12. Dezember 2018 Hinrich Kuhls: Konzessionsgespräche der britischen Premierministerin

Brexit unter Zeitdruck

Die britische Premierministerin Theresa May hat mit einer einsamen Entscheidung das britische Parlament düpiert. Sie hat den Abschluss der Ratifizierungsdebatte unterbunden, um Nachverhandlungen zum Brexit-Vertrag mit dem Europäischen Rat anzustreben.

Die Gefahr, dass nach einem disruptiven Ausscheiden des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union die europäischen Volkswirtschaften in eine tiefe Rezession rutschen, hat sich verschärft.

Der Europäische Rat und die britische Premierministerin hatten sich am 25. November auf den Brexit-Vertrag geeinigt, der den Austrittsvertrag inklusive Übergangsperiode (bis spätestens Ende 2022) und Nordirland-Protokoll sowie die Politische Erklärung über die zukünftigen EU-UK-Beziehungen umfasst. Für das Ratifizierungsverfahren hatte das britische Parlament zum Zeitpunkt das Austrittsgesuchs im März 2017 durchgesetzt, dass das Verhandlungsergebnis zunächst vom Parlament nach inhaltlicher Aussprache (»meaningful vote«) gebilligt werden muss.

Im Zuge der Ratifizierung hatte sich das Unterhaus auf Vorschlag der Regierung auf eine fünftägige Debatte geeinigt, die am 11. Dezember mit einer Abstimmung zum Vertrag hätte abgeschlossen werden sollen. Schon zum Zeitpunkt der Paraphierung des Vertrags in Brüssel war absehbar, dass May für ihr Verhandlungsergebnis keine parlamentarische Mehrheit finden würde.

Zu Beginn der Debatte verdichtete sich die Vermutung zur Gewissheit, dass der Regierungsantrag zur Billigung des Vertrags nicht nur durchfallen würde, sondern dass das Parlament die Handlungsfreiheit der Regierung mit Zusatzanträgen zum weiteren Verfahren einschränken würde.

In den ersten drei Tagen hatten 164 Abgeordnete ihre Position zum Vertrag vorgetragen. Nicht nur die Redner*innen aus den Oppositionsparteien und – mit unterschiedlicher Begründung – aus dem rechtspopulistisch-nationalkonservativen und dem kleinen pro-europäischen Flügel der Konservativen Partei verdeutlichten ihre Ablehnung, sondern auch vereinzelt und zunehmend aus dem Zentrum der Konservativen Partei.

In den Medien wurde der Premierministerin eine Niederlage mit einem Stimmenverhältnis von 200 zu 400 Stimmen vorhergesagt. Für die verbleibenden zwei Tage zu Beginn der neuen Sitzungswoche hatten weitere 150 (von insgesamt 650) Parlamentarier*innen ihren Beitrag angekündigt.

Dessen ungeachtet verpflichtete May alle Regierungsmitglieder darauf, übers Wochenende aktiv in den Medien und in Wahlkreisveranstaltungen dafür zu werben, dass es zum vorliegenden Vertrag keine Alternative gäbe, dass er unverhandelbar sei und dass die Abstimmung auf keinen Fall verschoben werde. Noch am Montagmorgen behaupteten Minister, die Abstimmung würde wie vorgesehen am Dienstagabend stattfinden – nur um am Mittag von der Regierungschefin damit konfrontiert zu werden, dass sie die Ratifizierungsdebatte sofort abbrechen und die Abstimmung aussetzen werde.

Nicht einmal auf ein ungefähres Datum konnten die anderen Mitglieder des Kabinetts ihre Chefin festlegen – eines Kabinetts, dessen »kollektive Verantwortung« die Premierministerin zuvor nicht oft genug hatte betonen können und aus dem sich seit ihrem Regierungsantritt schon acht Mitglieder verabschiedet hatten.

Da laut britischer Verfassung die Regierung das letzte Wort über die Tagesordnung des Parlaments hat, war der einsame Beschluss der Premierministerin nicht aufzuhalten. Der in der neueren Geschichte einmalige Vorgang, dass eine zentrale Debatte vorzeitig ohne vorherigen parlamentarischen Beschluss von der Exekutive unterbunden wird, ist der Höhepunkt des Versuchs der Premierministerin, die Legislative möglichst weit von der Gestaltung des Austrittsvertrags fernzuhalten. In diesem Prozess der Verselbständigung der Exekutive hat sie ihr Handeln immer mit dem direkten Bezug zum Willen jener Hälfte der Bevölkerung begründet, die für den Brexit votiert hat.

