7. September 2022 Otto König/Richard Detje: Wahl in Brasilien – Demokratie statt Autokratie

Damit die Menschen wieder träumen können!

Für die Verteidigung der Demokratie und bessere Lebensbedingungen gingen in den letzten Wochen zehntausende Menschen in Brasilien auf die Straße. Die Verlesung eines »Briefs an die Brasilianerinnen und Brasilianer« an der juristischen Fakultät der Universität von São Paulo war einer der Höhepunkte der Aktionen.

In dem Manifest wird gefordert: Die Ergebnisse der im Oktober stattfindenden Wahlen müssten unbedingt akzeptiert werden. Der Brief lehnt sich an das gleichnamige Schriftstück von Goffredo da Silva Telles Jr. aus dem Jahr 1977 an, der die damalige Militärregierung (1964-1985) kritisierte und ein wichtiges Element im Kampf gegen die Diktatur wurde.

Auch wenn in dem Brief kein Namen genannt wird, ist klar, wem die Botschaft gilt: dem rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro. Der Ex-Militär verstärkt seit Anfang Mai die Angriffe gegen demokratische Institutionen, sät Zweifel am elektronischen Wahlverfahren,[1] beschwört das Gespenst von Wahlfälschungen und bereitet den Boden dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren. »Nur Gott« könne ihn aus seinem Amt entfernen, erklärte er mehrfach. Das alles erinnert an die Rhetorik von Donald Trump. Was dieser nach seiner Niederlage in den USA versuchte, könnte Bolsonaro in Brasilien noch steigern, wird befürchtet.

Das südamerikanische Land steht vor einer der wichtigsten Wahlen seiner bisherigen Geschichte. Es geht um die Zukunft der brasilianischen Demokratie. Am 2. Oktober wählen 156 Millionen Brasilianer*innen den Nationalkongress, die Gouverneure und Parlamente der Bundesstaaten und ihren neuen Staatspräsidenten. Derzeit zeichnet sich ein Duell zwischen dem amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro (67) und Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva (76) ab, alle anderen Kandidat*innen verharren im einstelligen Bereich. Mit den beiden Kontrahenten stehen sich zwei politische Projekte gegenüber, die über die Zukunft des Landes entscheiden werden: Autoritarismus oder Demokratie.

Der ehemalige Gewerkschaftsführer und frühere Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010), der von dem Wahlbündnis »Federação Brasil da Esperança« (Hoffnung Brasilien)[2] unterstützt wird, gilt als Favorit.[3] Lula weckt bei vielen Brasilianer*innen ein Gefühl von »saudade«, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten. Amtsinhaber Bolsonaro, der für die »Liberale Partei« (PL) ins Rennen um die Präsidentschaft zieht, hat nach den aktuellen Umfragen wenig Chancen auf einen Sieg. Nach den letzten drei Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Datafolha kann Lula mit 47% der Stimmen rechnen, Bolsonaro hingegen nur mit 32%. Insbesondere viele junge Wähler*innen bevorzugen den linken Lula da Silva. Laut einer Umfrage von »PoderData« gaben 51% der jungen Wähler*innen zwischen 16 und 24 Jahren dem PT-Kandidaten den Vorzug. Nur 29% wollen demnach für den derzeitigen Präsidenten Bolsonaro stimmen. Erringt keiner von beiden im ersten Wahlgang mehr als 50% der Stimmen, findet am 30. Oktober eine Stichwahl statt.

Die Wahl Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten im Jahr 2018 war ein Triumph für die rechten Kräfte. Er wurde mit Unterstützung der Eliten des Landes, den Gruppen »Beef, bible, and bullet«, – der agroindustriellen Fleischwirtschaft, den evangelikalen Kirchen und Befürwortern der Militärdiktatur (1964-1975) – und von all denjenigen, die sich durch Genderideologie, Feminismus, Menschenrechte und Kommunismus bedroht fühlen, ins Amt getragen. »Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, und Gott steht über allen«, spricht ihnen Bolsonaro aus dem Herzen.

Als Dank lieferte die Regierung für die ultrakonservativen Kirchen[4] auf ganzer Linie: Der Ex-Fallschirmspringer-Hauptmann machte die Pastorin Damares Alves zur Familienministerin, setzte einen milliardenschweren Schuldenerlass um und kämpfte während der Hochphase der Pandemie gegen Kirchenschließungen. Als Gegenleistung für die Unterstützung des Agrobusiness hebelte Bolsonaro den Verfassungsapparat des brasilianischen Staates aus, der die ungezügelte Expansion der Monokulturen bremsen sollte. Die Abholzung des Regenwaldes erreichte danach Rekordwerte. Die Agrarreform und die Ausweisung indigener Gebiete wurden ausgesetzt und die systematische Verletzung von Arbeitnehmerrechten ignoriert.

