22. Mai 2019 Otto König/Richard Detje: EuGH-Urteil verpflichtet Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung

Das Gespenst Stechuhr

In ihrem »Heißhunger nach Mehrarbeit« (Marx) laufen die Wirtschaftsverbände Sturm gegen die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit. Bei ihrem erneuten Angriff auf den Acht-Stunden-Tag und das Arbeitszeitgesetz (ArbZG)[1] haben sie Gegenwind von den Richtern des Europäischen Gerichtshofs bekommen.[2]

Der EuGH verpflichtete die Arbeitgeber in den EU-Mitgliedstaaten, in Zukunft die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten minutiös zu erfassen. Nur so lasse sich überprüfen, ob Arbeitszeitregelungen verletzt werden.

Im Grunde handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit, wenn die Richter des EuGH die Bedeutung des Grundrechts auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten unterstrichen. Damit haben sie der EU-Arbeitszeitrichtlinie und der EU-Richtlinie über die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer*innen endlich zu praktischer Wirksamkeit verholfen.[3] Ohne ein System, mit dem »die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann«, könne weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden, sodass es für die Arbeitnehmer*innen »äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich ist, ihre Rechte durchzusetzen.« Die EU-Staaten müssen dafür sorgen, dass die Arbeitgeber ein entsprechendes System einrichten.

Seit dem 14. Mai, dem Tag des Urteilsspruchs, werden in den Presseabteilungen der Arbeitgeberverbände Überstunden zuhauf gefahren. Der Tenor: Das Urteil sei »aus der Zeit gefallen«, im 21. Jahrhundert könne man auf die Anforderungen einer »Arbeitswelt 4.0« nicht mit einer »Arbeitszeiterfassung 1.0« reagieren, auf die Betriebe rolle ein »Bürokratie-Tsunami« zu. Kurzum: Es drohe die »Wiedereinführung der Stechuhr«, Flexibilität, die Arbeitnehmer*innen selbst einfordern würden, gerate unter die Räder blinder Regulierungswut. Was für eine Heuchelei!

Erhebungen der Bundesvereinigung für Arbeitsschutz zufolge ändert sich für 47% der Beschäftigten im Grunde nichts – für sie gilt am Arbeitsplatz die jeweilige betriebliche Zeiterfassung –, auch nicht für jene 32% der Beschäftigten, die ihre Arbeitszeiten selbst aufschreiben. Das Bürokratie-Monster, vor dem sich die Arbeitgeberverbände fürchten wie der Teufel das Weihwasser, lugt um eine andere Ecke. »Flatrate«-Arbeit nennt DGB-Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach jene 21% der Beschäftigungsverhältnisse, für die es keinerlei Zeiterfassung gibt. In Betrieben, in denen Arbeitgeber eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung nicht für notwendig halten oder kein Betriebsrat existiert, der sie einfordert, im Außendienst oder im Home-Office.

Es stellt eine dreifache Beleidigung der Beschäftigten, des betrieblichen Innovationsgeschehens wie der interessierten Öffentlichkeit dar, wenn der Eindruck erweckt wird, moderne Arbeitszeiten ließen sich nicht erfassen. An technischen Lösungen mangelt es nicht, die Digitalisierung hat in der Arbeitswelt auch in diesem Bereich für weitreichende Änderungen gesorgt. Heimarbeitszeiten können, sofern nicht selbst dokumentiert, über den ins Firmennetzwerk eingeloggten PC erfasst, Mails über den Firmen-Router, Fahrtzeiten und Transporte über entsprechende Ortungssysteme wahrgenommen werden. Für das geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG Metall, Hans-Jürgen Urban, sind »Arbeitszeiterfassung und moderne Arbeitszeiten keine Gegensätze, sondern bedingen einander«. Was die Arbeitgeber umtreibt, ist nicht ihre eigene mangelnde technische Intelligenz – das ist nur vorgetäuscht. Sie fürchten Widerstand gegen dokumentierte ausufernde Arbeitszeiten, schrankenlose Flexibilität und Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit der Arbeitnehmer.

Tatsächlich haben Burn-out, Stress, Leistungsdruck und Arbeitsverdichtung in den letzten Jahren in vielen Berufen massiv zugenommen. Gerade deshalb ist das EuGH-Urteil zur Zeiterfassung ein richtiger Schritt, um die Begrenzung der Arbeitszeit gewährleisten zu können.

