4. Juli 2022 Otto König/Richard Detje: Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik?

»Brückenbauer«, nicht »Scharfmacher« sind gefragt

Foto: FES/Saskia Uppenkamp

Knapp vier Monate nach der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag ausgerufenen »Zeitenwende«, mit der er jahrzehntelange friedenspolitische Überzeugungen der deutschen Nachkriegspolitik schredderte und der kräftigsten Aufrüstung der Bundeswehr den Weg ebnete, hielt der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil auf der Konferenz »Zeitenwende – der Beginn einer neuen Ära« der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Grundsatzrede.

Die zentrale Botschaft: Deutschland müsse wieder eine Führungsmacht werden, militärische Gewalt sei »ein legitimes Mittel der Politik«. Deutschland werde harte Entscheidungen abverlangt werden – finanzielle wie politische. »Wir liefern Waffen, auch schwere Artillerie. Wir verhängen harte Sanktionen, die Russland über Jahrzehnte spüren wird. Und wir üben harten politischen Druck gemeinsam mit unseren Partnern in den USA und Europa aus. Es ist richtig, dass wir diese Schritte gehen. Auch das hat mit unserer neuen Rolle zu tun.«[1]

Neue Rolle? Es klingt geschichtsvergessen, wenn Klingbeil einfordert, »den Anspruch einer Führungsmacht« erheben zu müssen. Wer sich der Folgen der entfesselten Barbarei der ehemaligen »Führungsmacht« Deutschland bewusst ist, hält die 80 Jahre lang praktizierte Zurückhaltung und die auf Ausgleich mit den Nachbarstaaten beruhende deutsche Politik seit 1949 nicht für revisionsbedürftig.

Klingbeil sprach davon, dass »man sich nach dem Kalten Krieg in falscher Sicherheit gewähnt habe«. Der Sieg von Kapitalismus und liberaler Demokratie sei nur ein vorübergehender gewesen. Mit Russland und China seien neue Machtzentren entstanden, die vor allem jene Staaten des Globalen Südens an sich binden würden, die »enttäuscht sind von den Verheißungen liberaler Demokratien«. So hätten die Abstimmungen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen gezeigt, dass »die Hälfte der Weltbevölkerung nicht hinter unserer (Sanktions-) Politik steht«.

Deshalb müsse es jetzt darum gehen, »Bindungskraft zu entfalten, neue politische Allianzen zu schmieden, partnerschaftliche Abkommen zu schließen, offene Strukturen anzubieten […], die integrativ und nicht exklusiv sind. Die für alle Seiten einen Mehrwert haben.« Will heißen, Russland und China ihren Einfluss im Globalen Süden streitig machen. Klingbeil ordnet sein Weltbild in eine bipolare Ordnung ein: Wer sich dem »Westen« nicht anschließt, ist für die Gegenseite. Nelson Mandelas Satz »Your enemies are not our enemies«, scheint ihm fremd zu sein.

Auf irreleitend simplifizierende Weise setzt Klingbeil die Brandt/Bahrsche Formel des »Wandels durch Annäherung« mit der Parole des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft gleich: »Wandel durch Handel«. Damit begeht er möglicherweise gleich vier Fehler: erstens die Absage an eine globale Sicherheitspolitik, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die USA im 21. Jahrhundert nicht mehr alleinige Hegemonialmacht sind; zweitens die unzureichende Einschätzung der wirtschaftlichen Bedeutung Chinas für die Wertschöpfungsketten von Industrie und Dienstleistungen in Deutschland; drittens die Inkaufnahme der Gefahr, dass die ökologisch-soziale Transformation verzögert und damit Klimaschutzziele weit verfehlt werden, und viertens die Hürden, die heute späteren diplomatischen Lösungen in den Weg gestellt werden.

