9. März 2025 Redaktion Sozialismus.de: Schlüsselprobleme des Westens vertagt
CDU/CSU und SPD vor Koalitionsverhandlungen
Die Unionsparteien und die SPD haben ihre Sondierungsgespräche beendet und wollen zügig Koalitionsverhandlungen aufnehmen – durchaus möglich, dass wir nun auch rasch einen Koalitionsvertrag sehen werden.
Das vorgestellte Papier soll die Basis von Verhandlungen für die Bildung einer schwarz-rote Bundesregierung bilden. Auch wenn CDU-Chef Friedrich Merz und der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil übereinstimmend betonen, es sei in einer ganzen Reihe von Sachfragen Einigkeit erzielt worden, bleiben strittige Fragen. Und es bleibt, dass das beabsichtigte Verfahren für die Durchsetzung des bereits zuvor geschnürten Finanzpakets für Aufrüstung und Infrastruktur (siehe hierzu unseren Beitrag »Gigantische Schulden für Infrastruktur und vor allem Aufrüstung«) noch keineswegs gesichert ist.
Auf Grundlage des 402 Zeilen umfassenden Sondierungspapiers soll ein gemeinsames politisches Projekt von Christ- und Sozialdemokraten auf den Weg gebracht werden, mit dem neue Milliardenkredite für Verteidigung und Infrastruktur ermöglicht werden. Weil im neugewählten Parlament keine Zweidrittel-Mehrheit sicher ist, soll die Modifikation der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse noch im amtierenden Bundestag beschlossen werden. Dazu ist die Zustimmung der Grünen erforderlich, weil anders keine Zwei-Drittel-Votum erreicht werden kann. Zudem müsste auch der Bundesrat mit einem entsprechenden Quorum zustimmen.
Laut Merz soll für die Instandsetzung der deutschen Infrastruktur ein 500 Milliarden Euro schweres »Sondervermögen« geschaffen werden, dessen Laufzeit zehn Jahre beträgt, das »private Investitionen in großem Umfang auslösen« werde. 100 Milliarden daraus sollen den Bundesländern zur Verfügung gestellt werden. Für Investitionen in Verteidigung und Aufrüstung, die ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) überschreiten, soll schließlich die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse gelockert werden.
Die Grünen zeigen sich bislang wenig geneigt, für dieses Projekt ihre Zustimmung zu geben. Markus Söder, CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident, führt ungeachtet der erforderlichen Mitwirkung der Grünen seine polemische Abrechnung mit ihnen fort. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) mahnt: »Ich erwarte jetzt auch Respekt aus der Union gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern der Grünen, wenn sie diesen Weg aus staatspolitischer Verantwortung mitgehen.«
Die Fraktionsführung der Grünen geht davon aus, dass es noch ein Gespräch zwischen Union, SPD und Grünen geben wird. Ohne inhaltliche Klärung über die Schwerpunkte des Sondervermögens zur Sanierung und Modernisierung der gesellschaftlichen Infrastruktur sowie über die Regelung der Vergabepraxis könne es keine Zustimmung der Grünen geben.
»Kein Problem zu lösen, alles mit Geld zuzuschütten, die Wahlversprechen aneinanderzureihen und keinerlei strukturelle Reformen anzugehen – das ist Gift für unser Land […] Das hat uns heute ein Stück weiter weggebracht von einer Zustimmung«, unterstrich deren Bundesvorsitzende Franziska Brantner mit Blick auf das Sondierungspapier. Ihr Ko-Vorsitzender Felix Banaszak wird noch deutlicher: »Nichts von dem, was Union und SPD planen, ist ohne die Stimmen der Grünen in den nächsten zwei Wochen möglich umzusetzen.«
Und Michael Kellner vom linken Parteiflügel, bis 2022 politischer Geschäftsführer der Partei und noch Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, bringt die Kritik auf den Punkt: »Das Sondierungspapier strotzt von Geschenken an Lobbygruppen […] Union und SPD dafür die finanziellen Spielräume zu geben, ohne substanziell was für den Klimaschutz zu bekommen, hielte ich für politischen Irrsinn.« Da müsse schon noch was nachgeliefert werden, wenn Merz und Klinbeil die Unterstützung der Grünen haben wollen.
Die zentralen Punkte des Sondierungsergebnisses
Abgesehen davon, dass auch für den Bundesrat noch keineswegs klar ist, ob das gewählte Manöver der Umgehung der aktuellen Stimmenverhältnisse im gerade neu gewählten Bundestag gelingt, bleibt die Frage, ob die im Sondierungspapier vereinbarten Punkte für ein mögliches Regierungsprogramm reichen.
