24. Juni 2022 Joachim Bischoff: Kein Multilateralismus ohne China

BRICS als Partner Russlands?

Foto: Xinhua

Die Staats- und Regierungschefs von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika treffen sich seit 2009 einmal pro Jahr. In diesem Jahr richtet der chinesische Präsident Xi Jinping einen virtuellen Gipfel der sogenannten BRICS-Staaten aus.

Die besondere Bedeutung des aktuellen Treffens unterstreicht im Vorfeld der Kreml-Chef Wladimir Putin: Wegen der vom Westen verhängten Sanktionen lenke Russland seine Wirtschaftskontakte und Handelsströme »aktiv auf zuverlässige internationale Partner um, zuvorderst die BRICS-Staaten«. Die Präsenz Russlands in den diesen Ländern »nimmt zu, und die Exporte von russischem Öl nach China und Indien haben deutlich zugelegt«.

Russland hat nach chinesischen Angaben im Mai so viel Öl in die Volksrepublik China verkauft wie noch nie und ist damit zum größten Öl-Lieferanten des bevölkerungsreichsten Landes der Welt aufgestiegen. Man spreche über eine verstärkte Präsenz chinesischer Autos auf dem heimischen Markt sowie über die Eröffnung indischer Supermarktketten, sagte Putin.

China hat im Mai deutlich mehr Öl aus Russland eingekauft. Die Öl-Importe aus dem Nachbarland stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 55% auf rund 8,4 Mio. Tonnen. Die Einfuhren Russlands stiegen auch im Vergleich zum April, als China noch 6,6 Mio. Tonnen bezogen hatte. Russland ist damit erstmals seit mehr als eineinhalb Jahren an Saudi-Arabien als Chinas wichtigstem Öl-Lieferanten vorbeigezogen. Saudi-Arabien lieferte im Mai 7,8 Mio. Tonnen nach China. Die Staaten der Europäischen Union hatten vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine vor wenigen Wochen weitreichende Einschränkungen bei der Einfuhr von Öl aus Russland beschlossen.


Alternative zum Swift-System

Russland arbeitet zudem gemeinsam mit seinen BRICS-Partnern an einem alternativen System für internationale Finanzabrechnungen, nachdem sein Land wegen des Einmarsches in die Ukraine weitgehend vom internationalen Zahlungsnetzwerk Swift abgeklemmt worden ist. »Das russische Finanzdatensystem ist offen für die Verbindung mit den Banken der BRICS-Länder«, betont Putin. Das sogenannte Mir-Zahlungssystem baue seine Präsenz aus. »Wir prüfen die Möglichkeit der Schaffung einer internationalen Reservewährung auf der Grundlage eines Korbes von BRICS-Währungen.«

Außerdem haben die BRICS-Staaten kürzlich mehrere hochrangige Umweltkonferenzen abgehalten und ihr gemeinsames Engagement für die Bewältigung des Klimawandels und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung bekräftigt. Sie messen der Bewältigung des Klimawandels große Bedeutung bei, und haben sich auf der Grundlage ihrer nationalen Gegebenheiten konkrete Ziele gesetzt und bemerkenswerte Fortschritte bei der Reduzierung der Kohlenstoffemissionen erzielt. China hat die Klimaschutzziele für 2020, die das Land der internationalen Gemeinschaft versprochen hatte, übertroffen und auf dieser Grundlage das Ziel und die Vision verkündet, den Höhepunkt der CO2-Emissionen vor 2030 zu erreichen und bis 2060 kohlenstoffneutral zu werden.[1]

Bis 2021 sank Chinas Energieverbrauch pro Einheit Bruttoinlandsprodukt (BIP) gegenüber 2012 um 26,2%. Die in China installierte Leistung an erneuerbaren Energien überschritt die Marke von einer Milliarde Kilowatt und das Land trug zu einem Viertel der weltweit neu angelegten Aufforstungsfläche bei.

Chinas Präsident Xi Jinping rief auf dem Jahrestreffen der BRICS zu mehr internationaler Zusammenarbeit auf und kritisierte die westlichen Sanktionen gegen Russland. »Die Ukraine-Krise ist ein Alarmsignal für die Welt«, sagte er. »Die Fakten haben wieder einmal bewiesen, dass Sanktionen ein zweischneidiges Schwert sind.« Xi rief zu einer stärkeren Koordinierung der Konjunkturpolitik auf. Damit könne verhindert werden, dass sich der weltweite Aufschwung verlangsame oder gar unterbrochen werde. Die großen Industrieländer sollten eine »verantwortungsvolle« Wirtschaftspolitik betreiben.

