28. November 2019 Hinrich Kuhls: Die Labour Party im Wahlkampf

Das Regierungsprogramm für die 2020er Jahre

Der Wahlkampf im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland hat die entscheidende Phase erreicht, nachdem die Parteien ihre Wahlprogramme veröffentlicht haben. Die Labour Party hat das »radikalste Programm seit Generationen« vorgelegt. In dieser Wertung sind sich der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn und die britischen Medien einig.

Das Unterhaus des Parlaments wird in einer vorgezogenen Wahl am 12. Dezember neu gewählt: eine Wahl mit komplexen Richtungsentscheidungen. Schon der Wahlkampfauftakt zeigte, dass die Konservativen und Rechtspopulisten um die Stimmen des Elektorats mit äußerst harten Bandagen kämpfen. Zwei Themen dominieren im Wahlkampf: Der Brexit und die Überwindung der Austeritätspolitik, die das auslaufende Jahrzehnt geprägt hat.

Zugleich entscheidet der Ausgang der Wahl darüber, ob das Königreich als »Union von vier Nationen in einer Nation« das kommende Jahrzehnt übersteht. Der reaktivierten Dominanz des englischen Nationalismus – politisch repräsentiert in der informellen Koalition von rechtspopulistischen Formationen (UKIP, Leave.EU, Brexit-Partei) und Konservativer Partei – stellen sich in Schottland und Wales die dortigen Volksparteien entgegen (SNP, Plaid Cymru) und in Nordirland sämtliche Parteien einschließlich der unionistischen DUP. Das ist der in ganz Europa überhörte Unterton dieser Wahl.

Die Konservative Partei führt den Wahlkampf mit dem Slogan »Get Brexit Done«: Ist der Austritt aus der EU erst einmal vollzogen, soll die befreite Nation mit den dann entfesselbaren Potenzen eines dynamisierten Kapitalismus und in Verbindung mit einer Vielzahl von Freihandelsabkommen und begleitet von Law-and-Order-Gesetzen in eine neue Prosperitätsphase eintreten.

Die Labour Party wirbt hingegen für eine grundlegende Wende in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, um nach Jahrzehnten währender Austerität eine neue gesellschaftliche Betriebsweise zu etablieren. Darin eingebettet ist die Lösung der Brexit-Frage. Für den Ausgang der Wahl ist entscheidend, welche Partei mit ihrem Schwerpunkt bei den Wähler*innen durchdringt.


Worüber entschieden wird: Der Brexit

Premierminister Johnson verspricht für den Fall des Wahlsiegs den Austritt zum Ende der verlängerten Austrittsfrist am 31. Januar 2020 und den Abschluss eines EU-UK-Freihandelsabkommens nach der vertraglich vereinbarten Übergangsphase zum 31. Dezember 2020.

Als wichtigste Modifizierung des Abkommens hatte Johnson den Wegfall der »Backstop«-Lösung und die Verlagerung der Vereinbarungen zu Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutzrechten aus dem Austrittsvertag in die nicht rechtsverbindliche Politische Erklärung durchgesetzt. Als »Erfolg« wird allein die Modifikation herusgestellt, nicht jedoch drei gravierende Folgen: a) Die im Belfaster Karfreitagsabkommen verankerten Konsens-Institutionen werden für den Entscheidungsprozess über den Verbleib Nordirlands in der EU-Zollunion und im Binnenmarkt missbraucht; b) der Unterbietungswettbewerb gegenüber der EU durch britische Deregulierungen ist nicht mehr ausgeschlossen; c) der No-Deal-Brexit ist nicht vom Tisch.

Die Labour Party wirbt zur Lösung der Brexit-Frage für ein zweistufiges Verfahren. Innerhalb von drei Monaten nach Regierungsantritt soll ein neues EU-Austrittsabkommen, das den Verbleib in der EU-Zollunion mit enger Binnenmarktverflechtung vorsieht, ausgehandelt werden. Innerhalb von sechs Monaten nach Regierungsantritt soll dann in einem das Parlament und die Regierung bindenden Referendum über diesen Austrittsvertrag und die Option Verbleib in der EU alternativ abgestimmt werden.