Beim Staatsbürgerschafts- und Asylrecht soll das von der Ampelkoalition reformierte Staatsangehörigkeitsrecht weiter Bestand haben. Auch die verkürzten Wartefristen für eine Einbürgerung und den Doppelpass für Nicht-EU-Bürger sollen bleiben. Kernpunkt zum Thema Migration ist, dass an den Landesgrenzen – in Abstimmung mit den Nachbarstaaten – künftig auch Menschen zurückgewiesen werden, die ein Asylgesuch stellen. Dazu will man eine »Rückführungsoffensive starten«, wie es ausdrücklich in dem Papier heißt. Zudem Und: »Wir setzen den Familiennachzug zu subsidiär Schutz-berechtigten befristet aus.« Zugleich soll die Fachkräfteeinwanderung vereinfacht werden.
Für den Bereich »Arbeit und Soziales« soll die »breite Mittelschicht« entlastet werden. Geplant ist eine Reform der Einkommensteuer. Außerdem soll die Pendlerpauschale in der Steuererklärung erhöht werden. Zuschläge für Überstunden, die über die tariflich vereinbarte oder an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen, sollen steuerfrei gestellt werden.
Union und SPD halten an der unabhängigen Mindestlohnkommission fest. Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns soll sich diese »sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60% des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren«, heißt es im Papier. »Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar.«
Das Bürgergeldsystem soll überarbeitet werden. Hierzu erklärte Merz: »Wir werden das bisherige Bürgergeldsystem neu gestalten, hin zu einer Grundsicherung für Arbeitssuchende […] Für Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.«
Im Unterpunkt »Wirtschaft« wollen die zukünftigen Koalitionäre den »Standort Deutschland wettbewerbsfähig machen«. Dazu soll die Mehrwertsteuer für Speisen in der Gastronomie dauerhaft auf 7% sinken (wie bereits in der Coronazeit, seinerzeit allerdings nur vorübergehend). Zur Entlastung von Unternehmen und privaten Haushalten müsse die Stromsteuer auf den in der EU erlaubten Mindestwert sinken. Das soll zu Entlastungen um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde führen. Union und SPD wollen außerdem die Übertragungsnetzentgelte halbieren, die ein Bestandteil des Strompreises sind.
Um die Nachfrage nach Elektroautos zu verstärken, planen Union und SPD wieder »einen Kaufanreiz«. Die Kaufprämie für E-Autos war Ende 2023 wegen Haushaltsnöten von der Ampelkoalition abrupt gestoppt worden, danach sackte die Nachfrage spürbar ab. Außerdem soll das von der Ampel beschlossene Aus für Agrardiesel-Vergünstigungen für Bauern gekippt werden.
Wer in der Rente noch freiwillig weiterarbeitet, soll zukünftig bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei dazuverdienen können. Die sogenannte Mütterrente soll ausgeweitet werden: Auch für vor 1992 geborene Kinder sollen drei statt wie bisher maximal zweieinhalb Erziehungsjahre bei der Rente angerechnet werden. Angesichts immer weiter steigender Milliardenkosten wollen Union und SPD zudem »eine große Pflegereform« auf den Weg bringen.
Zu den unter der Überschrift »weitere ausgewählte Vorhaben« notierten Verabredungen gehört, dass die Mietpreisbremse zunächst für zwei Jahre verlängert wird, die sonst Ende 2025 ausgelaufen wäre. Möglicherweise kommt es auch zu einer erneuten Reform des Bundestagswahlrechts, mit dem die Zahl der Abgeordneten auf 630 festgelegt worden war. Weil so am 23. Februar einige Direktkandidaten, die ihren Wahlkreis gewonnen hatten, kein Mandat erhielten, muss das Verfahren wieder auf den Prüfstand. Über das Deutschlandticket für Busse und Bahnen soll in den Koalitionsverhandlungen gesprochen werden. Ob dieses über das Jahresende hinaus fortgesetzt wird, ist also noch keineswegs sicher.
Ein stabiles politisches Projekt?
Für CSU-Chef Söder habe die mögliche neue Regierung mit der Einigung im Sondierungspapier eine erste Bewährungsprobe bestanden. Auch für den SPD-Chef Klingbeil stellt das angekündigte große Finanzpaket einen guten Startpunkt dar, denn Deutschland fahre auf Verschleiß, was eine künftige Regierung stoppen müsse.
Auch wenn so der Anschein erweckt wird, dass dank der personellen Neuaufstellung der Sozialdemokratie nach dem desaströsen Wahlergebnis vom 23. Februar die grundlegenden Differenzen zwischen Union und SPD ausgeräumt sind, tauchen die von der Ko-Vorsitzenden der SPD Saskia Esken im Wahlkampf und auch danach noch in den Vordergrund gerückten Pläne zur Verbesserung der Staatseinahmen durch Abschöpfung von Surplusgewinnen und Zuwächsen bei Vermögen und Erbschaften nicht mehr auf.