Dem Debattenabbruch konnte das Parlament nur eine Dringlichkeitssitzung entgegensetzen, in der die Rüpelhaftigkeit der Regierung gegenüber dem britischen Souverän zum Thema gemacht wurde. Den von Oppositionsführer Jeremy Corbyn eingebrachten Antrag unterstützten geschlossen die Fraktionen aller Nicht-Regierungsparteien – einschließlich vieler Abgeordneter aus der Fraktion der Konservativen Partei.

Die schottische SNP, die walisische Plaid Cymru, die Liberaldemokraten und die Grüne Abgeordnete Caroline Lucas drängen Corbyn, möglichst bald einen Misstrauensantrag zu stellen, den sie geschlossen unterstützen würden. Aus den Reihen der Fraktionsführung der Labour Party heißt es dazu, ein Misstrauensantrag sei frühestens nach einer Abstimmungsniederlage der Regierung zum Austrittsvertrag geboten.

Das überparteiliche Bündnis »People’s Vote«, das von denselben vier Oppositionsparteien mitgetragen wird, im dem auch Abgeordnete der Labour Party und der Konservativen vertreten sind und das auf der Massendemonstration mit 700.000 Teilnehmer*innen im Oktober aufbaut, drängt auf ein zweites Referendum.

Die nordirische DUP, die mit ihren zehn Abgeordneten bisher die konservative Minderheitsregierung gestützt hat, und der ERG-Flügel der Konservativen tragen zwar nicht den Brexit-Vertrag mit, würden aber keinen Misstrauensantrag der Opposition unterstützen, und selbst bei einem Erfolg bedeutete er keinen Regierungswechsel oder Neuwahlen, sondern eine Umbildung des Kabinetts unter neuer Führung. Das Problem des drohenden disruptiven Brexits Ende März wäre damit nicht vom Tisch.


Zum Hintergrund des Verfassungskonflikts

Die britische Regierung hatte vor Vertragsabschluss zugesagt, rechtzeitig vor der Generaldebatte zwei zur Beurteilung ihres Verhandlungsergebnisses zentrale Dokumente vorzulegen: eine Abschätzung der Folgekosten der ausgehandelten Version des harten Brexits und ein Weißbuch zur Regelung der Migration nach vollzogenem Austritt aus der EU. Außerdem war sie durch Parlamentsbeschluss verpflichtet worden, das juristische Gutachten des Generalstaatsanwalts (Attorney General) zu den Auswirkungen des Vertrags auf die britische Verfassung vorzulegen.

Die Migrationsfrage, insbesondere die Arbeitsmigration aus der EU, war das zentrale Thema, das den Brexit-Befürwortern 2016 den Erfolg gebracht hatte. Das Migrations-Weißbuch mit der Darlegung des Post-Brexit-Grenzregimes ist seit Sommer 2017 etliche Male angekündigt und genauso oft verschoben worden. Die entscheidende Frage hier wird sein, inwieweit die angekündigte Einschränkung der Personenfreizügigkeit mit den im Austrittsvertrag getroffenen Regulierungen zur gegenseitigen Anerkennung der Bürgerrechte im UK und in der EU konform geht.

Zu den ökonomischen Auswirkungen des Brexits hat die Regierung eine Langzeitanalyse mit verschiedenen Szenarien vorgelegt, wonach jegliche Variante des Brexits und der zukünftigen Beziehungen zu geringeren Wachstumsraten führt als eine Fortsetzung der Mitgliedschaft in der EU. Auftragswidrig hat die Regierung aber nicht das Szenario durchgerechnet, dass sie mit dem Austrittsvertrag ausgehandelt und auch zur Abstimmung gestellt hatte.

Der Finanzausschuss des Unterhauses kritisierte die Regierungsinformation als unzureichende Grundlage für den Ratifizierungsprozess: »Die vorgelegten Informationen enthalten jedoch keine Analyse der Backstop-Lösung. Bei den untersuchten Szenarien fehlen alle Analysen zu den kurzfristigen Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen und auf Arbeitsplätze in den einzelnen Regionen und Branchen. Die Regierung hat nur langfristige Analysen vorgelegt, die nicht zeigen, wie sich die Ökonomie, insbesondere Inflation und Beschäftigung, beim Übergang in die neuen Handelsbeziehungen entwickeln.« (House of Commons Treasury Committee, HC 1819, 11.12.2018)

Das Agieren der Regierung in der Frage des Rechtsgutachtens zum Nordirland-Protokoll befeuerte den Konflikt. Statt des Gutachtens publizierte sie zunächst eine politische Zusammenfassung ihrer Rechtsposition. Der Generalstaatsanwalt verteidigte das Vorgehen mit dem Verweis auf das »nationale Interesse«, das gefährdet sei, wenn jetzt Präjudizierungen für die spätere vertragliche Umsetzung der politischen Deklaration über die künftigen EU-UK-Beziehungen bekannt würden.

