25. Februar 2023 Joachim Bischoff: VR China tritt für Waffenstillstand und Dialog ein

Chinas 12-Punkte-Plan zur Beendigung des Ukraine-Kriegs

Chinas Außenminister Qin Gang

Zum Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine hat die Weltgemeinschaft Präsident Wladimir Putin erneut mit großer Mehrheit zum Rückzug seiner Truppen aufgefordert. Mit 141 der 193 Mitgliedstaaten stimmten am Donnerstag in New York eine deutliche Mehrheit für eine entsprechende Resolution.

Ebenso viele Staaten hatten sich kurz nach Beginn des Krieges einer ersten Resolution angeschlossen. Wie auch schon bei vorangegangenen Abstimmungen enthielten sich am Donnerstag mit China und Indien zwei mächtige Staaten, in denen zusammen etwa 2,8 Mrd. Menschen leben.

Die verabschiedete Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) von 2023 enthält die Forderung nach Frieden und dem Rückzug Moskaus. Der Entwurf bekräftigt eine Reihe zuvor bereits beschlossener Positionen des Gremiums und sieht u.a. die Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine vor. Im Weiteren wird ein vollständiger Austausch von Kriegsgefangenen verlangt und die Notwendigkeit betont, dass Verantwortliche für die schwersten Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am ersten Jahrestag des Krieges den Widerstand seiner Landsleute gewürdigt und sich siegessicher gezeigt. »Wir wissen, dass 2023 das Jahr unseres Sieges sein wird.« Er bemüht sich intensiv um die Fortführung und Ausweitung der militärischen, finanziellen und politischen Unterstützung durch die westliche Staatengemeinschaft, denn ohne deren Engagement wird ein »Sieg über Russland« nicht erreicht werden können.

Dass die Ukraine der angenommenen russischen militärischen Überlegenheit bis jetzt so gut standhalten konnte, liegt neben den westlichen Waffenlieferungen auch an der Moral in der Armee, und an der Unterstützung der Ukrainer*innen, die die Souveränität ihres Staates, aber auch ihre ukrainische Identität verteidigen. Insgesamt sind westlichen Quellen zufolge bislang zwischen 30.000 und 40.000 Zivilisten in der Ukraine ums Leben gekommen.

Obwohl es zwölf Monate seit Russlands Angriff her ist, hat das ukrainische Militär der russischen Militärmaschinerie – auch dank der Unterstützung der westlichen Staaten – standgehalten. Die Wirtschaft des Landes – wie die zivile Infrastruktur – ist allerdings massiv beschädigt, wenn auch noch nicht zusammengebrochen. Die angefallenen Militärausgaben sind für die Ukraine eine kaum zu bewältigende Belastung. Vor dem 24. Februar 2022 machten sie rund 7% des Staatsbudgets aus, über das ganze Jahr 2022 belief sich ihr Anteil mit stark steigender Tendenz dann allerdings auf 36%. Vorübergehend deckte die Nationalbank NBU 2022 bis zur Hälfte des monatlichen Staatsdefizits durch Schuldenmanagement, was aber insgesamt die Zerrüttung der öffentlichen Finanzen und die partielle Entwertung der Währung nicht aufhalten konnte.

Die ukrainische Wirtschaftsleistung (BIP) ist nach Schätzungen der Weltbank 2022 um 35% geschrumpft. Die Kyiv School of Economics KSE erklärte im Januar, es könnte 138 Mrd. US-Dollar kosten, die im Krieg zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. In der Landwirtschaft liegen die wirtschaftlichen Verluste der Ukraine, einer der Kornkammern der Welt, laut KSE-Schätzungen vom November bei 34 Mrd. US-Dollar. Die Kosten für den gesamten Wiederaufbau der Ukraine schätzen EU und Weltbank auf etwa 350 Mrd. US-Dollar.

Mehr als acht Millionen Ukrainer*innen sind nach Angaben des UNHCR seit Kriegsbeginn geflüchtet, die meisten von ihnen nach Polen, wo 1,5 Mio. untergekommen sind. 1,1 Mio. kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes seit Kriegsbeginn nach Deutschland, darunter überwiegend Frauen und Kinder. Über 130.000 kehrten bereits wieder zurück. Mehr als fünf Millionen Ukrainer *innen wurden laut UNHCR innerhalb des Landes vertrieben. Nach Angaben aus Moskau flohen ebenfalls fünf Millionen Menschen nach Russland.

Angesichts dieser umfassenden Zerstörung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist einsichtig, dass die Hilfe aus dem Westen für die weitere Existenz des ukrainischen Staates unverzichtbar ist. Die Höhe der zugesagten Hilfen der westlichen Staatengemeinschaft zeigt die nachfolgende Abbildung.


