18. Oktober 2019 Joachim Bischoff

Chinas Wirtschaft im Umbau

Wirtschaftsmetropole Shanghai. Foto: dove lee/flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

In den vergangenen drei Monaten ist das chinesische Bruttoinlandprodukt (BIP) im dritten Quartal gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres um 6% gewachsen. Das ist langsamer als allgemein erwartet wurde.

Im zweiten Quartal expandierte die Volkswirtschaft noch um 6,2%. Das Wachstum lag damit noch im Rahmen des von der Regierung für das laufende Jahr vorgegebenen Ziels, das eine Expansion zwischen 6,0% und 6,5% für das ganze Jahr vorgegeben hatte. Allerdings: Eine Reihe von Frühindikatoren wie etwa der Index der Einkaufsmanagerumfragen (Purchasing Managers Index, PMI) weist auf eine weitere Abschwächung der Dynamik für die Binnenwirtschaft hin.



Da sich die Wirtschaftsdynamik in China stärker als erwartet abschwächt, stellt sich die Frage nach einem staatlichen Konjunkturpaket. Als Reaktion auf wirtschaftliche Eintrübungen während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise hatte China 2008 eine expansive Fiskalpolitik umgesetzt. Das Land hatte die Turbulenzen der globalen Märkte gut überstanden. Allerdings ist infolge der Kreditexpansion die Verschuldung vor allem der Staatsbetriebe stark gestiegen.

Der gesamtwirtschaftliche Verschuldungsgrad hat bezogen auf das BIP bereits die Marke von 300% überschritten. Denn gemäß dem Bankenverband International Institute of Finance (IIF) liegt die Gesamtverschuldung Chinas bei 310%. »Die Herausforderungen für die Entschuldung bleiben akut«, kommentiert daher das IIF. Insbesondere Haushalte und Banken haben sich zuletzt weiter verschuldet. Die politische Führung ist zurecht vorsichtig, weiterhin über eine expansive Kreditpolitik die Akkumulationsdynamik zu fördern. Stattdessen kommt seit zwei Jahren der Finanzstabilität ein größeres höheres Gewicht zu als dem von billigen Krediten gestützten Wachstum. Mit den Schulden soll das Wirtschaftswachstum hochgehalten werden.

Es gibt es von einzelnen Ökonomen, wie etwa dem Pekinger Finanzprofessor Michael Pettis, gleichwohl scharfe Kritik an der Schuldenpolitik: Ökonomisch seien die mit den Schulden angestoßenen Projekte oft nicht sinnvoll. Die wirtschaftliche Aktivität werde damit zwar hochgehalten, aber sie erhöhten nicht die Leistungskapazität der Volkswirtschaft, die Schulden in Zukunft auch zu bedienen.

Die nachstehende Grafik setzt die ausgegebenen Bankkredite ins Verhältnis zur Industrieproduktion. Das Verhältnis wächst: Es gibt eine immer höhere Verschuldung relativ zur Industrieproduktion. Nach diesem Maß hat sich die Schuldenlast seit 2008 verdoppelt. Von einer Entschuldung war nur kurz Anfang des Jahres etwas zu sehen. Danach ging es weiter aufwärts.



Auch abgesehen von der Kreditdynamik ist die Abschwächung der gesellschaftlichen Wertschöpfung für die Führung beunruhigend: Fast alle Wachstumstreiber zeigen nach unten. Neben den Investitionen und Exporten verlangsamt sich auch der Konsum, vor allem der Automobilabsatz. Die Regierung greift nicht zu großen Konjunkturmaßnahmen, weil sie die Probleme wie Überschuldung und Vermögensblasen verstärken würden. Außerdem lässt die Wirkung weiterer Kredite nach. Die wirtschaftliche Dynamik wird mit jedem Stimuluspaket schwächer, die Wirkung nimmt mit jedem Jahr ab.

