30. September 2019 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Die Nationalratswahlen in Österreich

Comeback für anständig Mitte-Rechts?

Sebastian Kurz ist mit einer weitgehend auf den »Kanzler« ausgerichteten ÖVP als klarer Sieger aus den Nationalratswahlen in Österreich hervorgegangen. Die vom schwarzen Image ins frische Türkis gewechselte »neue Volkspartei« erreichte nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis (inklusive der Briefwahlergebnisse) 37,5% der Wählerstimmen und legte damit um 6 Prozentpunkte zu.

Zweiter Wahlgewinner sind die österreichischen Grünen, die bei der letzten Wahl 2017 mit 3,5% aus dem Nationalrat geflogen waren und nun mit dem historisch besten Ergebnis von 13,9% (+ 10,1%) und 26 Sitzen zurückkehren. Das Klimathema hat auch in Österreich den Grünen eine politische Aufwertung und einen starken Stimmenzuwachs gebracht; sie sind mit der Frage konfrontiert, in eine Koalitionsregierung mit Kurz’ ÖVP einzutreten. Allerdings verweisen sie zu Recht darauf, dass unter Kurz die ÖVP deutlich nach rechts außen gewechselt ist und zu einem erneuten Kurswechsel wohl nicht bereit ist.

Wahlverlierer sind die SPÖ, die mit 21,2% ihr historisch schlechtestes Ergebnis in Kauf nehmen musste, und die rechtspopulistische FPÖ, die 9,8% gegenüber 2017 verloren hat und 16,2% erreichte. Die »liberalen« NEOS mit der Parteifarbe Pink erzielten 8,1% (+2,8%); die junge Partei hat sich damit endgültig als feste Größe in Österreichs Parteienlandschaft etabliert. Die Wahlbeteiligung betrug 75,6% und ist gegenüber der Wahl von 2017 um 4,4% gesunken.

Kurz hatte im Jahr 2016 vor den letzten Nationalratswahlen die angeschlagene ÖVP programmatisch in Richtung Rechtspopulismus und hinsichtlich parteiinternen Machtstrukturen radikal umgebaut, und anschließend mit der FPÖ eine türkis-blaue Koalition gebildet. Die Veröffentlichung des Ibiza-Video im Mai 2019 und das unnachsichtige Agieren des damaligen FPÖ-Innenministers Herbert Kickl hatten den Kanzler zum Bruch der Koalition gezwungen; seitdem führte eine Experten-Regierung das Land. Kritiker hatten Kurz vorgehalten, zu lange als »Schweigekanzler« agiert zu haben, der seinem rechtsradikalen Koalitionspartner im Interesse des Koalitionsfriedens zu selten die Grenzen aufzeigte. Offenkundig hat sich die Rechtsverschiebung der Konservativen und die auch heute noch bekräftigte gute Kooperation mit der FPÖ in der letzten Regierung in einen überraschend starken Stimmenzuwachs umgesetzt.

Die seit langem ins braune Milieu verstrickte FPÖ hat wegen der mit den letzten Skandalen sichtbar gewordenen Mischung aus Dilettantismus, Korruption und Machtmissbrauch zwar erheblich an Stimmen verloren, aber die Partei bleibt mit 31 Sitzen im Parlament ein gewichtiger politischer Faktor. Dennoch empfiehlt sich die FPÖ selbst nicht als Koalitionspartnerin. Kurz kann die »Freiheitlichen« nur dann wieder ins Boot holen, wenn Gespräche mit den Grünen und der SPÖ scheitern und die FPÖ deutliche Signale setzt, zum Rechtsradikalismus inhaltlich wie personell teilweise auf Distanz zugehen.


Niedergang der SPÖ

Seit der Wahl im Oktober 2017 ist die österreichische Sozialdemokratie in der Opposition. Eine glaubwürdige programmatische Erneuerung hat es trotz Veränderung in der Parteiführung nicht gegeben. Die Hoffnung auf die Neuerfindung hat mit der Schlappe von historischem Ausmaß einen erneuten Rückschlag erhalten. Die SPÖ konnte den Status als zweitstärkste Partei zwar verteidigen, ihr Rückstand auf die ÖVP beträgt inzwischen mehr als 16 Prozentpunkte. Nachdem der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern überraschend von allen Ämtern zurückgetreten war, wurde die Ärztin Pamela Rendi-Wagner mit überragendem Ergebnis an die Spitze der Partei gewählt. Sie hat einen energischen Wahlkampf bestritten und die Rechtskoalition von Sebastian Kurz heftig attackiert. Aber die Partei präsentierte sich programmatisch keineswegs runderneuert und musste mit der massiven Aufwertung der Nachhaltigkeitsrevolution umgehen. Vor zwei Jahren verhagelte das übermächtige Ausländerthema die Wahlchancen, dieses Mal deckte die Frage des Klimawandels die Schwächen auf, und die Herausforderung der sozialen Spaltung blieb im Wahlkampf insgesamt eher ein Randthema.