Diese klare Position der Labour Party wird nicht nur aus dem Lager der Brexit-Anhänger*innen, sondern auch von SNP, Liberaldemokraten und den Blairisten in der Labour Party als unglaubwürdig diskreditiert. Dass die unbegründete Kritik mit einer Herabwürdigung des Parteivorsitzenden Corbyn verbunden wird, von dem bekannt ist, dass er im Referendum für den Verbleib in der EU gestimmt hat, deutet darauf hin, dass nicht die EU-Position, sondern die grundlegende Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Labour Party getroffen werden soll, in die die Lösung der Brexitfrage eingebunden ist.

Nachdem jedoch die Liberaldemokraten mit ihrer Position »Rücknahme des Austrittsantrags« und ihrem Anspruch, die neue Premierministerin zu stellen, im Wahlkampf frühzeitig Schiffbruch erlitten haben, ist die Labour-Position landesweit die einzig verbliebene tragfähige Alternative zum harten Brexit der Modernen Rechten in England.


Worüber entschieden wird: Das Ende der Austerität

Der EU-feindlichen Fraktion der Tories, die mit der Wahl Johnsons zum Parteivorsitzenden die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, war schon frühzeitig klar, dass sie ihre Vision des »Globalen Britanniens« mit der Stärkung von Freihandel und Finanzmärkten nicht als Machtposition verteidigen kann, wenn sie keine finanzpolitische Kurskorrektur vornehmen und die Austeritätspolitik stoppen würde. Gleich zweimal hatte die Regierung Johnson die Vorlage des Haushaltsplans aufgeschoben. Was sie als »Ende der Austerität« bezeichnete, waren Zusagen im Umfang von 13 Mrd. Pfund zur Stützung des staatlichen Gesundheitsdiensts (NHS), der Schulen und der Polizei. Diese drei Bereiche rangieren in den Meinungsumfragen obenan bei der Frage nach den drängendsten gesellschaftlichen Problemen.

Diese Ausgabenausweitung ist der Kern dessen, was im Wahlprogramm wiederum als Zusage (22 Mrd. Pfund für fünf Jahre) zur Verbesserung von Sicherheit und sozialen Dienstleistungen aufgelistet ist. Wenn innerhalb eines Jahrzehnts die Ausgaben für soziale Dienstleistungen, Sicherheit, öffentliche Infrastruktur und Gemeindezuwendungen in realen Preisen auf weniger als 60% geschrumpft worden sind, dann bedeutet eine Ausweitung der Ausgaben um 2% immer noch eine Reduzierung der öffentlichen Infrastruktureinrichtungen um 58,8% gegenüber 2010.

Dass das ein »Ende« der Austeritätspolitik ist, aber keine Umkehr, ist der Mehrheit der Wahlbevölkerung bewusst. Die Forderung nach einer Revitalisierung der öffentlichen Dienste findet ihr Pendant in den anhaltend hohen Zustimmungsraten zur Überführung von Versorgungsunternehmen in öffentliches Eigentum.

Die Beendigung der Austerität und der Übergang in eine neue Prosperitätskonstellation stand schon im Zentrum des Labour-Wahlprogramm von 2017: »For the many, not the few.« Das Programm für eine inklusive Sozialpolitik in Verbindung mit einer Stärkung von Infrastruktur und Investitionen ist seitdem in einem breiten innerparteilichen Diskussionprozess präzisiert und in vielen sozialökonomischen Analysen weiter entwickelt worden. Mit dem aktuellen Programm »It’s Time for Real Change« [1] und den begleitenden Finanzierungsrechnungen [2] liegt nicht nur ein Wahlprogramm vor, sondern ein ausgearbeitetes Regierungsprogramm für das nächste Jahrzehnt, das unmittelbar nach einem Wahlsieg in Angriff genommen werden kann. Trotz der größeren Detailschärfe und des leicht gewachsenen Umfangs atmet das aktuelle Programm dieselbe Frische wie das Wahlprogramm von vor zwei Jahren.


