17. Juli 2022 Redaktion Sozialismus.de: Folgen der Zero-Covid-Maßnahmen

Chinas schwaches Wachstum erhöht Unsicherheiten für die Globalökonomie

Chinas Wirtschaft steckt aktuell in großen Turbulenzen. Das Wachstum der Wirtschaft ist im zweiten Quartal deutlich abgesackt. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum legte die zweitgrößte Volkswirtschaft nur noch um 0,4% zu, wie das Pekinger Statistikbüro mitteilte.

Es ist das schwächste Quartalswachstum seit dem Beginn der Corona-Pandemie. Im ersten Quartal war die Wirtschaft noch um 4,8% gewachsen. Für das erste Halbjahr ergab sich damit ein Gesamtwachstum von 2,5%. Es dürfte daher schwierig werden, das Regierungsziel von 5,5% Wachstum für 2022 zu erreichen.

China kämpft gerade mit der größten Corona-Welle seit Beginn der Pandemie vor mehr als zwei Jahren. Da das bevölkerungsreichste Land der Erde eine strenge Null-Covid-Politik verfolgt, herrschen in Shanghai und anderen Metropolen weitgehende Ausgangssperren. Shanghai, das wichtigste Wirtschaftszentrum, musste im April und Mai zwei Monate in einem harten Lockdown verbringen, was den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess auf einem geringen Niveau stillgelegt hat.

Auch der Hafen der Millionen-Metropole, wichtigster Umschlagplatz im Außenhandel, funktionierte nur eingeschränkt. Zig Millionen Menschen konnten ihre Wohnungen nicht verlassen. Viele Firmen mussten den Betrieb einstellen, auch der Frachtverkehr war erheblich eingeschränkt.

Nach dem harten Lockdown in der Wirtschaftsmetropole hat sich die Lage wieder etwas entspannt. Doch viele befürchten weitere Einschränkungen und damit erneute Probleme für die Wirtschaft. Die neuen, noch ansteckenderen Omikron-Varianten des Coronavirus verbreiten sich auch in der Volksrepublik. Nicht zuletzt deshalb hält die chinesische Staats- und Parteiführung an ihrer strikten Null-Covid-Strategie fest.

Der Ausblick für die Weltwirtschaft ist bedrückend. Nicht nur die wichtigen Zielsetzungen für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung der VR China müssen korrigiert werden. Auch die Rückwirkungen auf die Globalökonomie sind fatal. Denn in den vergangenen Jahren ist China der Wachstumsmotor und Stabilitätsfaktor gewesen. Wegen der Folgen des Angriffskrieges Russlands, der Sanktionswelle des Westens und den russischen Reaktionen auf den Wirtschaftskrieg stehen wir in Europa und den USA vor einer deutlichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums und der Gefahr einer Rezession im Herbst.

Bereits im vierten Quartal 2021 ist die chinesische Wirtschaft langsamer gewachsen als im Rest des Jahres – auch weil es schon im Dezember mehrere Lockdowns gab. Mehr als 100 deutsche Unternehmen waren davon in den Wirtschaftsmetropolen Xi’an und Tianjin im Norden des Landes betroffen. Die Produktion stand teilweise still.

»Die Beeinträchtigungen, die es schon durch das ganze Jahr gab, auch durch Logistik – Lieferketten, Rohstoffmangel –, die werden einfach von solchen Lockdowns noch mal verstärkt«, sagt Jens Hildebrandt von der Deutschen Auslandshandelskammer in China. »Somit ist die wirtschaftliche Aktivität der Unternehmen eingeschränkt. Grundsätzlich muss man sagen, die Ankunft von Omikron wird schon zur Feuerprobe für China. Man muss schauen, wie gut die Null-Covid-Strategie, die die chinesische Regierung bisher gefahren hat, standhalten wird.«

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie führt in der Volksrepublik zu weniger Konsum und höherer Arbeitslosigkeit. Die harten Maßnahmen schränken den Binnenkonsum und die Wirtschaft erheblich ein. Die Regierung versucht gegenzusteuern, indem sie neben der Förderung des individuellen Verbrauchs die Infrastruktur ausbaut. Trotz der Einschränkungen zur Bewältigung der Pandemie hatte China im ersten Quartal noch ein unerwartet starkes Wachstum von 4,8% erreicht.