Direkter Dialog und Abkehr vom Kalten Krieg

In dieser Situation hat die Volksrepublik China ihre Position zur Überwindung der Kriegskonstellation vorgelegt. Die chinesische Regierung regt den Übergang zum direkten Dialog und die Abkehr von den bisherigen Einstellungen zum Krieg an. »Alle Parteien sollten Russland und die Ukraine darin unterstützen, in die gleiche Richtung zu arbeiten und den direkten Dialog so schnell wie möglich wieder aufzunehmen«, um eine »friedliche Lösung« zu erreichen, so das chinesische Außenministerium. »Wiederaufnahme der Friedensgespräche. Dialog und Verhandlungen sind die einzige praktikable Lösung für die Ukraine-Krise. Alle Bemühungen, die zu einer friedlichen Beilegung der Krise beitragen, müssen gefördert und unterstützt werden.«

Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Überwindung der militärischen Auseinandersetzung, um die Folgen für die wirtschaftlichen und humanitären Existenzbedingungen zu verbessern. China befürwortet in dem vorgelegten Positionspapier u.a. einen Waffenstillstand und die sofortige Aufnahme von Verhandlungen, denn »Konflikt und Krieg dienen niemandem. Alle Parteien müssen rational bleiben, Zurückhaltung üben und vermeiden, die Flammen anzufachen, und verhindern, dass sich die Krise weiter verschlechtert oder sogar außer Kontrolle gerät.«

Da als schlechte Alternative eine weitere Eskalation droht, ruft China in dem Dokument auch zu einer Verringerung der strategischen Risiken des Krieges auf: »Atomwaffen dürfen nicht eingesetzt werden, und Atomkriege dürfen nicht ausgefochten werden.« Auch die Drohung mit dem Einsatz von nuklearen Waffen sei abzulehnen und die Grundsätze der Vereinten Nationen müssten streng beachtet werden.

Chinas Außenminister Qin Gang hat sich beunruhigt über eine mögliche Eskalation des Ukraine-Krieges gezeigt. Bei der Vorlage eines Konzeptpapiers zur Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) von Staats- und Parteichef Xi Jinping sagte er: »China ist tief besorgt, dass der Konflikt eskaliert und sogar außer Kontrolle geraten könnte.« Kritik an Russland wegen dessen Angriffskriegs übte der Außenminister allerdings weiterhin nicht.

Dass China mit dem Vorschlag die verhärteten Fronten schlagartig auflösen könnte, ist nicht zu erwarten. Die chinesische Regierung sieht klar, dass es nicht nur um die Existenz und Zugehörigkeit einzelner Regionen in der Ukraine geht, sondern dass zu den Gründen der Transformation eines Konfliktes in eine kriegerische Auseinandersetzung auch die Missachtung von Sicherheitsinteressen gehört. »Die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität aller Länder muss wirksam aufrechterhalten werden«, heißt es im ersten Punkt des Papiers, was Beobachter häufig auf die ursprünglichen Grenzen der Ukraine beziehen. Gleichzeitig wird darin aber auch gefordert, dass die »legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder ernst genommen« werden müssten. Hinter dieser Formulierung sehen Diplomaten einen klaren Hinweis auf die Argumentation Russlands, sich gegen die USA und die NATO verteidigen zu müssen.

Die umfangreiche Unterstützungsleistungen durch die westlichen Staaten, aber auch die Verhängung von folgenreichen Sanktionen verdeutlichen, dass im Ukraine-Krieg nicht nur regionale Interessen gewaltsam gelöst werden sollen, sondern dass es auch um die Neuordnung von übergreifenden Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen geht. Der Krieg offenbart die Unvereinbarkeit der Interessen insbesondere in Fragen der NATO-Osterweiterung.

Russland forderte von der NATO und den USA Sicherheitsgarantien, eine Verringerung der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und vor allem einen Stopp der NATO-Osterweiterung. Nach Ansicht Putins soll sich diese gar wieder aus Osteuropa zurückziehen und der Stand von 1997 wiederhergestellt werden. Die USA und die NATO haben dies als in weiten Teilen unannehmbar zurückgewiesen.

In der Ukraine wird also nicht nur um die Integrität eines Nationalstaates gekämpft, sondern auch um die Neugestaltung der Weltordnung. Die chinesische Führung will deshalb eine Politik beenden, mittels einseitiger Sanktionen eine Durchsetzung von nationalen Interessen zu erzwingen. »Einseitige Sanktionen und maximaler Druck können das Problem nicht lösen; sie schaffen nur neue Probleme. China lehnt einseitige, vom UN-Sicherheitsrat nicht genehmigte Sanktionen ab. Die betroffenen Länder sollten aufhören, einseitige Sanktionen und die ›Langwaffengerichtsbarkeit‹ gegen andere Länder zu missbrauchen, um ihren Teil zur Deeskalation der Ukraine-Krise beizutragen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Entwicklungsländer ihre Wirtschaft ausbauen und die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung verbessern können.«

