27. Oktober 2019 Otto König/Richard Detje: Aufstand gegen prekäre Lebensverhältnisse

#Chile despertó – Chile erwacht

In Lateinamerika brodelt es: In Ecuador gab es landesweite Massenproteste gegen das Sparprogramm »el paquetazo« des Präsidenten Lenín Moreno, der im Gegenzug für Kredite des IWF in Höhe von gut 4,2 Milliarden US-Dollar unsoziale Kürzungsmaßnahmen zugesagt hatte. In Argentinien steht die neoliberale Regierung von Präsident Mauricio Macri trotz IWF-Kredite vor dem Ende. In Haiti reißen die Proteste gegen die korrupte Regierung nicht ab.

Jetzt stehen auch in Chile im »Musterland des Neoliberalismus« – die Zeichen auf Sturm. Was mit zivilem Ungehorsam von Schüler*innen und Studierenden gegen Fahrpreiserhöhungen begann, hat sich zu einem landesweiten Aufstand gegen prekäre Lebensverhältnisse und die Politik der rechtskonservativen Regierung von Sebastián Piñera ausgeweitet.

Noch kürzlich hatte der chilenische Präsident mit Blick auf die Proteste in den Nachbarländern gesagt, Chile sei eine »wahre Oase, eine stabile Demokratie, eine wachsende Wirtschaft«. Doch dieser angebliche »Ort der Stabilität« hat sich in den letzten Tagen zu einem weiteren Krisenherd in Lateinamerika gewandelt. Nun schimpfte der Milliardär Piñera im Nationalfernsehen TVN: »Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen, unversöhnlichen Feind«.

Gemeint ist das aufbegehrende chilenische Volk. Gegen diesen »Feind« rief er den Notstand aus und verhängte Ausgangssperren – zunächst in der Hauptstadt Santiago, danach in den Provinzstädten Antofagasta, Concepción, Valdivia, Valparaíso, La Serena, Talca, Rancagua, Temuco und Punta Arenas. Maßnahmen wie diese, die zunächst für 15 Tage gelten sollen, wurden das letzte Mal während der Pinochet-Militärdiktatur 1987 ergriffen.

Mittlerweile hat die Regierung allein in Santiago rund 10.000 Soldaten und Panzerwagen auf die Straße geschickt. Im Internet kursieren Bilder und Videos, die an den Putsch gegen Salvador Allende 1973 erinnern: Schwerbewaffnete Soldaten machen Jagd auf Demonstranten, Panzer blockieren die Straßen. Dem Nationalen Institut für Menschenrechte zufolge gibt es mittlerweile 18 Tote, 90 Verletzte durch Schusswaffen von Polizei und Militär und über 5000 Festnahmen. Das Institut, das inzwischen zwölf Anklagen wegen Folter und zahlreiche Fälle registriert hat, bei denen Frauen gezwungen wurden, sich auszuziehen und sexuell belästigt wurden, kündigte eine Klage gegen die Sicherheitskräfte wegen Folter und Misshandlung an.

Die staatliche Repression macht die Menschen nur noch wütender. Gerade junge Menschen, die die faschistische Diktatur nicht miterlebt haben, kennen nicht mehr das beunruhigende Gefühl, das die älteren Chilenen beschleicht, wenn ein General den Auftrag bekommt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie missachten die Ausgangssperre und führen den Protest gegen das neoliberale Regime an. Auf Plakaten ist zu lesen: »No Tenemos Miedo« – »Wir haben keine Angst«. Aufgrund der Ausgangssperre trommeln abends viele Menschen vor ihren Wohnungen oder in geöffneten Fenstern auf Kochtöpfen, es ist die »cazerolazos«, eine aus der Militärdiktatur stammende Protestaktion. In den Protesten entlädt sich die jahrzehntelang angestaute Wut der Bevölkerung. »Chile despertó« – Chile erwacht – ist immer wieder zu hören.