Der Ultrarechte führte das Land an den Rand des Kollapses: Die Wirtschaftskrise hält an, die Inflation steigt unaufhörlich. Als Ergebnis der Streichung zahlreicher Sozialprogramme ist der Hunger wieder zurückgekehrt: So geht eine neue Studie davon aus, »dass im Jahr 2020 rund 55% der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt 116,7 Millionen Menschen. Von diesen 116,7 Millionen sind 19 Millionen, also 9% der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen und weitere 11,5 Millionen Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung.«[5]

Viele Bolsonaristas haben sich mittlerweile von Bolsonaro abgewendet. Sein Umgang mit der Corona-Pandemie war auch für sie katastrophal., Anfangs gab es keine Impfstoffe, das Problem wurde geleugnet, und öffentliche Dienstleistungen wurden auf verheerende Art und Weise vernachlässigt. In der Folge starben 700.000 Menschen. Ein herber Schlag für Bolsonaro dürfte die Unterschrift des Präsidenten des rechten Industrieverbandes von São Paulo sowie einiger bekannter Unternehmervertreter*innen unter den eingangs erwähnten Brief sein. Dass sie zur Verteidigung der Demokratie aufrufen und ihr Vertrauen in den Wahlprozess ausdrücken, ist eine klare Absage an Bolsonaro. Dass sich Teile der Elite abwenden ist allerdings kein genereller Richtungswechsel, denn nicht seine menschenverachtende Politik ist zum Problem geworden, sondern die wirtschaftliche Instabilität, die auch sie bedroht.

Dennoch: Die Tatsache, dass Bolsonaro trotz der verheerenden Bilanz seiner Regierung nach wie vor über ein stabiles Fundament von rund 30% der Wähler*innen verfügt, belegt, dass der Bolsonarismus fest in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt ist und auch bei einer Niederlage die kommenden Wahlen überleben würde. Inzwischen verdichten sich Anzeichen einer radikalen Reaktion von rechts. Alexandre de Moraes, Richter des Obersten Bundesgerichtes Brasiliens, ordnete am 23. August Hausdurchsuchungen bei acht brasilianischen Multimillionären wegen des Verdachts auf Putschvorbereitungen an. Der Vorwurf: Sie hätten in einer WhatsApp-Gruppe Pläne für einen Staatsstreich diskutiert, den sie im Falle eines Wahlsiegs Lulas in Gang setzen wollten.

Nach vier Jahren Bolsonaro versteht Lula da Silva seine mögliche künftige Regierung als eine Regierung des Wiederaufbaus des Landes. Im links-progressiven Wahlprogramm «Junt@s pelo Brasil« (Gemeinsam für Brasilien) sind als wichtigste Maßnahmen formuliert: Wiederaufnahme der Sozialprogramme, Erholung der Wirtschaft sowie Kampf gegen soziale Ungleichheit und Hunger im Land. Die reaktionäre Arbeitsrechtsreform des rechten Präsidenten Michel Temer (2016 bis 2019) soll zurückgenommen, Umweltschutz, Gesundheit und Bildung priorisiert werden. Investitionen der öffentlichen Hand in Baumaßnahmen sollen die Wirtschaft wieder ankurbeln. Die Privatisierung von Staatsbetrieben (Petrobras, Eletrobrás und die brasilianische Post) soll verhindert bzw. rückgängig gemacht werden.

Das ihn unterstützende Parteienbündnis »Hoffnung Brasilien« will die seit Jahrzehnten von Tausenden landlosen Bauern geforderte Agrarreform nun endlich durchsetzen. Das Thema gehört zu den großen historischen Konflikten nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika. Gerade in Brasilien kämpft die »Bewegung der Landlosen« schon seit Jahrzehnten mit Besetzungen ungenutzter Ländereien um eigenes Ackerland.

Die in Lulas erster Amtszeit (2003-2006) gestarteten großen Sozialprogramme »Bolsa Família« (Familienbeihilfeprogramm) und »Fome Zero« (Null Hunger) sollen nach einem Wahlsieg reformiert und ausgeweitet werden. Mit beiden Programmen konnte die Armut von Millionen Brasilianer*innen reduziert werden. Lula verspricht den Brasilianer*innen die Verteidigung der Demokratie, soziale Entwicklung und die Garantie von Bürgerrechten. »Die Demokratie zu verteidigen bedeutet, das Recht auf hochwertige Lebensmittel, auf einen guten Arbeitsplatz, ein faires Gehalt, Zugang zu Gesundheit und Bildung zu verteidigen. Das sind die Dinge, die das brasilianische Volk haben sollte«, sagte Lula da Silva.