Die SPÖ ist eine Partei mit vielen historischen Verdiensten, aber wenigen neuen Ideen für die aktuellen Zukunftsfragen. Weitgehend blass und widersprüchlich agierte die sozialistische Partei auf die Aufwertung des Nationalismus und die rechtspopulistischen Antworten. Die österreichische Sozialdemokratie ist weiterhin gespalten in einen urbanen linksliberalen Flügel und einen rechten, der für Zugeständnisse im Hinblick auf die nationale Sicherheit und mehr Härte in der Migrationspolitik plädiert. Krass tritt die Differenz zutage in der Frage, wie man sich gegenüber der FPÖ positioniert. Während die Sozialdemokraten auf Bundesebene jede Zusammenarbeit ausgeschlossen haben, regiert die SPÖ seit 2015 im Burgenland in einer Koalition mit der FPÖ. Die Überbrückung dieser großen programmatisch-politischen Differenzen gelang der neuen Parteiführerin Rendi-Wagner nicht.


Hintergründe des ÖVP-Erfolgs

Die Kooperation von ÖVP und FPÖ hat eine längere, wechselvolle Geschichte. Erst Sebastian Kurz transformierte die bürgerliche Klientelpartie ÖVP erfolgreich in eine rechtspopulistische »Bewegung«. Die tief in einer Parteikrise steckende Österreichische Volkspartei hatte im Mai 2017 die programmatischen und organisatorischen Forderungen des Jungpolitikers Sebastian Kurz geschluckt und ihn zum neuen Parteichef gewählt. Er formierte das System Kurz, eine Bewegung mit starken Anleihen aus dem rechtspopulistischen Lager, die völlig auf ihn zugeschnitten ist – genau das Gegenteil dessen, was die ÖVP früher ausmachte. Folgerichtig kandierte die Partei bei den Nationalratswahlen 2017 auch als »Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei (ÖVP)«.

Die ÖVP war bis dahin ein erstarrter, abgehobener politischer Überbau aus diversen Teilorganisationen, die im politischen Alltagsgeschäft immer weniger bewegte. Der Wirtschaftsbund, der Bauernbund, der Arbeitnehmerbund und der Seniorenbund galten als besonders einflussreich (siehe hierzu das Kapitel zu Österreich in dem Band Rechtspopulistische Zerstörung Europas?).

Der Erfolg der rechtskonservativen »Erneuerung« der ÖVP hing mit einer Neuausrichtung in der Migration zusammen. Kurz kritisierte die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die – so seine Einschätzung – zwar von vielen Staats- und Regierungschef sowie der EU-Kommission mitgetragen wurde und gut gemeint war, aber die Fluchtbewegung nicht zurückdrängen konnte. Der Richtungswechsel des damaligen Außenministers Kurz hatte drei Effekte:

  • die ÖVP machte mit ihrem rechtspopulistischen Agieren auch die rechtsradikale FPÖ stärker
  • nach den Wahlen von 2017 konnte eine türkis-blaue Koalition den rechtspopulistischen Kurs in Österreich und auch in der Europäischen Union verstärken
  • mit dem Bündnis von ÖVP und FPÖ sollte der von vielen beklagte »Reformstau« in der Republik beseitigt werden, was auf eine Deregulierung und Verschärfung der sozialen Unterschied hinausläuft.

Mehr als 20 Jahre wurde die Alpenrepublik durch eine Große Koalition von SPÖ und ÖPV regiert. Mit der in den 1980er Jahren einsetzende Privatisierung der verstaatlichen Industrie und des öffentlichen Sektors, dem Rückgang politischer Gestaltungsmacht und dem neoliberalen Umbau des sozial gebändigten Kapitalismus wurde immer deutlicher, dass sich das alte, elitengesteuerte Politikmuster überlebt hatte. Die traditionellen Eliten verloren an Politikfähigkeit – mit der Konsequenz, dass die Wählerbasis mehr und mehr erodierte.

Kurz profitierte vom Überdruss am »Reformstau« der rot-schwarzen Koalition, die die Grundfesten des »Systems Österreich« zum Einsturz brachte. In der »roten« Reichshälfte hatten ähnliche Strukturen geherrscht wie auf Seiten der ÖVP mit ihrer Ausrichtung auf die mittelständisch-bäuerliche Ökonomie: die SPÖ orientierte sich allein an der verstaatlichten Industrie, dem sozialpartnerschaftlichen Regime der Arbeiterkammer und den Machtressourcen der Gewerkschaften. Das Erneuerungsversprechen führte Kurz 2017 zum Wahlsieg.

