekannt für den Aufbau des NHS, war wie Wheatley auch für die Wohnungspolitik zuständig. Bis 1951 hatte die Regierung Attlee über 800.000 Sozialwohnungen gebaut, bis 1955 waren 1,5 Millionen Sozialwohnungen fertiggestellt. Wie bei Wheatley überdauerte auch Bevans Vermächtnis seine Amtszeit – es sind die herausragenden Politiker, die die Bedingungen festlegen, unter denen ihre Nachfolger arbeiten müssen.

Ich habe diesen Beitrag mit einem Zitat von Gordon Brown über Kühnheit begonnen. Ich möchte mit Bevans Worten zu diesem Thema schließen: »Der Kühnheit der Worte muss die Kühnheit der Taten folgen, oder das Ergebnis wird ein allgemeines Unbehagen sein.«

Hundert Jahre nach der ersten Labour-Regierung riskiert Starmer ein »allgemeines Unbehagen« (oder Schlimmeres), solange er nicht »Kühnheit in Taten« beweist. Die gegenwärtige Situation verlangt danach.

Andrew Fisher ist freiberuflicher politischer Analyst und Kolumnist. Von 2016 bis 2019 war er Leiter der Grundsatzabteilung (Executive Director of Policy & Research) der Labour Party. In Sozialismus.de 11-2023 schrieb er zusammen mit John McDonnell über die »Die Aufgaben einer künftigen Labour-Regierung. Bestandsaufnahme des Erbes langjähriger Austeritätspolitik«. Der hier dokumentierte Beitrag erschien zuerst am 22.1.2024 unter dem Titel »What every Labour Prime Minister got wrong« in seiner Kolumne in der Londoner Tageszeitung The i (i-news) (Übersetzung: Hinrich Kuhls).

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