Zudem wird die Partei nun maßgeblich von Personen geführt, die sich auf das Experiment einer massiven Aufrüstung und Abschreckung einlassen. So will der Ko-Vorsitzende Klingbeil, der zusätzlich den Job des ausgewiesenen Parteilinken Rolf Mützenich als Fraktionschefs im Bundestag übernimmt, offensichtlich ohne Diskussion und Bewertung an der Priorität einer transatlantischen Orientierung trotz Trump festhalten. Das ist für eine Partei, die immer für eine europäische Sicherheitsarchitektur eintrat, schon überraschend. Die Zerstörung der westlichen Wertegemeinschaft, die Aufkündigung jeder regelbasierten Ordnung (WTO, UN etc.) und die Zielsetzung der USA auf ein politisches Bündnis mit von Autokratien und von Oligarchen beherrschten Russland findet jedenfalls keine Erwähnung.
Auch der derzeitige Verteidigungsminister Boris Pistorius nahm für die SPD an den Sondierungsgesprächen teil. Er hatte sich in den vergangenen Monaten bereits in der Frage um die weitere Finanzierung von Ukraine-Hilfen gegen Scholz gestellt. Während dieser darauf beharrte, dass dafür die Schuldenbremse gelockert werden müsse, folgte Pistorius der grünen Außenministerin Annalena Baerbock, die schon damals für eine »außerplanmäßige Ausgabe im Haushalt« plädierte.
Ob weitere Hilfen für die Ukraine ebenfalls von der Schuldenbremse ausgenommen oder aus dem Kernhaushalt bestritten werden sollen, ist ebenfalls noch offen und Gegenstand zukünftiger Gespräche. So oder so soll deutlich mehr für Verteidigung und damit Rüstung ausgegeben werden. Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter schlug dafür vor, sich an Polen zu orientieren, das in diesem Jahr etwa 4,7% des BIP für die Verteidigung vorsieht.
Teile der SPD tun sich mit solchen Aufrüstungsdebatten nach wie vor schwer. Ralf Stegner etwa, der dem linken Flügel der Partei zugerechnet wird, hat die von Kanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende so verstanden, dass Deutschland bündnis- und verteidigungsfähig, aber nicht zu einer Militärmacht werde: »Aufrüstung ist nicht die Antwort auf jedes Problem der Welt.« Die Europäer müssten sich verstärkt auch um Abrüstungsvereinbarungen mit Russland bemühen, die gerade in Phasen militärischer Spannungen getroffen werden müssten.
Ein weiterer Punkt, der sowohl bei der SPD, aber auch in der Union für Diskussionen sorgen dürfte, ist die Frage, ob Deutschland bereit ist, einen möglichen Frieden in der Ukraine auch mit eigenen Soldaten zu sichern (Großbritannien und Frankreich haben bereits entsprechende Zusagen gemacht). Und auch zur Atom-Offerte des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur »nuklearen Abschreckung« dürften Differenzen zwischen Union und SPD bestehen.
Nils Schmid etwa, keineswegs der SPD-Linken zuzurechnen, sieht Macrons Offerte ausgesprochen kritisch: »Wir müssen sehr vorsichtig sein mit öffentlichen Debatten, die Zweifel an der nuklearen Abschreckung durch die NATO säen […] Was sind diese Zusagen wert, wenn einmal Marine Le Pen Präsidentin werden sollte?« Stegner wird noch deutlicher: »glatter Wahnsinn«, die Staaten der Welt hätten in den vergangenen Jahren ihre Fähigkeiten, den Planeten zu zerstören, weiter ausgebaut, daran solle sich Deutschland nicht beteiligen.
Und noch in einem weiteren Punkt bestehen Differenzen zwischen Konservativen und Sozialdemokraten. In der Union votieren viele für eine rasche Wiedereinführung der Wehrpflicht sind, in der SPD sieht man dies sehr kritisch und setzt weiterhin auf Freiwilligkeit. Nach den Plänen von Pistorius soll das Interesse am Militärdienst per digitalem Fragebogen bekundet werden. Und in der SPD wird auch darauf verwiesen, dass mit der Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2011 die entsprechende Infrastruktur abgebaut worden sei. Stegner hält das neuerliche Drängen aus den Unionsparteien daher für eine »Scheindebatte«.
Die Aufkündigung der westlichen Wertegemeinschaft durch Trump und Co sind eine Folie, die die Bereitschaft der SPD-Führung zu weitgehenden Kompromissen mit der Union befördert hat. Andere denkbare Folgen der radikal veränderten Weltlage (z.B. mögliche Verwerfungen auf den Finanzmärkten aufgrund der bisher eher geringen deutschen Staatsverschuldung im Unterschied zu anderen Ländern) spielen bislang in dem Sondierungspapier keine Rolle. Ob sie Gegenstand von Koalitionsverhandlungen sein werden, ist noch offen
All die strittigen Fragen könnten schon bald in den Koalitionsverhandlungen auf den Tisch kommen. Die SPD will ihre Mitglieder abschließend über einen Koalitionsvertrag abstimmen lassen. Spätestens dann muss sich zeigen, welchen Kurs die Sozialdemokraten in Zukunft gehen wollen und ob auch ein massives Aufrüstungsprogramm in der Mitgliedschaft eine Mehrheit findet.