28. Oktober 2020 Otto König/Richard Detje: Pinochet-Ära endlich beendet

»Chile aprobó«

Foto: dpa

32 Jahre nach dem Plebiszit, mit dem das formale Ende der faschistischen Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1990) in die Wege geleitet wurde, haben die Chilen*innen am 25. Oktober sich eines weiteren Erbes der Militärdiktatur entledigt.

»Chile aprobó« heißt es nach diesem historischen Tag: Chile hat dafür gestimmt. Und zwar mit einer gewaltigen Mehrheit. Mehr als 78% stimmten mit »Ja« für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Mit über 50% lag die Wahlbeteiligung beim Referendum trotz Corona-Pandemie weit höher als bei den letzten Präsidentschaftswahlen.

Die Wähler*innen haben ihre Wut in Hoffnung verwandelt und ein letztes Vermächtnis der Pinochet-Diktatur begraben. Tausende feierten auf der »Plaza de la Dignidad« (Platz der Würde) – offiziell: Plaza Italia – ihren ersten Etappensieg auf dem langen Weg hin zu einer gerechten Gesellschaft, die ein würdiges Leben ermöglicht und abgrundtiefe soziale Ungleichheit beenden soll. Kein Lied hätte besser gepasst als »El pueblo unido jamás será vencido« (Das vereinte Volk wird niemals besiegt) aus der Allende-Zeit.

Nur die Viertel der Reichen (rot) im Großraum Santiago stellen sich gegen eine neue Verfassung. Quelle: MAPARAUCANÍA

Fast 79% der Wähler*innen stimmten außerdem für einen komplett aus Bürger*innen zusammengesetzten Konvent. Damit lehnten sie den Versuch der Piñera-Führung ab, die Hälfte des Gremiums mit Mitgliedern des bestehenden Parlaments zu besetzen. Der »Convención Constitucional« – bestehend je zur Hälfte aus Männern und Frauen – wird die erste Verfassung weltweit ausarbeiten, an der beide Geschlechter zu gleichen Teilen beteiligt sind. Er wird im kommenden April vom Volk gewählt. Danach besteht ein Jahr Zeit, um mit einer Zweidrittelmehrheit den Entwurf der Magna Carta zu verabschieden, über den dann die Bürger*innen 2022 erneut in einem Referendum abstimmen sollen.

Dass dies möglich ist, ist der breiten, alle Schichten der Gesellschaft umfassenden Protestbewegung »Chile despertó!« (»Chile ist aufgewacht!«) zu verdanken, die am 18. Oktober 2019 mit ihrer Aufklärungs- und Mobilisierungsarbeit begonnen hatte.[1] Ihr Background: Jahre zuvor hatte es in der chilenischen Gesellschaft immer stärker gebrodelt. Die Aktion des zivilen Ungehorsams der Schüler*innen gegen die Erhöhung der U-Bahnpreise von 800 auf 830 Pesos löste schließlich eine landesweite soziale Rebellion gegen die soziale Ungleichheit im Lande aus. Wochenlang gingen Hunderttausende Menschen auf die Straßen und protestierten gegen die konservative Regierung des Milliardärs und Präsidenten Sebastián Piñera sowie gegen das neoliberale Gesellschaftsmodell des südamerikanischen Landes. Ihr Ziel: Ein Leben in Würde für alle.

Piñera sprach zunächst von »Krieg«, verhängte den Ausnahmezustand und schickte, erstmals seit dem Ende der Diktatur, das Militär auf die Straßen. Die ökonomisch-politische Elite ließ die Ordnungskräfte, allen voran die militärisch auftretenden Carabineros, brutal und entgegen aller menschenrechtlichen Konventionen gegen die Demonstranten vorgehen. Doch trotz der staatlichen Gewalt wurde der Druck auf den Präsidenten so groß, dass er am 15. November 2019 den »Acuerdo por la Paz y una Nueva Constitución« (»Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung«) mit einer Gruppe von Oppositionspolitiker*innen abschließen musste.

Schon nach wenigen Tagen des Protestes begannen sich die Menschen in »Asambleas Territoriales«, Nachbarschaftsversammlungen, zu organisieren. In ihnen ist auch die Idee des verfassungsgebenden Prozesses entstanden. Die Teilnehmenden diskutierten kurz-, mittel- und langfristige Forderungen wie die Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure, die Garantie von sozialen Grundrechten wie Bildung, Gesundheit Wohnen, Renten und Wasserversorgung. Die langfristigen Forderungen zielen auf ein Ende des Neoliberalismus und einen Systemwechsel. »Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre Ungerechtigkeit«, war einer der Parolen, die während der Demonstrationen auf unzähligen Transparenten zu lesen war. Das nun stattgefundene Verfassungsplebiszit ist damit der vorerst größte politische Erfolg, den die einjährige Protestbewegung erreichen konnte.

Die derzeit geltende Verfassung von 1981 wurde während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet geschrieben. Der General, der massenhaft foltern, morden und Menschen »verschwinden« ließ, verwandelte Chile mit Unterstützung der sogenannten »Chicago Boys« (von in den USA ausgebildeten Beratern um den Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedmann) zum Versuchslabor eines radikal-autoritären Neoliberalismus. Der Staat wurde zusammengeschrumpft, soziale Rechte amputiert, öffentliche Aufgaben wie Bildung, Gesundheit oder Renten privatisiert. Zugang zu qualitativ guten Dienstleistungen hatte nur noch derjenige, der über Geld verfügte.