Diese Schwierigkeit hängt auch mit dem erreichten Entwicklungsgrad und dem Kapitalstock zusammen. China verfügt mittlerweile über eine Infrastruktur auf dem Niveau vieler zur Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung (OECD) zählender Länder. Mit anderen Worten: Die Investitionen lösten in Chinas Infrastruktur nicht mehr so weitreichende Impulse aus wie in früheren Jahren. Erschwerend kommt im laufenden Jahr hinzu, dass die Lokalregierungen die ihnen von Peking zugeordneten Anleihen bereits fast vollständig genutzt haben. Rund zwei Drittel der durch die Lokalregierungen ausgegebenen Anleihen wurden etwa für die Renovierung heruntergekommener Stadtviertel verwendet und kamen damit einem weiteren Ausbau der öffentlichen Infrastruktur nicht zugute. Allerdings deutete das National Bureau of Statistics of China bei der Bekanntgabe der Wirtschaftsdaten an, dass die Lokalregierungen im vierten Quartal weitere Anleihen werden ausgeben dürfen, wodurch die Investitionen angekurbelt werden sollen.

In den letzten Jahrzehnten sind auch die Löhne in China stetig gestiegen. Allein in den letzten 25 Jahren haben sich die chinesischen Löhne real vervierfacht. Deshalb ist auch die Armutsquote von 88% im Jahr 1981 auf 11% im Jahr 2010 gesunken. 2015 gehörten etwa 60% der chinesischen Arbeitnehmer*innen zu den mittleren Einkommensschichten. Steigende Reallöhne haben somit zu einer enormen Verringerung der Armut und zum Aufbau einer breiten Mittelschicht beigetragen.

Aus diesen Gründen lässt die Dynamik der Binnenwirtschaft nach und die Auswirkungen des Handelskrieges mit den USA[1] hinterlassen deutliche Spuren, was auch die gesellschaftliche Nachfrage im eigenen Land nach Industriegütern dämpft. Der chinesische Premierminister, Li Keqiang, hält wegen des Handelskonflikts mit den USA und der mauen globalen Konjunktur ein Wirtschaftswachstum in China von mehr als 6% nur für sehr schwer erreichbar. China leide unter dem Druck des wachsenden Protektionismus und Unilateralismus, sagte Li.

Vorsichtige Kreditpolitik

Die Notenbank hat seit Anfang des Jahres mit Maßnahmen wie der Senkung des Mindestreservesatzes der Geschäftsbanken dafür gesorgt, dass die Wirtschaft mit genügend Liquidität versorgt bleibt. Und es gibt auch Zeichen, die zumindest auf eine Teilerholung des Wachstums hinweisen.

Eine weitere Abkühlung aber könnte schnell zu größeren Problemen auf dem Arbeitsmarkt führen. Damit wäre eines der wichtigsten Ziele der Regierung gefährdet: Bis 2020 soll sich Chinas Wirtschaftsleistung im Vergleich zu 2010 verdoppelt haben und China eine »moderat prosperierende Gesellschaft« sein. Dafür braucht das Land ein Wachstum von mehr als 6%, sowohl im laufenden Jahr als auch 2020. Dies, so der chinesische Premier Li Keqiang, wäre sehr schwierig.

Die Herabsetzung der Mindestreservesätze gehört zum Standardrepertoire der PBOC. Seit Anfang 2018 hat die Zentralbank die Sätze bereits sieben Mal gesenkt. Diese neuerliche Senkung der Reserven ist ein bewusst vorsichtiger Versuch, der politischen Führung gegen die Abschwächung der Wirtschaft vorzugehen. Während manche Beobachter schon länger von rigoroseren Stützungsmaßnahmen für die schwächelnde Konjunktur ausgehen, betont Peking, dieses Mal werde man es anders machen. In der Vergangenheit, etwa während der Finanzkrise 2008, versuchten die Behörden meist, mit staatlich finanzierten Infrastrukturvorhaben für mehr Dynamik zu sorgen. Solche kurzfristig stabilisierenden Maßnahmen führten längerfristig allerdings zu Ungleichgewichten in der Wirtschaft. Mit deren Bewältigung kämpft China noch heute. So baute das Land in zahlreichen Industrien Überkapazitäten auf, die Schulden wuchsen sehr stark. Ende Juli stellte das Politbüro unmissverständlich klar, dass China vorerst auf ein großangelegtes Stützungspaket verzichten werde.