Der konjunkturelle Schwung der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft hat sich aber nach Angaben des Statistikamtes seit März abgeschwächt. »Der wirtschaftliche Abwärtsdruck hat zugenommen«, sagte dessen Sprecher Fu Linghui vor der Presse in Peking. Der heimische Konsum habe abgenommen. »Seit März hat sich die Lage in der Welt kompliziert entwickelt. Die Auswirkungen der Epidemie im Land dauern an.«

Dass die Corona-Beschränkungen die Konjunktur im zweiten Quartal weiter abschwächen würden, war erwartet worden. Ein Hinweis darauf ist der überraschend starke Rückgang der Einzelhandelsumsätze im März um 3,5% im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Industrieproduktion entwickelte sich mit einem Plus von 5,0% dagegen besser als erwartet. Die Anlageinvestitionen stiegen im ersten Quartal insgesamt mit 9,3% auch stärker als vorhergesagt.

Im März waren sie aber spürbar schwächer und legten nur um 0,61% im Vergleich zum Vorjahresmonat zu. Zwischen April und Juni wuchs das Bruttoinlandprodukt (BIP) im Jahresvergleich nur noch um 0,4% und lag damit deutlich unter den Erwartungen der meisten Beobachter. Diese hatten mit einem Wirtschaftswachstum zwischen 1% und 2% gerechnet.


Zentralbank lockerte die Kreditvergabe

Um die Wirtschaft zu stärken, hat die Zentralbank die Mindestreserven der Banken leicht gesenkt. Damit sollen der Wirtschaft langfristig rund 530 Mrd. Yuan (76 Mrd. Euro) an Liquidität zugeführt werden. Chinas Wirtschaft hatte im vergangenen Jahr ein starkes Wachstum von 8,1% erreicht, auch wenn der Schwung im vierten Quartal deutlich nachgelassen hatte. Der starke Zuwachs 2021 erklärte sich allerdings auch durch die niedrige Vergleichsbasis 2020, als die Pandemie die Wirtschaft bereits erheblich geschwächt hatte. Die gesamtwirtschaftliche Leistung schrumpfte um 6,8%.

Abgesehen von einem heftigen Einbruch im ersten Quartal 2020, als das BIP unmittelbar nach dem Ausbruch der Pandemie um 6,9% schrumpfte, wuchs Chinas Wirtschaft noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen 1992 so langsam wie jetzt. Im Vergleich zum ersten Quartal dieses Jahres ging die Wirtschaftsleistung zwischen April und Juni um 2,6% zurück.

Die magere Bilanz im zweiten Quartal erklärte die chinesische Statistikbehörde mit der »extrem ungewöhnlichen« Corona-Lage. Im Inland dauerten die Auswirkungen der Epidemie an. Zugleich wachse die Gefahr einer Stagflation der Weltwirtschaft. Chinas Einbruch schürt die Befürchtungen einer globalen Konjunkturabkühlung. Die Regierung rückt nicht von ihrer »Null-Corona-Politik ab. Diese hat zum Ziel, jedes Infektionsgeschehen räumlich einzuhegen. Für zahlreiche Millionenstädte waren besonders im Frühling strenge Maßnahmen verhängt worden, um die Verbreitung der hochansteckenden Omikron-Variante zu verhindern.

Die vergleichsweise harten Corona-Maßnahmen schränken die wirtschaftlichen Aktivitäten massiv ein. Klammert man den Schock vom Ausbruch der Virus-Pandemie Anfang 2020 aus, war das schmale BIP-Wachstum das geringste seit Beginn der Datenerhebung 1992. Angesichts des schwachen Wachstums wird die chinesische Regierung weitere Konjunkturmaßnahmen ergreifen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Sie hat bei der Erholung des privaten Verbrauchs kräftig nachgeholfen. So senkte sie die Steuern auf Autos um die Hälfte. Die Erleichterung soll bis Ende des Jahres gelten. Außerdem müssen die lokalen Regierungen auf Anweisung Pekings Käufe von Konsumgütern wie Haushaltsgeräten und Elektronikartikeln subventionieren. Die Maßnahmen zeigen durchaus Wirkungen. Im Juni stiegen die Automobilverkäufe um 13,9%, nachdem sie im Mai um 16% geschrumpft waren.

Die verhängten Eindämmungsmaßnahmen haben die Binnenkonjunktur erheblich beeinflusst, die Lockdowns in Shanghai und Shenzhen waren eine zu große Belastung für den privaten Konsum. Die Mobilitätseinschränkungen waren auch für die Industrie und für die Logistikbranche eine schwere Bürde. Die inzwischen eingeleiteten Lockerungen dürften im laufenden dritten Quartal wiederum das Wachstum anschieben.

