12. Juni 2017 Bernhard Sander: Parlamentswahlen in Frankreich, Teil 1

Das nationale Kräfteverhältnis wird abermals vermessen

Die Parlamentswahlen in Frankreich sollten Aufschluss bringen, ob sich der neue Präsident Emmanuel Macron auf eine eigene Mehrheit stützen kann oder zu einer Koalition mit Sozialdemokraten oder Republikanern gezwungen sein wird. Nach der ersten Runde sieht es danach aus, dass seine zur Partei umfirmierte Bewegung LREM (»La Republique En Marche«) nicht auf die Unterstützung der Konservativen von »Les Republicains« angewiesen sein wird.

In 55 der 577 Wahlkreise verzichtete Macrons Formation darauf, eigene Kandidaten aufzustellen, um erwünschten PS-Politikern ein Mandat zu sichern. Ansonsten ist seine Liste bunt gemischt: 52% der aufgestellten Personen entstammen der Zivilgesellschaft und nur 5% saßen im bisherigen Parlament (18 PS- und 4 Grüne-Deputierte). Mitglieder der »sichtbaren Minderheiten« sind – außer einem Stubenkameraden Macrons von der ENA –nicht vertreten.

Bei einer Rekord-Wahlenthaltung von 51,3% erzielte Marcons LREM etwa 32,3% der abgegebenen Stimmen. Offenbar haben viele Wähler bei den Präsidentschaftswahlen zwar signalisieren wollen, dass man die Nase von den Figuren des politischen Establishments voll hat, aber eine mehr als personelle Erneuerung ist bisher nicht zustande gekommen. Bei einem Verhältniswahlrecht hätte LREM nur 86 der 577 Mandate errungen.

Dass jeder zweite in Frankreich nicht zur Wahl ging, zeigt die fortdauernde Hegemoniekrise an, die auch Macron offenbar nicht überwunden hat. Selbst wenn es ihm und dem LREM gelingen sollte, die mögliche Drei-Viertel-Mehrheit im Parlament zu erringen, bliebe er in einer gefährlichen Lage mit wenig Bodenhaftung.

Wirkliche Spuren konnte Macron natürlich noch nicht zeigen. Von der wirtschaftlichen Entwicklung werden so schnell keine Impulse ausgehen. Ein Hauch wirtschaftlicher Belebung in Europa streift nun auch Frankreich, wo die Arbeitslosigkeit unter 10% sinkt und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wenigstens um Zehntelprozente wächst. Doch die binnenwirtschaftlichen Strukturprobleme bleiben.

Die Regierungsmannschaft des neuen Präsidenten der Republik mit Edouard Philippe als Premier und Bruno Le Maire als Wirtschafts- und Finanzminister ist stark von liberalen Kräften aus den Reihen der Oppositionspartei LR geprägt, womit Macron versuchte, die Anhängerschaft der Republikaner zu spalten. Zudem ist diese Kabinettsstruktur als Versicherung an die europäische Hegemonialmacht zu verstehen. Le Maire fiel allerdings in der jetzt ablaufenden Oppositionszeit als Sprecher des rechten Flügels der Republikaner mit besonders rassistischen Phrasen auf.

Darüber hinaus war Macron von Beginn des Wahlkampfes an damit konfrontiert, dass man auch der Spitze seines Teams von Saubermännern und -frauen Korruptionsvorwürfe ans Zeug flicken konnte. Und der Gesetzentwurf gegen den Terror wird große Teile des bisherigen Ausnahmezustands in andauernd geltende Normalität verwandeln.

Die Aussichten für die Parlamentswahlen waren deshalb trübe. Während das mit einer Rekordstimmenzahl von 10,6 Millionen gestärkte rechtspopulistische Lager eher zerstritten in den Wahlkampf ziehen musste, war zu befürchten, dass sich Teile der Unterstützer des Staatspräsidenten wieder in ihre alten, abgewirtschafteten Parteistrukturen zurückziehen: rechtsbürgerliche Republikaner, Sozialdemokraten, Liberale der UDI. Nur 34% der Befragten wünschten überhaupt eine Mehrheit für den Präsidenten in der Nationalversammlung.

Eine Umfrage bestätigte vor dem ersten Urnengang die Tendenz der Stimmzerstreuung und projezierte für PS, FN und Mélanchons »La France Insoumise« jeweils Fraktionsstärke. Ob es dazu kommt, ist nach dem ersten Wahlgang allerdings fraglich.