Nach den Kriegen in Jugoslawien und Afghanistan ist es wieder eine von der SPD geführte und von den Grünen mitgetragene Regierung, die Deutschland fahrlässig in eine neue Runde der Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik führt. Bisher abgelehnte Projekte der ehemaligen Rüstungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) wie die hochumstrittene Bewaffnung der Heron-TP-Drohnen oder die Beschaffung von F-35 Kampfflugzeugen und damit die Beibehaltung der Nuklearen Teilhabe werden nun als eigene ausgegeben.

Mit patriotischen Mehrheiten wird im Bundestag Politik gemacht.[2] Es sollen Fähigkeitslücken der Bundeswehr geschlossen und Offensivstrategien wieder möglich werden. In der Vergangenheit habe man fast den Eindruck gehabt, »je weniger Bundeswehr es gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Das Gegenteil ist der Fall«, beklagte Klingbeil, um gleichzeitig festzustellen: »Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.« Das ist die »Zeitenwende«!

»Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der NATO verfügen«, verkündete Olaf Scholz breitbeinig. Im »Farbe bekennen«-Interview in der ARD kündigte er an, Deutschland werde »in den kommenden Jahren durchschnittlich 70 bis 80 Milliarden Euro« in die Armee investieren. Damit sei Deutschland das Land in Europa, das am meisten Geld investiere und dann auch die größte konventionelle Armee habe.

Das Sondervermögen zielt darauf ab, Deutschland militärisch wieder in die allererste Riege der Großmächte aufsteigen zu lassen. Zumindest von den Ausgaben her wird Deutschland damit dauerhaft die größte Militärmacht in Europa. Dass die SPD diesen Militarisierungskurs der Bevölkerung als Friedenspolitik verkaufen will, ist makaber.

Wer wie Klingbeil »militärische Gewalt als Mittel der Politik« sieht,[3] für den ist es nur konsequent, dass die Deutschen endlich »eine neue Normalität« im Umgang mit den Streitkräften entwickeln, die »in den öffentlichen Debatten in der Zeit vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine immer weiter in den Hintergrund« gerückt sei. Es sei Zeit, »denen Respekt und Anerkennung zu zollen, die ihren Dienst für unser Land leisten, die bereit sind, bis ans Äußerste zu gehen«. Mit Verlaub: Die Folgen sind noch heute in Afghanistan zu besichtigen.

Eine sozialdemokratische Zeitenwende müsste weiter für Frieden einstehen, auf Diplomatie und Völkerverständigung ebenso setzen, wie mittel- und langfristig sich wieder für Abrüstungsprojekte stark machen. »Deutschland muss mit gutem Beispiel vorangehen: diplomatisch, humanitär und in der ökonomischen Hilfe. Eine militärische Führungsrolle sollte Deutschland nach meiner Meinung und unserer Geschichte allerdings nicht einnehmen«, reagierte Ralf Stegner vom linken Flügel der SPD auf die Ausführungen seines Parteivorsitzenden. Es würde Deutschland gut anstehen und auch nutzen, wenn es sich als Vermittler, sprich »Brückenbauer« betätigen würde.

Anmerkungen

[1] »Der Westen hat sich lange zu sicher gefühlt«, IPG 22.6.2022. Auszüge der Rede Lars Klingbeils zur Zeitenwende im Rahmen der Tiergartenkonferenz 2022, gehalten am 21. Juni 2022 in Berlin.
[2] Von den 735 Bundestagsabgeordneten stimmten 568 mit Ja, 96 mit Nein für das 100 Mrd. Rüstungssondervermögen. 20 enthielten sich und 51 stimmten erst gar nicht ab. Nur wenige prominente Mitglieder des Bundestages wie der ehemalige ver.di-Vorsitzende und Fraktionsmitglied von Bündnis90/Die Grünen, Frank Bsirske, stimmten gegen ihre Partei.
[3] Der im Heeresstandort Munster aufgewachsene Soldatensohn Lars Klingbeil spricht sich schon länger dafür aus, beispielsweise mehr Gelöbnisse oder Abschiedsappelle vor Auslandsmissionen im öffentlichen Raum abzuhalten. Auch sollten Soldaten mehr an Schulen auftreten dürfen.

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