Die Proteste gegen die Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets von 800 auf 830 Peso (1,01 auf 1,05 Euro)[1] hatten mit gezielten, kollektiven Schwarzfahr-Aktionen, »evasiones masivas«, von Schüler*innen begonnen. Dann schlossen sich Studenten und Arbeiter an und es kam zu einzelnen Besetzungen von U-Bahnstationen. Die Regierung kriminalisierte die Aktionen vom ersten Tag an und in den Stationen und Waggons kam es zu regelrechten Hetzjagden mit Verhaftungen durch die Militärpolizei. Erst nachdem der friedliche Protest mit massiver staatlicher Gewalt aufgelöst wurde, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen.

Als der Konflikt eskalierte, ruderte der Präsident zurück. »Ich habe die Stimme meiner Mitbürger gehört«, säuselte Piñera und annullierte die Preiserhöhung. Doch dies konnte den Zorn vieler Chilenen nicht mehr besänftigen. Die Proteste halten an, denn »es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch«, so Catalina Magaña von der Studentenorganisation Confech. »Wir haben genug von den miserablen Renten, von den hohen Wasserpreisen und den hohen Studiengebühren«, sagt sie, und: »Wir haben genug davon, dass wir uns verschulden müssen, um zu überleben.« (Frankfurter Rundschau vom 21.10.2019)

Die Erhöhung der Fahrpreise war letztlich der Funke, der den Unmut über die neoliberale Politik von Piñera in Empörung umschlagen ließ. Es hat sich die Wut über ein Wirtschaftssystem Bahn gebrochen, das das Recht des Stärkeren zum Prinzip erkoren hat und im Kern auf die Konterrevolution Pinochets und seiner ideologischen Helfer der Chicago-Boys samt ihres Mentors Milton Friedmann zurückgeht. Noch heute ist Chile das neoliberale Paradies, in dem der Staat fast alles privatisiert hat, den Unternehmen freie Hand lässt, wenig Steuern verlangt und multinationale Konzerne natürliche Ressourcen ausbeuten können.

Das südamerikanische Land gehört zu jenen Staaten mit einer extremen sozialen Ungleichheit: 2017 verfügte 1% der Bevölkerung über 26,7% des Reichtums des Landes, während die Hälfte der Bevölkerung gerade einmal 2,1% für sich beanspruchen konnte, heißt es in einem Bericht der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal). Zwar hätten statistisch gesehen in den letzten 15 Jahren viele Menschen den Sprung in die Mittelklasse geschafft, doch handelt es sich dabei um eine sehr prekär lebende Mittelklasse mit hohen Schulden, geringer Rente und niedrigen Löhnen. Die Wut der Protestierenden richtet sich gegen die prekären Lebensverhältnisse und die gestiegenen Lebenshaltungskosten in einem der dereguliertesten Länder der Welt.

Untersuchungen zufolge reicht einem großen Teil der Chilenen das Einkommen nicht, um die monatlichen Kosten zu begleichen. Nach Angaben des Nationalen Statistikamts (INE) verdient die Hälfte der Arbeiter 400.000 Pesos (504 Euro) oder weniger. Dabei liegen die Kosten vieler Dienstleistungen wie Strom, Wasser und Gas, Internet und Autobahngebühren auf dem Niveau europäischer Länder. Nach Zahlen der Zentralbank sind die Haushalte bis zu 73% ihres Nettoeinkommens verschuldet und haben keinerlei Möglichkeit, ein Sparguthaben anzulegen. Es fehlen mehr als 500.000 Wohnungen und in den letzten acht Jahren sind die Preise für Wohnungen um 67,8% gestiegen.

Auch der gesellschaftliche Unmut über niedrige Renten und die daraus resultierende Altersarmut sowie über hohe Bildungs- und Gesundheitskosten ist sehr groß. Viele Studenten und ihre Familien sind bei jährlichen Studiengebühren von über 7.000 Dollar hoch verschuldet. Das Fazit des chilenischen Ministeriums für soziale Entwicklung und Renten-Aufsicht lautet: 90,7% der Rentner im Lande erhalten eine Rente von weniger als 146.000 Pesos (umgerechnet 185 Euro). Von diesen wiederum erhalten mindestens 400.000 eine sogenannte Solidaritätsgrundrente von nur 86.000 Pesos (ca.110 Euro).