Nach der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 akzeptierte die Parteienkoalition »Concertación«, die als demokratische Opposition gegen die Militärdiktatur gegründet worden war und bis 2010 alle Präsident*innen stellte, die Verfassung von 1980.[2] Das Rentensystem, Gesundheit, Bildung und selbst die Wasserversorgung verblieb in privater Hand. Alle Versuche der politischen Linken und der Gewerkschaften, das zu ändern, scheiterten, die Verfassung wirkte wie ein Korsett, das den Menschen die Luft zum Leben abschnürte. Sie zementierte Sonderrechte aus der Zeit der Diktatur wie beispielsweise die Rolle der Sicherheitskräfte.

Die militärisch aufgestellten und ausgerüsteten Carabineros stehen wegen des exzessiven Gebrauchs von Gewalt[3] und Anti-Riot-Waffen schon lange in der Kritik von Menschenrechtsorganisationen. So war es erst jüngst bei Demonstrationen im Zentrum Santiagos zu einer besonders brutalen Szene gekommen, bei der ein Carabinero einen 16-jährigen Demonstranten über ein Brückengeländer stieß, der dadurch zwei Handgelenkbrüche und ein Schädelhirntrauma erlitten hat.

Die Carabineros wiesen wie gehabt jegliche Verantwortung vehement zurück. Doch Aufnahmen der Situation belegten eindeutig, wie der Jugendliche über das Geländer gedrückt wurde. Der verantwortliche Polizist sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft und muss sich wegen versuchten Mordes vor Gericht verantworten. Neben der Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen während der Proteste ist der Ruf nach einer Reform Carabineros unüberhörbar im Land.

Die Befürworter einer neuen Verfassung wollen die soziale Rolle des Staates stärken, Grundrechte auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung und Trinkwasser aufnehmen sowie die Anerkennung der indigenen Völker festschreiben. Vertreter*innen der indigenen Gruppe – der Mapuche – verbinden mit dem Verfassungsprozess die Hoffnung auf ein Ende ihrer Ausgrenzung. Die konservativen Kräfte und ein Großteil der Mitte-Rechts-Koalition begründeten das »Rechazo«, ihr »Nein« gegen eine neue Konstitution, mit dem Argument, dass eine neue Verfassung das bestehende politische und wirtschaftliche Modell untergraben würde, von dem sie behaupten, dass es für Stabilität und anhaltendes Wachstum gesorgt habe. Die Differenz von fast 60 Prozentpunkten zu den Befürwortern bei der Abstimmung zeigt, wie heftig ihre Niederlage ausgefallen ist.

»Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und er wird in Chile sterben«, hieß es auf den Schildern der Protestierenden. Mit dem Plebiszit ist ein Anfang für die Überwindung der Strukturen aus der Pinochet-Diktatur gemacht, überwunden sind sie dadurch jedoch noch nicht. Das erfolgreiche Referendum ist erst der Anfang eines neuen, langen Prozesses.[4] Es ist davon auszugehen, dass die alten Eliten ihren Einfluss nicht kampflos preisgeben werden. Es wird nun darauf ankommen, inwiefern die Zivilgesellschaft ihre grundlegenden Forderungen während des verfassungsgebenden Prozesses durchsetzen kann. Damit dies geschieht, braucht es auch weiter den Druck der Straße.

Noch heute ist der ehemalige sozialistische Präsident Salvador Allende für viele Chilen*innen eine Inspiration für die Zukunft, der sie in ihrer Hoffnung auf eine gerechte Gesellschaft bestärkt. Schließlich geht es um das Wiederherstellen von Würde, um Menschenrechte und demokratische Teilhabe. So ist nur konsequent, dass man an Mauern das Allende-Zitat liest: »Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen«.

Anmerkungen

[1] Siehe Otto König/Richard Detje: Aufstand gegen prekäre Lebensverhältnisse #Chile despertó – Chile erwacht, Sozialismus.de Aktuell, 27.10.2019. Siehe auchden Dokumentarfilm über die Revolte in Chile »Sentido (en) comun« des Teams der Journalistin Sophia Bodenberg und des Musikproduzenten Michel Moreno: https://youtu.be/i9cEO7yjuEU
[2] Augusto Pinochet ist bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres geblieben und wurde auf Grundlage der Verfassung Senator auf Lebenszeit, wodurch er politische Immunität genoss. 2006 starb er, ohne für seine Verbrechen verurteilt worden zu sein. Die offizielle Zahl der Opfer der Diktatur beläuft sich auf über 40.000, darunter 3065 Tote oder Verschwundene.
[3] Menschenrechtsbeobachter, darunter die UN-Kommission sprechen von massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte: Mehr als 30 Tote, Tausende Verletzte, darunter 460 an den Augen – durch Tränengaspatronen und Gummigeschosse, die laut einer Untersuchung der Universidad de Chile zu 80% mit Metall versetzt waren. Aktuell sind immer noch 2.500 Demonstranten in Haft, die seit dem Beginn des Aufstands am 18. Oktober 2019 festgenommen wurden.
[4] Durch die Corona-Pandemie hat sich der politische Zündstoff weiter vergrößert. Miserables Krisenmanagement der Regierung und das privatisierte Gesundheitssystem haben zu einer dramatischen Entwicklung der Corona-Pandemie geführt Chile ist mit mehr als 502.063 nachgewiesenen Infektionen sowie 13.944 mit Covid-19 Gestorbenen (Stand: 25.10.2020) ist eines der mit am schwersten betroffenen Länder in Lateinamerika.

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