Im Prozess des Dialoges und der Verständigung könnten auch die humanitären Verwerfungen schrittweise beseitigt werden: »Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um die humanitäre Hilfe in den betroffenen Gebieten zu verstärken, die humanitären Bedingungen zu verbessern und einen schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu gewährleisten, um eine humanitäre Krise größeren Ausmaßes zu verhindern. Die Vereinten Nationen sollten bei der Koordinierung der humanitären Hilfe für die Konfliktgebiete unterstützt werden.«

Die Konfliktparteien »sollten sich strikt an das humanitäre Völkerrecht halten, Angriffe auf Zivilisten oder zivile Einrichtungen vermeiden, Frauen, Kinder und andere Opfer des Konflikts schützen und die Grundrechte der Kriegsgefangenen achten. China unterstützt den Austausch von Kriegsgefangenen zwischen Russland und der Ukraine und fordert alle Parteien auf, günstigere Bedingungen für diesen Zweck zu schaffen.«


Reaktionen auf die chinesischen Vorschläge

Ukraines Präsident Selenskyj hat das Ziel des chinesischen Vorschlags begrüßt. Er sprach von einem wichtigen ersten Schritt. »Ich denke im Allgemeinen, dass die Tatsache, dass China begonnen hat, über Frieden in der Ukraine zu sprechen, nicht schlecht ist.« Den Dialog mit Russland lehnt Selenskyj allerdings nach wie vor ab. Mehrfach hatte er betont, dass Gespräche nur möglich seien, wenn Russland seine Soldaten aus der gesamten Ukraine einschließlich der Krim abziehe. Direkte Verhandlungen mit Putin schließt er ebenfalls aus, da er diesem nicht traue. Ende September 2022 hatte er per Dekret Gespräche mit dem Kremlchef verboten.

Ein Sprecher der deutschen Bundesregierung teilte mit, es sei »gut«, dass China einen Plan für die Ukraine vorgelegt habe, Verantwortung übernehme und den Gebrauch von Atomwaffen klar ablehne. Allerdings fehlten in dem 12-Punkte-Plan wichtige Elemente wie ein Abzug der russischen Truppen. Auch müsse Peking den Plan direkt mit Kiew besprechen.

Die Kritik aus Berlin an den chinesischen Überlegungen ist noch einigermaßen zurückhaltend: Der Plan eröffne keine Perspektive, wie die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch kommen sollen. Daher sei »der Plan zum Scheitern verurteilt«. Die Konzeption sei keine politische Lösung, aber ein Versuch, den Dialog zwischen den Kriegsparteien wiederherzustellen.

Es ist wenig erstaunlich, dass die chinesischen Überlegungen auch auf eindeutige Ablehnung stoßen: Putin habe ganz klar gesagt, dass sein Ziel weiterhin sei, die Ukraine zu erobern. Und solange der Aggressor nicht bereit sei, die Waffen niederzulegen, könne es nicht zu Verhandlungen kommen. Zwar werde von Friedensverhandlungen gesprochen, doch unter den gegebenen Umständen könne es kaum zu Verhandlungen kommen, daher sei der Plan ein »Ablenkungsmanöver«. Deshalb bleiben weiterhin westliche Waffenlieferungen dringend nötig. Solange der Aggressor nicht zurückweiche, werde es keine Beendigung des Krieges geben.

Diese Fortführung der bisherigen Konfrontationspolitik ist für eine übergreifende, geopolitische Konfliktsituation nicht zuträglich. China sieht den Krieg als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA. Wenn es zu einer Destabilisierung in Russland kommt, muss China den sich entwickelnden Konflikt um die Gestaltung der Weltordnung gegen die USA allein austragen. Das sieht man in Peking zu Recht mit großer Sorge, und ist daher nicht zu einer eindeutigen Abgrenzung und Distanzierung zu Russland bereit. Immerhin zeigen die Reaktionen auf den vorgelegten 12-Punkte-Plan zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise, dass China als aufstrebende Weltmacht bei der überfälligen Neuordnung von Konflikten Beachtung findet.

China will mit der öffentlichen Positionsbestimmung keineswegs die eigene Neutralität behaupten, den Krieg in der Ukraine kritisieren oder die Invasion als solche bezeichnen. Es teilt die westliche Sicht auf die Verletzung der Souveränität und Integrität des ukrainischen Nationalstaates nicht, ist aber über eine mögliche Ausweitung des Krieges besorgt. Und es verschließt auch nicht die Augen davor, dass der Krieg eine Vorgeschichte hat. Die Verletzung von legitimen Sicherheitsinteressen und -belangen anderer Länder ist für die chinesische Regierung eine unakzeptable Haltung.

»Alle Parteien sollten gemäß der Vision einer gemeinsamen, umfassenden, kooperativen und nachhaltigen Sicherheit und mit Blick auf den langfristigen Frieden und die Stabilität in der Welt dazu beitragen, eine ausgewogene, effektive und nachhaltige europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Alle Parteien sollten sich dem Streben nach eigener Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer widersetzen, eine Blockkonfrontation verhindern und sich gemeinsam für Frieden und Stabilität auf dem eurasischen Kontinent einsetzen.«

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