Die gewerkschaftsnahe Stiftung Sol ermittelte, dass im Jahr 2018 mehr als 100.000 neue Pensionäre Renten von weniger als 246.000 Pesos erhielten, die ca. 85% des Mindestlohns entsprachen. Der Mindestlohn beträgt derzeit 300.000 Pesos (ca. 375 Euro). Die Aussichten für Frauen sind noch prekärer: Die Hälfte der 71.472 neuen Rentnerinnen haben nur noch Anspruch auf eine maximale Monatsrente von 216.000 Pesos, also auf nur noch 75% des Mindestlohns.

Schon seit längerer Zeit protestieren in Chile soziale Bewegungen und Bündnisse unter Hastags wie #NoNosCansamos (Wir werden nicht müde) und #BastaYa (Schluss jetzt). Sie fordern eine Verfassungsreform, die die marktkonforme Ausrichtung aller Lebensbereiche rückgängig macht. Massenproteste der Rentner*innen unter dem Motto »No Más AFP«[2] sind ebenfalls seit langer Zeit Ausdruck der Kritik an den sozialen Notständen.

Durch die aktuellen Proteste sind die gesellschaftlichen Baustellen mit aller Wucht in den Mittelpunkt der Debatte gerückt. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und die größten Oppositionsparteien verlangen neben dem Rückzug des Militärs in die Kasernen und die Korrektur der Preiserhöhungen im Nahverkehr darüber hinausgehende Reformen wie eine progressivere Steuerpolitik, eine solidarische Rentenreform und kostenlose Bildung.

»Angesichts der legitimen Bedürfnisse und sozialen Forderungen der Bevölkerung haben wir mit Demut und Klarheit die Botschaft erhalten, die die Chilenen uns übermittelt haben«, erklärte Präsident Sebastián Piñera bei einer Ansprache im Moneda-Palast und kündigte ein Paket von Sozialmaßnahmen an. Er wolle sich mit Vertretern der Regierungs- und Oppositionsparteien zusammenzusetzen, um eine »soziale Übereinkunft« zur Überwindung der bestehenden Probleme zu finden.

Die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Bárbara Figueroa, erklärte, ein gesellschaftlicher Dialog sei nicht möglich, solange das Militär auf der Straße bleibe. »Ein Notstand in dieser Situation ist nur mit dem vergleichbar, was wir bei Protesten unter der Diktatur erlebt haben. Er zeigt das völlige Scheitern dieser Regierung.« Gemeinsam mit den Unidad social (Vereinte soziale Bewegungen) hatte die CUT die Arbeiter*innen und Bürger*innen unter dem Motto »Chile desperto« zu einem zweitägigen »Huelga general« (Generalstreik) am 23. und 24. Oktober aufgerufen – über eine Million Demonstrat*innen schlossen sich den Protesten an.

Nur wenn sich die zersplitterten Mitte-Links-Oppositionsparteien, die über eine Mehrheit im Senat und Parlament verfügen, endlich zu einer gemeinsamen Strategie zusammenrauft, wird es möglich sein, mit dem Druck der Protestierenden und der solidarischen Kraft der Streikenden eine politische Kurskorrektur durchzusetzen.

Anmerkungen

[1] Nach einer Untersuchung der Universität Diego Portales in Santiago sind die Fahrpreise im U-Bahn-System im Vergleich zum Pro-Kopf-Einkommen die neuntteuersten von 56 untersuchten Staaten. Und der Fundación Sol berechnete, dass eine Person, die für den Mindestlohn arbeitet, 21% ihres Gehalts für die Fahrpreise mit der U-Bahn ausgeben muss, wobei von fünf Arbeitstagen ausgegangen wird. Das erklärt, warum die Erhöhung von 800 auf 830 Pesos pro Ticket eine solche Wut auslöste.
[2] Vgl. Otto König/Richard Detje: Massenproteste gegen privates Rentensystem in Chile. #NOmasAFP, Sozialismus Aktuell vom 22.5.2017.

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