Das Labour-Programm für einen grundlegenden Wandel

Die von der Labour Party vorgelegte kohärente Wahl- und Regierungsprogramm gliedert sich in fünf Abschnitte: Grüne industrielle Revolution, Rekonstruktion der öffentlichen Dienste, Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, das Schlusswort zum Brexit, neuer Internationalismus.

Die unterliegende Analyse wird in den Medien geteilt. Labour »identifiziert Bereiche, die wirklich repariert werden müssen. Fast ein Jahrzehnt sind die Konservativen an der Regierung, und immer haben die Reallöhne noch nicht die Höhe von vor der Krise 2008 erreicht. Die Obdachlosigkeit ist gestiegen. Grundlegende öffentliche Dienstleistungen wie Justiz, Pflege und die Aufgaben der Kommunen sind ausgetrocknet. Die privatisierten Wasser- und Eisenbahnunternehmen liefern suboptimale Ergebnisse ab. Große Teile der Bevölkerung fühlen sich von den Hotspots des Wohlstands ausgeschlossen, vor allem im Südosten Englands.« (Financial Times, 22.11.2019)

Die Lösungsvorschläge werden hingegen rundweg abgelehnt. »Doch praktisch alle Vorschläge Labours, um diese Herausforderungen anzugehen, sind fehl am Platz. Die Erbsünde Corbyns besteht darin, die Privatwirtschaft als notwendiges Übel zu betrachten, die es zu regulieren gilt, anstatt sie als Teil der Lösung für die aufgezeigten Probleme zu sehen. Der Angriff auf die Wirtschaft ist ein Angriff auf die Schaffung des Reichtums.« (ebd.)

Das zusammenfassende Verdikt: »Das Wahlprogramm der Labour Party ist nichts anderes als eine Blaupause für den Sozialismus in einem Land. Die Kombination aus sanktionierenden Steuererhöhungen, weitreichender Verstaatlichung und der Aufhebung der Gewerkschaftsreformen aus der Thatcher-Zeit dreht die Zeit um 40 Jahre zurück. Neben einer massiven Expansion des Staates – entsprechend sechs Prozent des BIP – sind die Pläne von Labour ein Rezept für den endgültigen wirtschaftlichen Niedergang. Während frühere Labour-Chefs, von Tony Blair über Gordon Brown bis Ed Miliband, die Marktwirtschaft akzeptierten, hat sich die Gruppe um Jeremy Corbyn dafür entschieden, sie durch ein etatistisches Modell zu ersetzen. Es ist mehr dem sozialistischen Programm von François Mitterrand aus dem Jahre 1981 verpflichtet als einem realistischen Rezept für die Reform einer modernen Wirtschaft und erst recht nicht dem Status des UK als einem sicheren Hafen für ausländische Investitionen.« (ebd.)


Linker Green New Deal

Dieses Urteil ist unzutreffend. Denn im Zentrum des Labour-Vorschlags für einen neuen Gesellschaftsvertrag und für die Transformation der gesellschaftlichen Betriebsweise steht die »Grüne industrielle Revolution«. In den Mittelpunkt der industriepolitischen Strategie rückt Labour ein abgestimmtes Konzept zur Steigerung der Produktivität und für Investitionen zur Erneuerung von Wirtschaft, Energie, Verkehr und Umwelt, um dem Klimanotstand zu überwinden. Zugleich sollen mit einer gezielten Förderung regionale Ungleichgewichte beseitigt werden.

Die Finanzierung erfolgt zweigleisig. Zum einen soll ein Nationaler Transformationsfonds (TNF) etabliert werden, der über einen Zeitraum von zehn Jahren mit über 400 Mrd. Pfund ausgestattet werden soll. Davon sollen für den Grünen Transformationsfonds 250 Mrd. Pfund bereit gestellt werden. Zum anderen soll eine (der Kreditanstalt für Wiederaufbau) ähnelnde Nationale Investitionsbank mit einem Netzwerk regionaler Entwicklungsbanken gegründet werden, die über ein Kreditmittel von 250 Mrd. Pfund verfügen soll, ebenfalls für einen Zeitraum von zehn Jahren. So sollen eine Million qualifizierter Arbeitsplätze in den Bereichen erneuerbare Energien mit Schwerpunkt Offshore-Windkraftanlagen, Hochwasserschutz, Infrastukturerneuerung der Häfen, Umbau des Verkehrssystem, Umweltsanierung, Biodiversität und Haus- und Wohnungssanierungen entstehen.