Die Regierung versucht schon seit zwei Jahren, die rasant wachsenden Schulden unter Kontrolle zu bringen. Zwischen 2008 und 2019 ist die Gesamtverschuldung von 177% auf 310% der Wirtschaftsleistung angewachsen. Der Spagat zwischen Stimulus und Stabilität ist schwierig.

Gehen Peking die Mittel aus?

Bisher spielten die Lokalregierungen eine zentrale Rolle bei Investitionen in die Infrastruktur. Im März jedoch beschnitt die Zentralregierung in Peking ihren Spielraum deutlich. Eine Steuerentlastung für Unternehmen mit einem Gesamtvolumen von zwei Mrd. US-Dollar reißt große Löcher in die Kassen der Lokalregierungen. Dazu kommt: Viele Provinzen, Kreise und Städte sind schon hoch verschuldet. Um für mehr Dynamik zu sorgen, will Peking den Lokalregierungen jetzt gestatten, alle ihnen für das laufende Jahr zustehenden Anleihen schon bis Ende September am Markt zu platzieren.

Doch auch hier dürfte die Wirkung sehr begrenzt sein, denn 93% der Anleihen-Quote für das laufende Jahr sind bereits ausgeschöpft. 2014 hatte die Zentralregierung ein Quotensystem eingeführt, das festlegt, in welchem Umfang Provinzen, Kreise und Städte Anleihen begeben dürfen. Keine Lockerung ist bei Vorschriften und Finanzierungsbedingungen im heiß gelaufenen Immobiliensektor in Sicht. Häuser und Wohnungen seien zum Wohnen da, nicht zum Spekulieren, heißt es regelmäßig aus Peking.

Ein schwieriger Strukturwandel

Mit einer derart deutlichen Abkühlung der Konjunktur hat die Regierung nicht gerechnet. Zwar ist sich Peking darüber im Klaren, dass ein solideres Finanzsystem und besser regulierte Lokalregierungen kurzfristig bremsend wirken. Doch die Maßnahmen zur Stabilisierung und zum Schuldenabbau hätten die Konjunktur wesentlich härter getroffen als erwartet. Chinas politische Führung setzt weiter auf Strukturreformen. In den vergangenen zwölf Jahren hat sich Chinas Wirtschaftsstruktur dramatisch verändert. Man brach mit der übermäßigen Abhängigkeit von der veralteten Fertigungsindustrie und wandte sich kohlenstoffarmen Dienstleistungen zu. 2006 entfielen auf den – hauptsächlich aus verarbeitender Industrie, aber auch Bau- und Energiewirtschaft bestehenden – sekundären Sektor 48% des chinesischen BIP, während der Dienstleistungssektor für nur 42% stand. Bis 2018 hatte sich dieses Verhältnis umgekehrt – 41% des BIP entfielen auf den sekundären, 52% auf den tertiären Sektor.

In großen Volkswirtschaften sind strukturelle Veränderungen dieses Ausmaßes in so kurzer Zeit nahezu beispiellos. Diese Veränderungen waren allerdings kein Zufall. Im März 2007 warnte der damalige Ministerpräsident Wen Jiabao vor einer zunehmend »instabilen, unausgewogenen, unkoordinierten und untragbaren« chinesischen Wirtschaft. Dies löste eine heftige Debatte über Nachhaltigkeitsrisiken aus, die großen Einfluss auf Chinas jüngste Fünfjahrespläne und Reformen ausübte. Die Führung kam zu dem Schluss, dass es sich Chinas Wirtschaft nicht mehr leisten könne, den energieintensiven und umweltbelastenden Kurs fortzusetzen, den man einst mit Deng Xiaopings Hyper-Wachstumsinitiative Anfang der 1980er Jahre eingeleitet hatte.