Für die zweite Runde zeichnet sich ab, das der Staatspräsident sich auf eine eigene absolute Mehrheit stützen könnte und nicht auf »die Republikaner« im Parlament angewiesen sein wird, die im Europa-Parlament zur EVP-Fraktion und damit zum Lager hinter Merkel zu zählen ist. Der Einfluss der deutschen Bundesregierung, die dem Staatspräsidenten schon in der Woche nach seiner Wahl signalisierte, was alles nicht gehe, ist damit eingeschränkt.

Die Republikaner bauten ihren Stimmanteil von ca. 21,5% geringfügig aus, haben in der Stichwahl damit ein größeres Gewicht. Projektionen gehen von bis zu 125 Abgeordneten aus, während sie in der scheidenden Nationalversammlung 199 (und der Listenpartner UDI 27) Abgeordnete stellte. Der neue LR-Vorsitzende Francois Baroin warb für die zweite Runde offen um die Stimmen des Front National.

Die Sozialdemokraten des PS und seiner Verbündeten bleiben auf eine Randexistenz von 9,6% begrenzt. Mit 20 bis 30 Sitzen gegenüber bisherigen 300 ist dies eine historische Niederlage, die des PS auf das Niveau der 1960ger Jahre zurückwirft. Der gescheiterte Präsidentschaftskandidat Hamon und der Parteivorsitzende Cambadélis schieden bereits in der ersten Runde aus. Damit fehlt eine Stimme für Reformen im System, auf die im Konfliktfall aufgeklärtere Geister hören könnten – allerdings hat diese Stimme kaum noch etwas anzusagen. Die Grünen konnten sich bei diesen eher basisbezogenen Wahlen wieder auf 4% erholen, doch wird dies voraussichtlich keine parlamentarische Repräsentanz mehr ermöglichen.

Das »widerspenstige Frankreich« (La France Insoumise), bei dem sich die linke Unzufriedenheit sammelt, kam auf 11,0%, ist also stärker als der PS, muss aber gegenüber der Präsidentschaftswahl deutliche Verluste hinnehmen. Und auch die Bewegung Mélenchons ist keinesfalls geschlossen: Die Kommunisten hatten bereits vor der Präsidentschaftswahl begonnen, eigene Kandidaturen für die 577 Wahlkreise aufzustellen und kamen im ersten Wahlgang auf die 2,7%, die schon immer in Treue fest zur Partei standen.

Zusammen zählt man etwa 3,1 Millionen Stimmen. In Mélenchons Führungszirkel wurde klar abgelehnt, »die Linke zu einen«. Bei seiner Kandidatur im Marseiller Hafenviertel hatte dieser angekündigt, den PS »zu ersetzen«. Dieser traditionsreiche Wahlkreis ist massiv von Gentrifizierung betroffen, der PS dieser Stadt wird seit Jahrzehnten mit der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht. Er wird sich mit 34% im zweiten Wahlgang den Konkurrenten von LREM 22% stellen müssen, alle anderen (FN, PS, LR) liegen um 10%. Vor fünf Jahren trat er im selben Wahlkreis wie Marine Le Pen an und kam noch nicht einmal in die zweite Runde.

Das Mehrheitswahlrecht sieht vor, dass in die zweite Runde alle einziehen, die mehr als 12,5% der Wahlberechtigten erreicht haben. Das führt dazu, dass es in vielen Wahlkreisen zu Dreiecks- oder gar Vierecks-Konstellationen kommt. Wenn sich dann die jeweils zwei oder drei Konkurrenten nicht auf Absprachen einigen können, kann es durchaus sein, dass man mit den 27% in einem Wahlkreis, die der Front National beispielsweise bei den Regionalwahlen 2015 landesweit erreichte, gewählt wird.

In vielen Wahlkreisen wird es nach dem ersten Wahlgang zu Konstellationen kommen, die nur in lokalen Ausnahmefällen zu linken Bündnissen oder zu republikanischen Bündnissen zur Verhinderung des FN bereit sein werden. Da viele Macron nur gewählt haben, um den Durchbruch des Rechtspopulismus zu verhindern, droht angesichts solcher Perspektiven ein weiterer Rückzug in die Wahlenthaltung.

Das Votum aus Nützlichkeitserwägungen wird den zweiten Wahlgang prägen. Dieses negative Momentum hatte sich im Präsidentschaftswahlkampf von der Linken der Linken auf die Anhängerschaft der Sozialdemokratie verlagert. Nach dem zweiten Wahlgang am 18. Juni kann das Bündnis Macrons mit Francois Bayrou diesen Berechnungen zufolge mit einer satten absoluten Mehrheit rechnen. Diese liegt bei 289 Abgeordneten. Wahlforscher sagen Macrons Bündnis mehr als 400 Mandate voraus.