Heuchlerisch ist die Propaganda der Arbeitgeberverbände aus einem weiteren Grund. Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg weist zurecht darauf hin, dass der zwingende Nachweis von Überstunden die Erfassung der regulären Arbeitszeiten sachlogisch voraussetzt. Auch hier gibt es kein technisches Problem, sondern dominant ist das Verwertungsinteresse. Die Bundesregierung gibt die Zahl der Überstunden für das Jahr 2018 mit rund 2,15 Millionen an – seit Jahren liegt es auf diesem hohen Niveau. Der Clou: Die Hälfte der geleisteten Überstunden sind unbezahlt – ihr Anteil steigt in Zeiten ungünstiger Arbeitsmarktentwicklung, wie es zwischen 2005 und 2011 der Fall war, während der Anteil bezahlter Überstunden zunimmt, sobald die Nachfrage nach Arbeitskraft ansteigt. Es gibt in diesem Jahrhundert jedoch kaum ein Jahr, in dem die Zahl der bezahlten Überstunden die der nicht bezahlten deutlich übersteigt. Laut Buntenbach stecken die Arbeitgeber mit diesem »Lohn- und Zeitdiebstahl« jährlich »rund 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche«. Ein Schelm, der hinter der EuGH-Kritik in Sachen Arbeitszeit nacktes Profitinteresse ausmacht?

Wie kam es zu dem Urteil? Die spanische Gewerkschaft »Federación de Servicios a la Ciudadanía de CCOO« (FSC-CCOO) hatte vor dem Nationalen Gerichtshof in Madrid gegen die Deutsche Bank SAE geklagt. Die FSC-CCOO wollte das Bankinstitut verpflichten, die täglich geleistete Arbeitszeit ihrer Beschäftigten vollständig aufzuzeichnen, um die Einhaltung der Arbeitszeitregelungen zu prüfen. Nach spanischem Recht ist nur die Aufzeichnung der Überstunden vorgeschrieben. Doch ohne auch die reguläre Arbeitszeit zu messen, könnten geleistete Überstunden nicht ohne Weiteres bestimmt werden, machte die Gewerkschaft geltend. Nach Erkenntnis des mit dem Fall befassten Obersten Gerichtshofs werden in Spanien 53,7% der geleisteten Überstunden nicht erfasst. Der Gerichtshof hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der spanischen Rechtsvorschriften mit der EU-Richtlinie und wendete sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH in Luxemburg.

Das EuGH-Urteil schließt auch in Deutschland eine wichtige Schutzlücke. Nach § 16 Abs. 2 des ArbZG ist der Arbeitgeber nur verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1, also acht Stunden, hinausgehende Arbeitszeit der Beschäftigten aufzuzeichnen und dafür zu sorgen, dass danach elf Stunden Ruhezeit eingehalten werden. In der Praxis kommt es immer wieder zu Verstößen gegen diese gesetzliche Vorschrift, ohne dass dies exakt nachvollzogen werden kann. Diese Regelung ist schwerlich mit der nunmehr ergangenen Entscheidung in Einklang zu bringen.

Wie bei den Geringverdiener*innen nach dem Mindestlohngesetz und für die im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Branchen, wie die Bauwirtschaft, das Gebäudereinigerhandwerk und das Hotel- und Gaststättengewerbe, in der eine Aufzeichnungs- und Dokumentationspflicht für die gesamte Arbeitszeit besteht, ist nunmehr eine Aufzeichnung der Arbeitszeit aller Beschäftigten notwendig. Es geht um Einkommen und Zeitsouveränität: Alle Überstunden müssen ausgezahlt oder in Form von Zeitausgleich abgegolten werden.

Das von den Arbeitgebern verbreitete Schreckgespenst der Wiedereinführung der Stechuhr und damit des Rückfalls in die Methoden der Fabrikarbeit des 19. Jahrhunderts ist blühender Unsinn. Und wenn der Präsident des IT-Verbandes Bitkom, Achim Berg, verkündet, »Arbeitnehmer kennen das heute glücklicherweise meist nur aus dem Geschichtsbuch« (WirtschaftsWoche, 17.5.2019), dann zeugt das von wenig Kenntnissen der betrieblichen Wirklichkeit. In großen Unternehmen ist die Erfassung schon jetzt weit verbreitet. Auch für kleinere Betriebe gibt es praktikable Lösungen, wirbt beispielsweise die Münchner Softwarefirma Crewmeister, mit dem Hinweis, moderne Zeiterfassungen seien nicht mehr kompliziert, »Lösungen sind in wenigen Minuten startklar, funktionieren direkt übers Smartphone des Beschäftigten und geben diesem von überall aus einen Einblick auf sein Arbeitszeit- oder Urlaubskonto«.