Die »Reformen« waren auf die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ausgerichtet. Kurz sorgte dafür, dass die auf politische Aufwertung drängende »türkise« Bewegung behutsam auf die »schwarzen« Strukturen der ÖVP aufgesetzt wurde. So entledigte er sich auf der einen Seite der alten Führungsriege, arrangierte sich zugleich auf der anderen Seite aber auch mit innerparteilichen Machtzentren wie den Landeshauptleute.

Die türkis-blauen Koalitionsparteien notierten in ihrem Regierungsprogramm: »Auch wenn Österreich grundsätzlich gut dasteht, haben wir in manchen Bereichen den Anschluss an die Spitze in Europa verloren.« Zu den wichtigen Vorhaben der Rechtsregierung gehörten eine Föderalismusreform, eine Reform der Sozialpartnerschaft, die Verschlankung des Sozialstaates, Steuererleichterungen und eine Ausweitung der Familienförderung. Plakativster Punkt waren massive Einschränkungen bei der Asylpolitik: Neben restriktiveren Einwanderungsbedingungen sollten Geldleistungen für Asylberechtigte gekürzt und verstärkt auf Sachleistungen gesetzt werden.

Kanzler Kurz begründete damals in seiner Regierungserklärung, die Koalition verfolge das gemeinsame Ziel, Österreich wieder an die Spitze zu führen. Man wolle weiter vorn sein, wenn es um Fortschritt und Wettbewerbsfähigkeit gehe und näher dran, wenn es um Sicherheit und das Fortkommen des Einzelnen gehe. Gleichzeitig versprach der neue Kanzler: »Unseren Weg werden wir als Bundesregierung nicht beendet haben, bevor Österreich nicht noch besser dasteht, als es heute dasteht.« Zentrale Vorhaben seien daher die Senkung der Steuerquote Richtung 40%, mehr Treffsicherheit des Sozialsystems inklusive Mindestsicherungs-Reform, »mehr Ordnung und Sicherheit«, Kampf gegen illegale Migration oder Maßnahmen im Bildungsbereich.


Wie weiter?

Die Koalition von Kurz’ bürgerlicher ÖVP mit der rechtsnationalen FPÖ, angelegt auf zehn Jahre, hat nur anderthalb Jahre gehalten. Viel Energie war in die von Anfang an umstrittene Zusammenarbeit mit den Rechtspopulisten investiert worden. Die »ewige Große Koalition«, in der die ÖVP neben den Sozialdemokraten nur Juniorpartner war, hatte Kurz als größtes Hindernis auf dem Weg zur Erneuerung Österreichs kritisiert. Das türkis-blaue Projekt wiederum litt von Beginn an einer unzureichenden Grenzziehung gegenüber dem modernen Rechtradikalismus. Die »neue Volkspartei« ÖVP und ihr Chef machten erst nach dem Bekanntwerden der letzten Skandale eine klare Distanzierung vom rechten Rand zur Bedingung für eine Neuauflage der Koalition mit der FPÖ nach der Wahl 2019 und forderten ein Durchgreifen des neuen FPÖ-Vorsitzenden Norbert Hofer.

»Damit weitergeht, was gut begonnen hat« – mit diesem Slogan auf den Wahlplakaten haben Kurz und die ÖVP geworben. Denn die Ausgangslage ist eine andere als im Herbst 2017: Die Flüchtlingskrise ist nicht mehr das dominante Thema, der Klimaschutz hat ein stärkeres Gewicht gewonnen. Der Alt- und nun auch wieder neue Kanzler passt sich geschickt an und verspricht die Fortsetzung der großen Gesellschaftsreform.

Sebastian Kurz hat mit seiner »neue Volkspartei« die Wahl klar gewonnen und wird sich auf die Suche nach einem Koalitionspartner machen. Er hat sich bisher bedeckt gehalten, mit welchem Partner er regieren will. Beobachter rechnen mit zähen Verhandlungen und einer Regierungsbildung erst rund um den Jahreswechsel.

Die Grünen können sich grundsätzlich ein Mitregieren vorstellen, sie haben sich im Wahlkampf unter anderem für eine CO2-Steuer, günstige Tickets für den Nahverkehr und eine flächendeckende Lkw-Maut stark gemacht. Die FPÖ hat nach der Ibiza-Affäre, dem kriminellen Umgang mit Parteifinanzen und den Verstrickungen mit den rechtsextremen Sekten deutlich an Rückhalt verloren und vorerst erklärt, dass auch sie sich in der Opposition erneuern will. Ihr Generalsekretär Harald Vilimsky signalisierte, dass seine Partei nach ihrem Wahldebakel für Koalitionsgespräche nicht zur Verfügung stehe.

Die SPÖ steht wie viele andere Parteien der europäischen Sozialdemokratie vor der Herkulesaufgabe einer grundlegenden Neuerfindung, um nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden; insofern ist eine Rückkehr zur Politik der Großen Koalitionen unrealistisch.

Zurück