Putin rechnete in seiner Ansprache grundsätzlich mit dem Westen ab. Mit der aus den Fugen geratenen Weltwirtschaft habe die »militärische Spezialoperation« in seinen Augen nichts zu tun. Das sei reine Demagogie und Propaganda. Die Schuld an hoher Inflation, an zerrütteter Logistik und drohendem Hunger auf der Welt habe ausschließlich mit der jahrelangen verantwortungslosen Finanz- und Wirtschaftspolitik vor allem der USA, aber auch der Europäischen Union zu tun. Diese hätten jahrelang auf Kosten des Rests der Welt gelebt – eine Art moderner Kolonialismus. Um das Scheitern dieser Politik zu übertünchen, hätten sie es jetzt auf Russland abgesehen, dem die Schuld für das Versagen in die Schuhe geschoben werde. In völliger Verkennung der wirtschaftlichen Stärke Russlands hätten sie geglaubt, das Land isolieren zu können, und sich dabei total verrechnet.

Die Verschiebung der Verantwortlichkeit für den aktuellen Grad der Weltunordnung durch Putin dürfte schon für die anderen BRICS-Repräsentanten wenig überzeugend sein. Die These der begrenzten Wirksamkeit der Sanktionen gegen Russland ist aber nicht zu bestreiten. Denn die Ländervereinigung BRICS repräsentiert rund 42% der Weltbevölkerung und ein Fünftel des globalen Bruttoinlandprodukts (BIP) und ist für einen großzügiges Angebot an Energierohstoffen aufgeschlossen.


Souveränität ist zentral

Putin zeichnete schönfärberisch das Bild einer zwar stark erschütterten, aber standhaften, perspektivenreichen Nation, die ihre Souveränität verteidige, um nicht zur Kolonie zu werden. Nur starke, souveräne Länder könnten in der neuen, multipolaren Weltordnung Mitsprache haben. Einzelne wirtschaftliche Probleme seien dagegen unwesentlich. Mit den bekannten Argumenten verteidigte er die Notwendigkeit zum Krieg in der Ukraine. Der Westen dagegen verfolge aus ideologischer Verbohrtheit eine suizidale Politik und zerstöre die Reputation seiner Institutionen.

Ausführlich hatte Putin seine Analyse der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme Europas und der USA, die zu deren Niedergang führten, auf einer Wirtschaftskonferenz am 16.6.2022 in St. Petersburg präsentiert. Der Westen habe die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Als wichtigste wirtschaftspolitischen Grundsatz sah er die Offenheit der Wirtschaft gegenüber der Welt, die zentral sei. Er kündigte eine Reihe konkreter Erleichterungen vor allem für russische Unternehmen an – unternehmerische Freiheit müsse verstärkt werden. Allerdings hatte Putin schon zwei Jahrzehnte Zeit, das zu verbessern, und hat das bereits oft versprochen.

Man muss und kann Putins Argumentation nicht folgen. Unbestreitbar bleibt: Die Weltordnung droht auf Dauer gespalten zu werden, mit den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auf der einen Seite und China, Russland und den BRICS-Partnern auf der anderen. Wie US-Finanzministerin Janet Yellen kürzlich feststellte, wäre dieses Ergebnis alles andere als wünschenswert, und die USA müssten mit China zusammenarbeiten, um das zu verhindern.

Yellen ist der Auffassung, dass die USA ihre Beziehungen zu Ländern vertiefen sollten, die sich »stark an gemeinsame Normen und Werte halten, wie man in der Weltwirtschaft agiert und wie das globale Wirtschaftssystem funktioniert«. Sie ist der Ansicht, dass der Schlüssel zu einer effektiven Zusammenarbeit in wichtigen Fragen in der Auswahl von Partnern liegt, die sich »einer Reihe von Grundwerten und Prinzipien verpflichtet fühlen«.

Aber wo bleiben dann Länder mit unterschiedlichen Werten und Prinzipien? Wie kann das globale institutionelle Gefüge überleben, wenn die Länder ein offenes Engagement nur auf diejenigen beschränken, die die Welt genauso sehen wie sie selbst? Wenn der Westen eine Macht wie China von seinen multilateralen Vereinbarungen ausschließt, was kann die Volksrepublik dann anderes tun, als sich nach Alternativen umzutun?