Die Metropole Shanghai mit ihren mehr als 25 Mio. Einwohnern war in einen harten Lockdown geschickt worden, was zu geschlossenen Fabriken und Geschäften sowie Staus in den Häfen führte. Ökonom*innen zufolge dürfte die Regierung es deshalb schwer haben, ihr Wachstumsziel zu erreichen. Peking strebt einen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von etwa 5,5% in diesem Jahr an.

Wenn Chinas Wirtschaft schwächelt, spürt dies auch Deutschland als Exportnation. Denn die Volksrepublik ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik mit einem Warenaustausch von zuletzt 245 Mrd. Euro im Jahr 2021. Die massiven (Teil-)Lockdowns in den Wirtschaftsmetropolen haben die Lieferketten nachhaltig durcheinandergebracht, und die Auswirkungen davon lassen sich in Deutschland spüren. Der chinesischen Regierung bereitet das allerdings weniger Kopfschmerzen, laufen die Auslandsgeschäfte derzeit doch glänzend. Der kürzlich veröffentlichte Exportüberschuss für Juni ist mit knapp 100 Mrd. US-Dollar laut Nachrichtenagentur Bloomberg der zweitbeste seit 30 Jahren. Allerdings reflektiert sich in diesem Rekordwert auch die Schwäche der Binnenwirtschaft.

Mehr Sorgen bereiten daher der Regierung die eigenen Bürger*innen: Diese können derzeit nicht so stark konsumieren wie noch in den vergangenen Jahren. Das sei verständlich, findet ein Experte: »Wie geben die Menschen Geld aus, wenn sie in ihren Wohnungen eingeschlossen sind oder wenn sie sich Sorgen machen, dass dies jeden Moment passieren könnte?« Das Zukunftsvertrauen der Verbraucher*innen und ihre Konsumausgaben sind wegen der strengen Corona-Beschränkungen stark abgesackt.

Doch statt sich, wie von einigen Ökonom*innen gefordert, auf allein die Stützung der Konsument*innen zu konzentrieren, greift die Regierung auch schwerpunktmäßig Firmen unter die Arme. Kleine Unternehmen und bestimmte Sektoren wie die Energiebranche, Fertigung und Transportfirmen erhalten Steuererleichterungen. Anderen Firmen aus der Industrie und dem Dienstleistungssektor werden die Sozialabgaben gestundet.

Auch Umweltziele müssen hintanstehen: Die Förderung von klimaschädlicher Kohle wird wieder angekurbelt, um die Energiepreise zu senken. Kosten diese Maßnahmen laut staatlichen Angaben von Anfang Juni bereits rund 250 Mrd. US-Dollar, fließt nach Berechnungen einer internationalen Consulting Firma noch mal mehr als eine Billion US-Dollar in den Bau von Infrastrukturprojekten wie Straßen und Schienen.

Das Geld muss der chinesische Staat von den Finanzmärkten leihen. Im ersten Halbjahr betrug das Haushaltsdefizit aller Regierungsebenen laut Schätzungen bereits die Rekordsumme von mehr als 750 Mrd. US-Dollar. Doch hier raten Analyst*innen, wie bei den meisten Wirtschaftsdaten aus China, die Zahlen mit etwas Skepsis zu betrachten: Statt der Zentralregierung geben nämlich die lokalen Regierungen und Staatskonzerne die meisten Anleihen aus, was das Ausmaß der Staatsverschuldung undurchsichtig macht.

Die staatliche Eisenbahngesellschaft hatte beispielsweise Ende vergangenen Jahres laut der Wirtschaftszeitung Nikkei bereits rund 900 Mrd. US-Dollar Schulden, das sind ungefähr 5% der chinesischen Wirtschaftsleistung. Seitdem hat die Regierung angeordnet, dass die Firma noch mal 45 Mrd. US-Dollar an Anleihen ausgeben soll, um den Streckenausbau zu finanzieren.

Analysten fragen sich allerdings, wie die Regierung all dieses Geld gewinnbringend investieren will. »Es gibt einfach nicht genug schaufelfertige Projekte.«  Sie haben »bereits all diese Hochgeschwindigkeitsstrecken, all diese Autobahnen, all diese klassischen Infrastrukturprojekte gebaut«. Verwiesen wird auf den Infrastruktur-Boom nach dem letzten großen Konjunkturpaket infolge der globalen Finanzkrise von 2008. China ist seitdem stolzer Eigentümer des größten Hochgeschwindigkeitsschienennetzes der Welt, aber auch einiger Geisterflughäfen und Brücken ins Nichts.