Der jährliche Impuls für die Erneuerung des öffentlichen und privaten Kapitalstocks zur Beherrschung des Klimawandels beläuft sich also auf 50 Mrd. Pfund oder 2,5% des BIP. Weitere 1,5% des BIP oder 30 Mrd. Pfund pro Jahr sind im Sozialen Transformationsfonds des NTF (insgesamt 150 Mrd. Pfund für fünf Jahre) für die Rekonstruktion und Ausweitung der sozialen Infrastruktur vorgesehen: Schulen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Sanierung öffentlicher Gebäude zur Verringerung des CO2-Ausstosses. Als institutionelle Wende zur langfristigen Absicherung des linken Green New Deal soll ein »Ausschuss für nachhaltige Investititionen« gegründet werden, in dem das Finanzminsterium, das Wirtschaftsministerium und die Bank of England die Investitionspolitik koordinieren.

Die Politik der ökonomischen Erneurung wird von etlichen britischen Ökonomen unterstützt [3]. »Die britische Wirtschaft braucht Reformen. Zu lange hat sie dem Konsum Vorrang gegeben vor Investitionen, kurzfristigen finanziellen Erträgen vor langfristigen Innovationen, steigenden Vermögenswerten gegenüber steigenden Löhnen und dem Defizitabbau gegenüber der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. […]

Angesichts der Zurückhaltung des Privatsektors benötigt die britische Wirtschaft eine umfassende Ausweitung öffentlicher Investitionen, die wiederum private Finanzierungen anstoßen können, die von der Erwartung einer höheren Nachfrage angezogen werden. Diese Investitionen müssen in die groß angelegte und schnelle Dekarbonisierung von Energie, Verkehr, Wohnen, Industrie und Landwirtschaft und in die Unterstützung innovations- und exportorientierter Unternehmen und öffentlicher Dienstleistungen fließen. Es ist klar, dass dies eine aktive und umweltfreundliche Industriestrategie erfordert, die darauf abzielt, die Produktivität zu verbessern und die Investitionen im ganzen Land zu verteilen.«


»Neue Regeln für die Wirtschaft«

Bei der medialen Zustimmung zur Analyse im Wahlprogramm wird der folgende Zusammenhang zumeist augeblendet: »Arbeit ist heute keine Garantie mehr für den Weg aus Armut. Von 14,3 Millionen Menschen in Armut leben neun Millionen in Familien, in denen mindestens ein Erwachsener erwerbstätig ist. Die Reallöhne sind immer noch niedriger als vor der Finanzkrise, während die Dividendenzahlungen an die Aktionäre um 85% gestiegen sind. Labour wird die Armut in der Arbeitswelt in unserer ersten Amtszeit beseitigen, indem sie die strukturellen Ursachen von Armut und Ungleichheit, wie niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, bekämpft und gleichzeitig das Niveau unseres Netzes sozialer Sicherung anhebt.« /59/

Die wichtigsten Schritte dazu sind:

  • Der Mindestlohn soll für alle Beschäftigten ab 16 Jahren sofort auf zehn Pfund pro Stunde angehoben und Null-Stunden-Arbeitsverträge werden untersagt.
  • Innerhalb eines Jahrzehnts soll die Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftige bei vollem Lohnausgleich auf 32 Stunden gesenkt werden.
  • Die weitgehenden Beschränkungen gewerkschaftlicher Betätigung in den Betrieben, gesetzlich festgeschrieben seit der Thatcher-Ära, sollen beseitigt werden sowie die Beteiligungsrechte der Beschäftigten an Unternehmensentscheidungen, z.B. bei technologischen Veränderungen, neu oder erstmals ermöglicht werden.
  • Erstmals in der Geschichte der industriellen Beziehungen in Britannen sollen die gesetzlichen Grundlagen für Branchentarifverträge und deren Allgemeinverbindlichkeit geschaffen werden: »Wir werden sektorale Tarifverhandlungen in der gesamten Wirtschaft einführen, indem wir Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammenbringen, um gesetzliche Mindeststandards für ein breites Spektrum von Fragen wie Löhne und Arbeitszeiten auszuhandeln, die jeder Arbeitgeber in der Branche beachten muss.« Unternehmesübergreifende »Tarifverhandlungen werden die Löhne erhöhen und die Ungleichheiten verringern«. /61f./
  • Als weitere Elemente der Wirtschaftsdemokratie soll ein Drittel der Sitze in den Unternehmensleitungen mit von der Belegschaft gewählten Arbeitnehmervertreter*innen besetzt werden.
  • Über Arbeitnehmerfonds (Inclusive Ownership Funds – IFOs) soll jede*r Beschäftigte einen Anteil an den Erlösen mit einer Dividende von bis zu 500 Pfund pro Jahr erhalten. »Bis zu 10% eines Unternehmens werden kollektiv von den Mitarbeitern gehalten, wobei die Dividendenzahlungen gleichmäßig auf alle verteilt werden und auf 500 Pfund pro Jahr begrenzt sind« oder auf höchstens 25% der Gesamterlöse des IFO. »Der Rest wird zur Aufstockung des Ausbildungsfonds (Climate Apprenticeship Fund)« im Rahmen des Green New Deals verwendet. / 60/
  • Das Unternehmensrecht wird novelliert dem Ziel der Begünstigung nachhaltiger Unternehmesentscheidungen. »Wir werden ein umfangreiches öffentliches Prüfverfahren (Public Interest Test) einführen, um feindliche Übernahmen und die Schwächung unserer industriellen Basis zu verhindern und inländische Unternehmen zu schützen.«

Als instititutionelle Wende werden ein Ministerium zur Sicherung von Beschäftigungsrechten errichtet sowie eine Agentur für Arbeitsschutz mit umfassender Inspektionsermächtigung. Die Arbeitsgerichtsbarkeit soll neue geordnet werden. Und die Gewerkschaften werden an den Entscheidungen der Kartell- und Wettbewerbsaufsichtsbehörde (Competition and Markets Authority) beteiligt.


Finanzierung

Die Finanzierung der zusätzlichen nicht-investiven Ausgaben und die Auswirkungen der Erhöhung der Unternehmenssteuern von 19% auf 26% wird in zwei zusätzlichen Dokumenten ausführlich erläutert. Darin sind Schätzungen für »zusätzliche Steuereinnahmen und zusätzliche laufende Ausgaben im letzten Jahr der ersten Amtszeit einer Labour-Regierung. Als solches umfasst sie ein Ziel für den laufenden Haushaltssaldo 2023-24 im Einklang mit unseren Finanzierungsregeln (Fiscal Credibility Rule). Investitionen (einschließlich des National Transformation Fund) sind hier nicht enthalten. Es kann nur eine Schätzung sein, aber dies wird die Grundlage für das letzte Jahr der Ressourcenausgaben und Steuermaßnahmen des Vorausschätzungszeitraums im ersten Haushalt von Labour bilden.« (vgl. Abb.)

 

Neuer Internationalismus – nur in Britannien?

Eine Resonanz des von der Labour Party entwickelten Regierungsprogramms zur Einleitung der progressiven Transformation der britischen Gesellschaft im linken politischen Spektrum außerhalb des UK ist bisher ausgeblieben. Das gilt auch für die ideelle Unterstützung des Wahlkampfs. Insofern hat sich die Situation gegenüber 2017 nicht verändert. Erst als mit dem engagierten Wahlkampf der breiten Basis der Labour Party und mit dem sozialistisch geprägten Programm die parlamentarische Mehrheit der Konservativen Partei gebrochen worden war, wurde die erfolgreiche Erneuerung der Labour Party in progressiven Parteien zur Kenntnis genommen, ohne allerdings in einen kritischen Diskurs mit der Partei- und Fraktionsspitze Labours einzutreten. Inzwischen haben zumindest Bernie Sanders und die Democratic Socialists of America (DSA) ihre Unterstützung signalisiert.

