8. Juni 2023 Mariana Mazzucato: Ohne Industriepolitik keine zukunftsorientierte Wirtschaft

Brexit-Britannien gehen die Akkus aus

Öffentliche Ausgaben und Investitionen können langfristiges Wachstum sichern. Die Wachstumsfrage muss sich weniger auf die Wachstumsrate als auf die Wachstumsrichtung konzentrieren. Diese Orientierung an einer Ökonomie der Hoffnung ist der Tory-Regierung fremd.

Die britische Regierung steht kurz vor einer Einigung mit Jaguar Land Rover, einem Unternehmen des indischen Mischkonzerns Tata. Das Unternehmen wird in Somerset, im Südwesten Englands, eine Batteriefabrik für Elektrofahrzeuge errichten und dafür rund 500 Mio. Pfund an Subventionen erhalten. Jaguar Land Rover hatte zuvor gewarnt, dass der Brexit die Produktion in Britannien unrentabel machen könnte.

Dies ist nicht das erste Mal, dass das Tory-Kabinett mit den Auswirkungen des Brexits auf Investitionen konfrontiert ist. Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, bedeutet einen Produktionsverlust in Höhe von 100 Mrd. Pfund pro Jahr.[1] Von mehr als 100 führenden britischen Herstellern gab fast die Hälfte an, dass ihre EU-Lieferanten vorsichtiger geworden sind, wenn es um Geschäfte im Vereinigten Königreich geht.

Sollte die Regierung also versuchen, das Vereinigte Königreich durch Deals wie diesen wettbewerbsfähiger zu machen? Die Antwort ist, dass einmalige Deals leider nicht funktionieren. Wenn dies mehr sein soll als ein verzweifelter Versuch, die Kapitalflucht zurückzudrängen, brauchen die Minister*innen einen durchdachteren Ansatz für die Industriestrategie. Die Abkommen müssen Teil eines umfassenderen Plans sein, der die Investitionen mit den Verpflichtungen zur Dekarbonisierung des Verkehrs[2] und der Lieferketten in der gesamten Wirtschaft in Einklang bringt.

An dieser Front steht das Vereinigte Königreich in einem harten Wettbewerb. Die USA und die EU erhöhen ihre Investitionen in die Industriestrategie. Die Industriestrategie der USA könnte dazu führen, dass die öffentlichen und privaten Investitionen in den nächsten zehn Jahren insgesamt rund 3,5 Bio. US-Dollar erreichen.[3] Gleichzeitig stattet die EU ihr bisher größtes Konjunkturpaket mit einem Volumen von zwei Bio. Euro aus, um eine grüne und digitale Zukunft zu schaffen.[4] Das Vereinigte Königreich hat nichts von alledem. Im Gegenteil, mit der Rückkehr zur Austeritätspolitik bewegt sich das Land in die entgegengesetzte Richtung.

Da hilft es auch nicht, dass sich die britische Industriepolitik jedes Jahr zu ändern scheint. Mit jedem Wechsel an der Spitze der zuständigen Ministerien wird das Rad neu erfunden und ein neuer Wachstumsplan mit neuen Prioritäten, Anreizen und Subventionen vorgelegt.

Es gibt einige positive Entwicklungen, wie das Ziel, den Verkauf von Autos mit Verbrennungsmotor bis 2030 einzustellen und bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, sowie einen Zehn-Punkte-Plan für eine grüne industrielle Revolution, der schon 2020 angekündigt wurde.[5] Vielversprechend ist auch die Möglichkeit, den Jaguar-Deal mit einem entsprechenden Anreizpaket zu verknüpfen, das Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Stahlwerke von Tata in Großbritannien beinhaltet.

Aber die Regierung muss noch weiter gehen. Das Vereinigte Königreich muss alle Sektoren, einschließlich der Automobilindustrie, in ein ehrgeiziges Projekt einbinden, um die Wirtschaft viel stärker auf eine inklusive und nachhaltige Zukunft auszurichten, die den Unternehmen langfristige Sicherheit bietet. Die enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen – sei es die Umweltkrise oder das völlig unzureichende öffentliche Gesundheitswesen – können nicht losgelöst von der schwierigen wirtschaftlichen Entwicklung des Vereinigten Königreichs betrachtet werden.

Das Vereinigte Königreich hat das langsamste Wachstum der G7-Länder. Die Unternehmensinvestitionen stiegen um 19% weniger als im G7-Durchschnitt. Die 2017 verabschiedete Industriestrategie wurde in den folgenden Jahren mehr oder weniger aufgegeben, da die Aufmerksamkeit der Politik durch den Brexit und die dadurch ausgelöste Kapitalflucht in Anspruch genommen wurde. Dies zeigte sich auch darin, dass die Regierung Nissan 2018 heimlich Unterstützung anbot, um dem Unternehmen bei der Bewältigung der Auswirkungen des Brexits zu helfen. Die Regierung hofft nun, dass die gleiche Strategie auch bei Jaguar Land Rover wieder funktionieren wird.

Im Jahr 2019 leitete ich zusammen mit David Willetts, der von 2010 bis 2014 Wissenschaftsminister im Kabinett von David Cameron war, eine Kommission, die die Innovations- und Industriestrategie der Regierung vorbereitete. Während frühere Strategien dazu tendierten, sich auf bestimmte Leitsektoren mit den besten Prognosen zu fokussieren, konzentrierte sich diese Strategie auf vier Herausforderungen, darunter sauberes Wachstum und die Zukunft des Verkehrs.