Angeschlagener Immobiliensektor

Auch in den Wohnungsbausektor, der ein Fünftel der chinesischen Wirtschaftsleistung ausmacht, hat die Regierung schon viel Geld gepumpt. Dieser ist dadurch sehr aufgebläht. Deshalb hat die Regierung in den vergangenen Jahren den hoch verschuldeten Wohnungsbauunternehmen den Kredithahn zugedreht. In der Folge gerieten immer mehr Immobilienentwickler wie Evergrande und jüngst Shimao in Zahlungsnöte.

Viele Wohnungskäufer*innen können ihre Darlehen nicht mehr bedienen, insofern gibt es für die schwelende Immobilienkrise kaum Zeichen der Entspannung. Im Juni schrumpften die Investitionen in der Branche im Jahresvergleich erneut um 9,6%. Für besondere Nervosität sorgte jüngst der Umstand, dass Wohnungskäufer*innen in mehreren chinesischen Städten die Ratenzahlungen auf ihre Darlehen gestoppt haben. Sie wollen damit ihrer Unzufriedenheit darüber Ausdruck verleihen, dass angeschlagene Immobilienentwickler die Objekte womöglich nicht mehr oder nur mit großer zeitlicher Verzögerung fertigstellen.

Insofern droht auch eine Bankenkrise. Die chinesische Zentralbank hat zwar zuletzt den Geldhahn wieder etwas aufgemacht, indem sie den Leitzins für Immobilienkredite leicht senkte. Doch die Regierung zögert noch, komplett zu den alten Zuständen der expansiven Geld- und Kreditpolitik zurückzukehren. Analyst*innen vermuten wohl zu Recht, dass ein Großteil der neuen Anleihen zum »Stopfen von Haushaltslöchern verwendet werden muss«, die durch die Staatshilfen und Infektionsschutzmaßnahmen entstanden sind.

Es dürfte zu weiteren Einschränkungen der wirtschaftlichen Leistung Chinas kommen, wenn die Inflation in Europa und den USA die Nachfrage nach chinesischen Konsumgütern beeinträchtigt und die Exportüberschüsse zusammenschrumpfen. Chinas Konjunkturstütze waren bislang die Warenexporte. Im Juni kletterten die Ausfuhren um mehr als 17%. Doch mit der nachlassenden Dynamik in Europa und den USA und einer drohenden Rezession dürfte sich die Nachfrage im Westen nach Waren aus China in den kommenden Monaten abschwächen.

Hinzu kommt, dass viele Zentralbanken gerade die Leitzinsen angehoben haben, während das in China noch nicht der Fall ist. Das erhöht das Risiko von Kapitalabflüssen. Es macht chinesische Staatsanleihen weniger attraktiv und könnte daher die künftigen Finanzierungskosten für Peking in die Höhe treiben und die vielen neuen Schulden der chinesischen Regierung bald weitere Probleme bereiten.

Das größte Konjunkturpaket, das die chinesische Regierung schnüren könnte, wäre eine Modifikation in der Bekämpfung der Covid-Infektionen. Allerdings ist ein Umsteuern in Richtung auf Ausweitung der gesellschaftlichen Mobilität nicht einfach. Aber die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt, dass ein Verzicht auf Lockdowns die Konsumtion und den Dienstleistungssektor stark fördern und auch das Arbeitsangebot expandieren würde.

Da aber die aktuelle Covid-Variante noch ansteckender ist als vorangegangene Varianten, werden die Behörden immer wieder zu Lockdowns als Instrument der Eindämmung greifen, mit entsprechenden Folgen für Lieferketten und die wirtschaftliche Entwicklung. Schon die Bekämpfung der Corona-Pandemie unter Vermeidung von den bislang üblichen Beschneidungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses fordert die Partei- und Staatführung heraus.

Auch wenn die Regierung ihre Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung permanent verfeinert, wird es bei einem strikten Festhalten an der Zero-Covid-Strategie immer wieder zu kleinen und größeren Lockdowns mit entsprechenden Folgen für die Wirtschaft kommen. In der Konsequenz wird im laufenden Jahr die chinesische Wirtschaft nur mit begrenzter Leistungsfähigkeit die globale Ökonomie antreiben können.

Das Wirtschaftswachstum wird weiter unter der von Partei- und Staatsführung gesteckten Zielmarke von 5,5% bleiben. Das ist für China wie für die anderen Wirtschaftsmächte eine beunruhigende Aussicht, für die der 20. Parteitag der KP im November 2022 Lösungen diskutieren müsste.

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