Innerhalb des Front National tobt derweil ein Richtungsstreit, der durch das Ergebnis neue Nahrung erhält. 2,99 Millionen Stimmen, ein Anteil von 13,2% und damit weniger als Republikaner und Linke sind enttäuschend, auch wenn man in 122 Wahlreisen in die zweite Runde einziehen konnte (vor fünf Jahren waren es nur 61). Die Stimmen für die Kandidatin Le Pen waren ein Misstrauensvotum gegen die herrschenden Politiker, aber nur begrenzt für den Rechtspopulismus. Das Wahlsystem hält den Marine-Schlick mal wieder weitgehend vor der Tür der zentralen Institutionen.

Die Clan-Nichte Marion Maréchal Le Pen hatte sich unverhohlen dafür ausgesprochen, im rechtskatholischen Milieu des gescheiterten  Republikaner-Kandidaten Francois Fillon zu fischen und dafür den sozialen Einschlag des FN aufzugeben. »Zombi-Katholiken« (Emmanuell Todd) sind in viel höherem Maße bereit, soziale Ungleichheit als quasi gottgegeben zu akzeptieren. Die zweite Forderung, den Euro-Ausstieg aufzugeben, der vor allem die Sparer schon während des Präsidentschaftswahlkampfes verunsichert hatte, zielt ebenfalls auf die Wählerschaft Fillons. Das Wahlprogramm der Kandidatin Le Pen sah dazu lediglich eine Volksabstimmung vor.

Die Besitzer von Sparbüchern, Lebensversicherungen, Bausparverträgen und Aktiensparverträgen waren schon während des Präsidentschaftswahlkampfes besorgt. Drei Viertel aller Franzosen haben einen Notgroschen auf dem Sparbuch, 49% eine Lebensversicherung, 39% einen Bausparvertrag und 19% einen Aktiensparplan.

Kandidat Macron kam in diesen Kreisen noch am besten weg, da seine Wahl nur für 30% negative Folgen für ihre Erträge haben könnte. Am beunruhigendsten war für diesen bessergestellten und deshalb sparenden Teil der Wählerschaft die Kandidatin Marine Le Pen, deren Wahl für 55% negative Konsequenzen haben könnte. Die beiden Kandidaten der Linken lagen dazwischen mit rd. 40%. Mehr als jeder Zweite fürchtete negative Konsequenzen für die eigene Rente, für die Ersparnis der Franzosen und für die Zinssätze in Frankreich, wenn Madame Le Pen die Wahlen gewinnen sollte. Daher erklärt sich vermutlich, dass ihre Stimmanteile seit einiger Zeit stagnierten, denn noch nicht einmal in der eigenen Anhängerschaft knüpfen sich positive Erwartungen an einen Euro-Ausstieg. Drei Viertel denken, dass der Euro-Ausstieg und die Rückkehr zum Franc (sehr) negative Folgen für das eigene Ersparte hätten.

Die Unklarheit, die eine nervöse Marine Le Pen während der entscheidenden Fernseh-Debatte mit Macron über das Dossier »Ersatz des Euro durch einen neue Gemeinschaftswährung, sofortige oder gestaffelte vollständige Wiedereinführung des Franc Francais« aufkommen ließ, nährt sich vermutlich aus der Unsicherheit in der Einschätzung dieser Bedenken der Sparer. Sie wird von vielen Frontisten als Ursache der Niederlage im zweiten Wahlgang betrachtet.

Auch der nicht angenommene Rücktritt des rechtskatholischen Prof. Bruno Gollnisch vom Posten des General-Bevollmächtigten und der Rückzug der Nichte aus der Politik, die Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik immer als zweitrangig behandelt hat, brachten keine Ruhe. Erst die unverhohlene Drohung des anderen Stellvertreters und rechte Hand der Chefin, Florian Phillipot, mit seinem Rücktritt brachte vorübergehend Ordnung in die Reihen. Philippot propagiert den sofortigen Austritt aus dem Euro. Doch der General-Sekretär Nicolas Bay und Europa-Abgeordnete widersprachen umgehend. Sowohl Bay als auch Philippot stehen in der zweiten Runde, so dass daraus wenig Rückschlüsse über den Ausgang dieses Streits gezogen werden können. Im Herbst soll ein Parteikongress Klarheit in der Sache bringen.

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