In der Außenpolitik vertritt Lulas Parteienkoalition die internationale Süd-Süd-Kooperation und engagiert sich für die regionale Integration. »Die Verteidigung unserer Souveränität ist die Verteidigung der Integration von Südamerika, Lateinamerika und der Karibik«, betont der linke Präsidentschaftskandidat. Gleichzeitig will er die Zusammenarbeit Brasiliens in der internationalen Wirtschaftsunion der BRICS-Staaten vertiefen (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika).

Die politischen, wissenschaftlichen, geschäftlichen und sogar militärischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sollen erneuert werden, doch so Lula da Silva: Sie müssen »uns respektieren: Brasilien ist keine Kolonie, es ist ein großes Land, das die anderen mit Respekt behandeln müssen«. Im Zuge der künftigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Europa soll vor allem das Abkommens zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union neu verhandelt werden. Das Ziel sei, den Erhalt der brasilianischen Industrie und ihre Entwicklung zu gewährleisten, was der Vertrag, so wie er entworfen ist, nicht garantieren würde.

Lula da Silvas Wahlsieg hängt davon ab, ob es ihm gelingt, das linke Lager am Wahltag geschlossen hinter sich zu versammeln, das konservative Lager zu spalten und einen Teil für sich zu gewinnen. Sein Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, Geraldo Alckmin (PSB), früherer Bürgermeister der Millionenstadt São Paulo, der dem Zentrum zugerechnet wird, soll dazu den Dialog ermöglichen. Vielen Linken stößt die Personalie zwar bitter auf, doch um zu vermeiden, dass eine künftige Regierung von ihm durch ein Amtsenthebungsverfahren wie die von Dilma Rousseff in 2017 gestürzt werden kann,[6] benötigt er eine breite parlamentarische Unterstützung.

Deshalb wurden untypische Bündnisse geschmiedet, die es ihm erlauben, einen Dialog mit dem politischen Zentrum zu führen. In diesem Sinne ist Alckmins Kandidatur eine Botschaft an das bürgerliche Lager. Da Lula da Silva im Fall eines Wahlsiegs nicht dort anknüpfen kann, wo er bei seinem Amtsende 2011 aufhörte, ist es darüber hinaus notwendig, die Mobilisierung der Bevölkerung wieder zur obersten Priorität zu erheben. Auch um sein Vorhaben zu verwirklichen, dass »die Menschen wieder träumen können«.

Anmerkungen

[1] Die Wahlbehörde TSE in Brasilien wies die Vorwürfe zurück. Seit den 1990er Jahren wendet sie das System elektronischer Urnen an, um Stimmenkauf vorzubeugen. Vor jeder Wahl lässt sie es gemeinsam mit der Bundespolizei öffentlich testen.
[2] Da Silva wird von einer breiten Mitte-links-Koalition aus sieben Parteien unterstützt: der Arbeiterpartei (PT), der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB), die Kommunistischen Partei Brasiliens (PCB), der Partei »Sozialismus und Freiheit« (PSOL), der Grünen Partei (PV) sowie den Parteien »Das Netzwerk« und »Solidarität, Fortschritt, Handeln«.
[3] Lula da Silva war zwischen 2003 und 2011 Präsident Brasiliens. Als er aus dem Amt schied, weil die Verfassung keine dritte Amtszeit zulässt, hatte er eine Zustimmungsrate von 83%. Seine Kandidatur 2018 wurde durch ein politisch motiviertes Manöver von der Antikorruptions-Task-Force »Lava Jato« (Waschsalon) durchkreuzt. Lula wurde wegen Korruption und Geldwäsche zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt. Damit räumte der Richter und spätere Innenminister Moro den Weg für den Kandidaten Jair Bolsonaro frei. Am 8. März 2021 hob Luiz Edson Fachin, Richter am Obersten Gerichtshof von Brasilien, alle Urteilssprüche gegen Lula da Silva auf. Lula erhielt seine politischen Rechte zurück und ging wieder in die Politik. Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Brasilien – Hexenjagd auf Ex-Präsidenten »Causa Lula kann die Linke vereinen«, Sozialismus aktuell 28.8.2018.
[4] Immer mehr Brasilianer*innen wenden sich den ultrakonservativen Pfingstkirchen zu. Während sich im Jahr 1990 noch mehr als 80% der Bevölkerung als katholisch bezeichneten, waren es im Jahr 2020 nur noch rund 50%. 32% der Bevölkerung versteht sich mittlerweile als evangelikal – Tendenz steigend. Laut Berechnungen dürften die Evangelikalen schon in zehn Jahren die Mehrheit der Bevölkerung stellen (IPG, 29.8.2022).
[5] Thomas Fatheuer: Brasilien: Lula for President?, Lateinamerika Nachrichten 576.
[6] Siehe Otto König/Richard Detje: Klassenkampf von oben in Brasilien »Goldgräberstimmung der Rechten«, Sozialismus Aktuell 23.7.2017.

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