Im Einklang mit diesem dramatischen Strukturwandel hat China auch die Zusammensetzung seines Energieverbrauchs mit Nachdruck verändert, und den Fokus von kohlendioxidintensiver Kohle über Öl, Erdgas und Wasserkraft hin zu erneuerbaren Energieträgern verlagert. China ist vor allem weltweit führend im Bereich der Förderung erneuerbarer Energien wie Wind- und Sonnenkraft sowie geothermischer Biomasse. 2018 lag der Verbrauch erneuerbarer Energien 38% höher als in den USA, und dreimal so hoch wie in Deutschland. Das sich rasch verändernde Verkehrsmodell stellt eine dritte Schlüsselkomponente seiner Nachhaltigkeitsstrategie dar. China verfügt über das weltweit umfangreichste Hochgeschwindigkeitsbahnnetz und das am schnellsten wachsende U-Bahn-System. Überdies ist das Land führend im Hinblick auf alle Bemühungen zur Förderung der Elektromobilität.

Schließlich ist der – wohl für jede Herausforderung im Bereich Nachhaltigkeit entscheidende – städtische Raum in China von besonderer Bedeutung, weil die rasche Urbanisierung dort noch etwa drei Jahrzehnte andauern wird. Der Anteil der Stadtbewohner*innen an der Gesamtbevölkerung von derzeit fast 60% soll bis 2058 auf 80% steigen. Die Straßen in Chinas Großstädten sind – wie in anderen Ländern auch – massiv überlastet, doch China unternimmt etwas dagegen, und verfügt über die zwölf längsten U-Bahn-Netze der Welt.

Obwohl der Handelskrieg eine deutliche Behinderung der Entwicklung darstellt, hat in China der Strukturwandel in Richtung Nachhaltigkeit wachsende Relevanz. Ein nach wie vor relativ armes Land hat sich bewusst dafür entschieden, den Schwerpunkt von der Quantität auf die Qualität des Wachstums zu verlagern. Nach drei Jahrzehnten zweistelliger BIP-Wachstumsraten war eine Verlangsamung unvermeidlich. Doch auch wenn Chinas Zentralregierung einen gewissen Rückgang des jährlichen Wachstums hinnimmt, muss sie sich weiterhin für die Bewältigung der strukturellen Faktoren einsetzen, die den Trend verstärken, z.B. steigende Finanzierungskosten und sinkende Kapitalrenditen. Bisher war der wirtschaftliche Aufschwung so groß und breit, dass das »chinesische Modell« von einer Mehrheit der Bevölkerung als Erfolg gesehen wird. Aus ihrem wirtschaftlichen Leistungsausweis zieht die chinesische Führung ihre zentrale Legitimation. Doch in letzter Zeit bringen der Strukturwandel und der Handelskrieg das bestehende System unter Druck. Der politische gewollte Strukturwandel kostet Wachstumsraten.

Das bisherige »chinesische Modell« muss grundlegend weiterentwickelt und angepasst werden. Entstehen könnte ein entwickelteres China, das in seinen Problemen und Lösungen dem Westen nicht ähnelt, sondern einen neuen Typus sozialistischer Marktwirtschaft attraktiv machen könnte. Dass Chinas wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformation weiterhin gelingt, ist keineswegs selbstverständlich. Und das Land muss, wie versprochen, auch die Reform der Staatsführung beschleunigen, um mit den wirtschaftlich-sozialen Reformen Schritt zu halten. China ist auf dem Weg der Reform und Öffnung weit vorangekommen. Aber es sollte die Herausforderungen des umfassenden gesellschaftlichen Strukturwandels auch weiterhin nicht unterschätzen.

[1] Vgl. auch: Joachim Bischoff/Björn Radke/Axel Troost: Eine Auseinandersetzung mit Systemcharakter. China emanzipiert sich von seiner langjährigen Rolle als globale Werkbank, während die alte Supermacht USA um ihre Bedeutung ringt, in OXI Oktoberheft 2019.

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