Geschlossen leiteten daraufhin sämtliche Oppositionsparteien plus DUP das parlamentarische Verfahren ein, mit dem die Missachtung des Parlaments durch die Regierung festgestellt wurde – ebenfalls ein Vorgang ohne Präzedenz in der modernen Verfassungsgeschichte des UK. Daraufhin publizierte die Regierung das Rechtsgutachten. Aus dem Inhalt wurde klar, warum sie es hatte unterlassen wollen. Der Generalstaatsanwalt hatte die Regierung – entgegen deren anders lautenden Beteuerungen – dahingehend beraten, dass eine dauerhafte von den anderen Landesteilen abweichende Regulierung der Handelsbeziehungen Nordirlands bei der Backstop-Lösung nicht auszuschließen ist.

Der »Backstop« ist eine Notfall-Lösung, die auf Antrag der britischen Regierung oder nach einem Scheitern der Verhandlungen über die künftigen EU-UK-Außenhandelsbeziehungen im Anschluss an die Übergangsperiode greifen soll. Notfall-Lösung bedeutet, dass das UK weiterhin Mitglied der EU-Zollunion bleibt. Für den Landesteil Nordirland insgesamt und für Warenexporte von England, Schottland und Wales nach Nordirland würden dann die Regelungen des EU-Binnenmarkts in Kraft bleiben. Die Notfallvereinbarung ist der Kompromiss, mit der beide Vertragspartner den im Belfaster Abkommen von 1998 (Karfreitagsabkommen) völkerrechtlich verbindlich festgelegten Kooperationsregelungen zur langfristigen Einhegung der Konfliktsituation in Nordirland Rechnung tragen wollen. Eine einseitige Kündigung der Backstop-Lösung ist ausgeschlossen.

Nachdem in dem Rechtsgutachten festgestellt worden ist, dass diese Situation solange andauert, bis ein Folge-Handelsabkommen ratifiziert worden ist, oder dauerhaft bestehen bleibt, falls diese Verhandlungen scheitern sollten, sind die Einwände von zwei Seiten bekräftigt worden. Vonseiten der DUP und dem rechtspopulistisch-nationalkonservativen Flügel der Konservativen wird die Regulierungsgrenze zwischen Nordirland und den anderen Landesteilen des UK als unakzeptabel kritisiert und stattdessen eine Missachtung des Karfreitagsabkommen oder ein No-Deal-Brexit in Kauf genommen.

Die Oppositionsparteien lehnen, sofern sie nicht gänzlich die Revision des Brexit-Votums fordern, die Notfall-Lösung ab, weil dieses Verfahren die Handlungsfähigkeit der Regierung einschränken würde und weil mit einer dauerhaften Zollunion die Verpflichtungen des Karfreitagsabkommens zur Kooperation zwischen Nordirland und Irland besser gewährleistet werden können.

Die Gespräche, die Premierministerin May jetzt anstrebt, sollen in einer Zusatzvereinbarung enden, die Zusicherungen zu Umfang und Dauer der Backstop-Lösung enthalten. Gleich ob dieses Verfahren zwischen May und der EU-Kommission sowie anderen Regierungschefs vorab abgesprochen worden ist oder nicht – die beiden Hauptprobleme für einen geordneten Austrittsprozess bleiben: Die britische Regierung hat keine parlamentarische Mehrheit für den ausgehandelten Vertrag. Und der Brexit gleich welcher Variante hat gravierende negative Auswirkungen für das UK und die EU.

Die erneute Verzögerung hat die Unsicherheit in der britischen Ökonomie und Zivilgesellschaft verstärkt. Die Unternehmen, die dazu in der Lage sind, verstärken die Vorbereitungen für den Fall eines ungeordneten Brexits ohne vertragliche Regelung. Die anhaltende Blockade in der politischen Klasse und der britischen Gesellschaft, das fortgesetzte fragwürdige Agieren des Europäischen Rats in den Austrittsverhandlungen und die destruktive Verhandlungsführung der britischen Premierministerin lassen die disruptive Variante des Brexits näher rücken.

[1] Eine ausführlichere Analyse zu den Brexit-Entwicklungen folgt im Januar-Heft von Sozialismus.de.

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