Kein Multilateralismus ohne China

Paola Subacchi, Professorin für internationale Wirtschaft an der Universität London, argumentiert zu Recht, ein besserer Umgang mit China müsse auf drei zentralen Überlegungen beruhen.[2] Die erste ist, dass Multilateralismus ohne China unmöglich ist. Das Land ist nicht nur die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, sondern verfügt auch über eines der größten Finanzsysteme der Welt mit Vermögenswerten in Höhe von fast 470% seines BIP. Chinas Bruttonationalersparnis, die etwa 45% des BIP entspricht, ist ebenfalls enorm.

Darüber hinaus ist die Volksrepublik der größte bilaterale Kreditgeber der Welt und leistet einen erheblichen Beitrag zu den multilateralen Finanzinstitutionen – und zwar nicht nur zu denen, die vom Westen aufgebaut und geleitet werden. Tatsächlich – und dies ist die zweite Überlegung – hat China eine wichtige Rolle in der internationalen Finanzarchitektur übernommen, sowohl als Mitglied als auch als Gründer von Institutionen. In den letzten Jahren hat China bei der Gründung von zwei neuen regionalen multilateralen Entwicklungsbanken Pionierarbeit geleistet. Sowohl die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) als auch die Neue Entwicklungsbank (NDB) sollen die internationale Finanzarchitektur ergänzen und beweisen, dass China in der Lage ist, Institutionen zu leiten, als wichtiger Geber von Entwicklungsgeldern aufzutreten und ein »verantwortungsvoller Akteur« in einem von den USA und ihren Verbündeten geschaffenen System zu sein.

In gewisser Weise lässt dieses System jedoch China im Stich. Im Internationalen Währungsfonds (IWF) liegt Chinas Stimmrechtsanteil bei 6,1%, etwas niedriger als Japans 6,2% und deutlich unter dem Anteil der USA von 16,5%. In der Weltbank liegt der Anteil Chinas bei 5,4% (Japan 7,2%, USA 15,5%). Obwohl dies eindeutig nicht dem wirtschaftlichen Gewicht Chinas entspricht, ist das Reformtempo dieser Institutionen langsam, nicht zuletzt wegen der amerikanischen Blockade – ein Punkt, den Yellen beiseiteschob, als sie über die Notwendigkeit der Modernisierung von IWF und Weltbank sprach.

Dies gibt der chinesischen Führung gute Gründe, andere Optionen in Betracht zu ziehen, einschließlich der Abkopplung der von ihr geführten Institutionen vom bestehenden multilateralen System und der Schaffung neuer Institutionen. Das Ergebnis wäre eine Zersplitterung des globalen finanziellen Sicherheitsnetzes, das weniger reaktionsfähig, vorhersehbar und integrativ wäre und einige Länder unweigerlich systemischen Risiken aussetzen würde.

Die dritte Überlegung, die das Vorgehen des Westens gegenüber China bestimmen muss, ist die heikelste: Die wirtschaftlichen und politischen Systeme – und damit auch Chinas Ziele und Anreize – unterscheiden sich deutlich von denen der G7-Länder. Dies ist eine der Hauptursachen für die Spannungen zwischen dem Westen und China und ein Hauptgrund, warum Politiker*innen wie Yellen für ein leichteres Engagement plädieren, das mit »gleichgesinnten« Ländern möglich ist.

Sicherlich ist es eine Herausforderung, gegensätzliche Perspektiven, Ideologien und Interessen miteinander in Einklang zu bringen. Das hat sich während der Verurteilung von Russlands Krieg gegen die Ukraine durch die G7-Staaten gezeigt, als sich China enthielt.

Im Umgang mit China sollte der Westen versuchen, den internationalen Dialog und die politische Zusammenarbeit auf einer Grundlage konkreter gemeinsamer Interessen aufzubauen. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung im Westen ist die Zusammenarbeit mit der Volksrepublik seit Jahrzehnten die Norm. Wenn die Staats- und Regierungschefs der G7 jedoch beschließen, »Grundwerte« zur Grundlage der internationalen Zusammenarbeit zu machen, könnte sich dies durchaus ändern. Eine Weltwirtschaft, in der China und die G7 getrennte Wege gehen, wird beide Seiten schlechter dastehen lassen.

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu auch den Beitrag »Kann die VR China die Klimaziele erreichen?« von Wolfgang Müller in Heft 6-2022 von Sozialismus.de.
[2]Paola Subacchi, Wie umgehen mit China, Project Syndicate. Juni 2022

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