Darüber hinaus wurden für jeden Bereich spezifische Aufgaben definiert und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Forschung und Innovation hervorgehoben. Keir Starmers »Missionen« könnten von diesem Ansatz profitieren. Wachstum ist beispielsweise keine Mission,[6] sondern das Ergebnis einer sektorübergreifenden Investitionsstrategie, die neue Formen der Ausbildung und Zusammenarbeit erfordert.

Der Übergang von punktuellen Subventionsvereinbarungen zu einer ehrgeizigen und umfassenden Industriestrategie erfordert eine klare Ausrichtung und Koordinierung von Investitionen und Innovationen auf ehrgeizige Ziele. Die Regierung wird alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen müssen, von Investitionen in Forschung und Entwicklung bis hin zu ihrer Beschaffungspolitik. Sie wird auch einen neuen Ansatz für öffentlich-private Partnerschaften wählen müssen.

Dabei sollte es weniger darum gehen, »unternehmensfreundlich« zu sein, sondern vielmehr darum, gemeinsame Ziele zu erreichen und symbiotische statt parasitäre Beziehungen aufzubauen. Auch im öffentlichen Sektor sind erhebliche Investitionen erforderlich. In Britannien hat sich die Sucht verfestigt, die Kernfunktionen des öffentlichen Sektors auszulagern, ein Prozess, den Lord Agnew als »Infantilisierung von Exekutive und Legislative« bezeichnet hat.

Wir haben gesehen, wie dieser vorausschauende Ansatz funktionieren kann. Deutschland hat dem Stahlsektor über die staatliche KfW Kredite gewährt, diese aber an die Bedingung geknüpft, dass der Sektor an der Reduzierung der Kohlenstoffemissionen mitarbeitet. Ein weiteres Beispiel aus den USA ist Bidens Chips Act, der darauf abzielt, die verarbeitende Industrie zu finanzieren, indem die Finanzierung an Bedingungen geknüpft wird, die die Möglichkeiten der Begünstigten einschränken, ihre eigenen Aktien zurückzukaufen. In Frankreich wurden die Covid-19-Rettungsfonds an die Bedingung geknüpft, die nationalen Kohlendioxidemissionen innerhalb von fünf Jahren zu reduzieren. Im Gegensatz dazu hat die britische Regierung der vom Konkurs bedrohten Fluggesellschaft easyJet 600 Mio. Pfund ohne Auflagen geliehen.

Das Vereinigte Königreich braucht mehr denn je eine ehrgeizige Industriestrategie. Um dies zu erreichen, muss die Regierung einen systematischen Ansatz verfolgen, symbiotische Partnerschaften mit dem Privatsektor eingehen und in die Fähigkeit des Staates investieren, eine aufgabenorientierte Politik zu gestalten und die Bürger*innen effektiv einzubeziehen. Hinterzimmer-Deals sind keine Alternative.


Mariana Mazzucato
ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value am University College London, wo sie das Institute for Innovation and Public Purpose leitet. Aktuelle Buchpublikation (zusammen mit Rosie Collington): »Die große Consulting-Show. Wie die Beratungsbranche unsere Unternehmen schwächt, den Staat unterwandert und die Wirtschaft vereinnahmt« (Frankfurt a.M. 2023).

Als Vorsitzende des WHO-Rats für die Ökonomie der Gesundheit für alle warnt sie aktuell davor, dass die Schlussfolgerungen ihres Abschlussberichts zur Covid-19-Pandemie (globale Gesundheitsgerechtigkeit, Gemeinwohlorientierung medizinischer Forschung, neue globale Finanzierungsmechanismen) nicht von den WHO-Mitgliedsstaaten als Orientierung in den Verhandlungen für das neue Pandemie-Abkommen aufgegriffen werden. Ihr Plädoyer für eine Neuausrichtung staatlichen Handelns hat sie ausführlich in ihrem Buch »Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft« (Frankfurt a.M. 2021) begründet. Vgl. hierzu auch Joachim Bischoff/Björn Radke: »Nach der Pandemie: Big Government oder ›starker Staat‹. Die Aktualität der Staatsfrage«, in Sozialismus.de 9-2021, S. 10-15.

Der hier dokumentierte Beitrag erschien unter dem Titel »Running out of battery: how post-Brexit Britain is failing to set up a future-focused economy« zuerst am 31.5.2023 in The Guardian. (Übersetzung: Hinrich Kuhls)

Anmerkungen

[1] Andrew Atkinson: Brexit Is Costing the UK £100 Billion a Year in Lost Output, Bloomberg, 31.1.2023; vgl. die Newsletter-Zusammenfassung.
[2] Department for Transport: Decarbonising Transport: A Better, Greener Britain. Juli 2021.
[3] Remarks on Executing a Modern American Industrial Strategy by NEC Director Brian Deese, The White House, 13.10.2022.
[4] Europäischer Aufbauplan. MFR 2021–2027 und NextGenerationEU, Europäische Kommission.
[5] Department for Energy Security and Net Zero: The Ten Point Plan for a Green Industrial Revolution, November 2020.
[6] Tom Kibasi: Mission Economy by Mariana Mazzucato review – the return of the state. The Guardian, 20.1.2021.

Zurück