Labours Vorschläge für einen neuen Internationalismus sind nicht weniger revolutionär als das Programm zur Transformation der britischen Gesellschaft. Es ist ein Paradigmenwechsel für die zwischenstaatlichen Beziehungen, für die internationale Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit. Der NATO-Gipfel in London eine Woche vor den Wahlen wird Gelegenheit geben, die diametral entgegengesetzten Konzeptionen der Tories und von Labour zu überprüfen. US-Präsident Trump hat mehrfach in den Wahlkampf eingegriffen und hat die informelle Koalition von Rechtspopulisten und Konservativen durch öffentliche Unterstützung seiner Freunde Farrage und Johnson aktiv befördert. Die Bilder des Einvernehmens von Johnson und Trump auf der einen Seite und die Protestkationen gegen Trump und NATO auf der anderen Seite werden die konträren Lösungswege für internationale Konflikte von rechtspopulistischen Konservativen und und progressiven Internationalisten illustrieren.

Die Wähler*innen geben am 12. Dezember ihre Stimme ab. Vom 12. bis 13. Dezember tagt zugleich der Europäische Rat in Brüssel. Die Staats- und Regierungschefs der EU27 werden während ihrer Sitzung mit dem Ausgang der Unterhauswahl konfrontiert werden. Gleich wie das Ergebnis ausfallen wird – die Auseinandersetzung um den Brexit wird die europäischen Institutionen wie bisher in Atem halten. Neu hingegen wird sein, dass nach der Wahl die Loslösung des Vereinigten Königreichs von der EU dann auch vom Europäischen Rat und den 27 EU-Regierungen auf jeden Fall eine Richtungsentscheidung erfordert:

  • Entweder Widerstand gegen eine Regierung Johnson, die – in Konfrontation mit der EU – die Deregulierung eines autoritären Kapitalismus forciert und durch den Bruch internationaler Verträge den Frieden in Europa aufs Spiel setzt,
  • oder Unterstützung einer Regierung Corbyn, die – mit Verbleib in einer EU-UK-Zollunion und enger Verflechtung mit dem EU-Binnenmarkt – eine gesellschaftliche Transformation einleitet mit einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die auf die Überwindung der sozialen Spaltungen und die Unterbindung der Zerstörung der natürlichen Ressourcen gerichtet ist, und die die Erneuerung demokratischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Modernisierung der politischen Repräsentation auf die Tagesordnung setzt.

Anmerkungen

[1] It's Time for Real Change. The Labour Party Manifesto 2019. Online: https://labour.org.uk/manifesto/ und https://labour.org.uk/wp-content/uploads/2019/11/Real-Change-Labour-Manifesto-2019.pdf . Hier können nur einige wenige zentrale Aspekte des Programms vorgestellt werden. Vgl. auch Hinrich Kuhls: Neuer Gesellschaftsvertrag statt sozialer Spaltung. Zur Programmdebatte in der Labour Party. In: Sozialismus, Heft 11/2019, S. 11-15.
[2] The Labour Party: Funding Real Change. It's Time for Real Change; Online: https://labour.org.uk/wp-content/uploads/2019/11/Funding-Real-Change.pdf
[3] Zu den mehr als 150 Unterzeichner*innen zählen u.a. Ann Pettifor, Costas Lapavitsas und Paul Mason. Blanchflower, David G.; Chick, Victoria; Desai, Meghnad; Griffith-Jones, Stephany; Wren-Lewis, Simon: The Labour party deserves to form the next UK government. Economists’ letter to the Financial Times. 25 November 2019. (FT, 26.11.2019). Der Brief ist online verfügbar unter: https://drive.google.com/file/d/1YD3R8a7Qi6t9MwSVHiuQ_b7lMmw5GhRO/view

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