Wie die Zeit erfasst wird, stellt der europäische Gerichtshof den Mitgliedstaaten frei. Es bleibt jedoch die Frage, ob die Arbeitszeiterfassung mit Datenschutzrichtlinien vereinbar ist. Der Datenschutz habe für das »übergeordnete Recht auf Begrenzung der Arbeitszeit zurückzustehen«, erklären die EuGH-Richter. Doch für die Auswertung von persönlichen Daten, die sich aus den Arbeitsabläufen ergeben, muss es auch künftig Grenzen geben. Deshalb müssen sich der Gesetzgeber und die Betriebsräte diesem Thema annehmen.

Auch die formelhafte Beschwörung, die »systematische Erfassung der Arbeitszeit ist ein Angriff auf die Vertrauensarbeit«, so das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft, geht an der betrieblichen Realität vorbei. Laut einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) werden in knapp einem Drittel der Betriebe in Deutschland ein nicht bezifferbarer Teil von Arbeitnehmer*innen auf Basis sogenannter Vertrauensarbeitszeiten beschäftigt. Also ohne laufende Arbeitszeitdokumentation, nach dem Prinzip: Die Erfüllung der Zielvorgaben steht im Mittelpunkt, nicht die zeitliche Präsenz. Es ist jedoch ein weitverbreiteter Irrtum, dass diese Arbeitszeit in den Betrieben nicht erfasst wird.

Die Arbeitgeber bewerben die Vertrauensarbeitszeit unermüdlich mit den Argumenten einer »selbständigen Arbeitsweise« und der daraus »erwachsenden Kreativität« der Beschäftigten, dabei sind sie es, die in erster Linie davon profitieren, wenn Beschäftigte nicht einfach um 17 Uhr den Computer ausschalten bzw. in vorauseilendem Gehorsam unbezahlte Leistungen erbringen. Deshalb bedarf es auch gerade bei der Vertrauensarbeitszeit eines Systems, damit Betriebsräte die Arbeitszeiten mit dem Ziel nachprüfen können, die Arbeitnehmer*innen vor Überforderung und vor Selbstausbeutung zu schützen. Und wie die Personalbesetzung von Teams und Abteilungen zu bemessen ist, um gute Arbeit leisten zu können. Die Erfassung der Arbeitszeit schützt die Arbeitnehmer und ist kein »Bürokratiemonster«, wie Gesamtmetall interessengeleitet polemisiert.

Alle EU-Länder sind nun gefordert, das Urteil zu analysieren und zu prüfen, wie die nationalen Arbeitszeitgesetze anzupassen sind. Fest steht: Für Deutschland wird dies der Fall sein müssen. Deshalb fordern die DGB-Gewerkschaften vom Gesetzgeber, dass er »die Arbeitszeiterfassung jetzt auch wirklich zur Pflicht für die Arbeitgeber macht«, so Annelie Buntenbach. Gleichzeitig warnen die Gewerkschafter Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vor einem »Kuhhandel« nach dem Motto, als Gegenleistung für strengere Aufzeichnungspflichten werden die tägliche Höchstarbeitszeit und die Ruhezeiten gelockert. Es sei Zeit, die antiquierten Gesetze zu modernisieren und in das digitale Zeitalter zu überführen, tönen die Arbeitgeber landauf und landab. Falsch! Das Arbeitszeitgesetz war nicht nur gut für den Rheinischen Kapitalismus, sondern ist es erst recht für das Zeitalter der Arbeit 4.0. Schließlich hat sich das Hauptziel des Gesetzes, die Sicherheit und Gesundheit der abhängig Beschäftigten zu gewährleisten, nicht geändert. Im Gegenteil, aufgrund der fortschreitenden »Entgrenzung der Arbeitszeit« ist dieser Schutz notwendiger denn je.


[1] Otto König/Richard Detje: 100 Jahre »Acht-Stunden-Tag«. Der lange Kampf. Sozialismus Aktuell, 22.1.2019.
[2] Urteil des EuGH vom 14.5.2019; Aktenzeichen: C-55/18.
[3] Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9); Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1).

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