16. Mai 2023 Redaktion Sozialismus.de: Die Bürgerschaftswahlen in Bremen
Das rote Stammland zurückerobert
Zur Bürgerschaftswahl in Bremen waren 462.000 Bürger*innen zur Abstimmung aufgerufen. Anders als in den anderen Bundesländern wird dort alle vier Jahre das Landesparlament gewählt. Während die etablierten Parteien viele Wähler*innen verloren, vervierfachten die »Wutbürger« ihr Ergebnis.
Bei der letzten Wahl 2019 wurde zum ersten Mal in der Nachkriegszeit die CDU stärkste Kraft. Weil die Grünen aber lieber mit SPD und Linken koalieren wollten, mussten die Christdemokraten in die Opposition – und SPD-Mann Andreas Bovenschulte wurde Chef einer rot-rot-grünen Koalition.
Bovenschulte und seine SPD sind nun als klarer Sieger aus der Bremer Bürgerschaftswahl hervorgegangen. Laut der letzten amtlichen Hochrechnung erhielt die SPD mit Bovenschulte an der Spitze 30,1% der Stimmen und legte damit kräftig zu. Bei der letzten Landtagswahl 2019 hatten sich nur 24,9% der Wähler*innen für die seit 1946 ununterbrochen regierenden Sozialdemokraten entschieden.
Die CDU mit Bürgerschaftspräsident Frank Imhoff als Spitzenkandidat verlor leicht und kam auf 25,0% der Stimmen (2019: 26,7%). Die Grünen mit der Spitzenkandidatin und Verkehrssenatorin Maike Schaefer hingegen verloren deutlich und konnten nur noch 12,0% der Wähler*innen von sich überzeugen (2019: 17,4%). Keine Partei hat bei dieser Wahl so viele Stimmen verloren wie die Grünen.
Die in Bremen im westdeutschen Vergleich starke Linkspartei mit Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt als Spitzenkandidatin erhielt 11,1% der Stimmen (2019: 11,3%) und blieb damit stabil. Die FDP kommt auf 5,2% (2019: 6%). Damit ist ihr der Wiedereinzug in die Bürgerschaft knapp gelungen.
Rechts der Mitte profitierten erwartungsgemäß die rechtspopulistischen »Bürger in Wut« (BiW) vom Ausschluss der AfD von der Wahl. Die thematisch vor allem auf innere Sicherheit setzende Kleinpartei errang 9,6% der Stimmen und vervielfachte damit ihr letztes Ergebnis (2019: 2,4%). Die AfD (2019: 6,1%) war u.a. nicht zur Wahl zugelassen worden, weil der notorisch zerstrittene Landesverband der Wahlleitung zwei Listen mit Kandidaten vorgelegt hatte. Diese sah sich daraufhin nicht in der Lage zu entscheiden, welche gültig ist, und schloss die Rechtspartei von der Landtagswahl aus.
Die größten Zugewinne bei dieser Wahl hat allerdings keine Partei verzeichnet, sondern die Gruppe der Nichtwähler*innen. Hatten 2019 noch 177.500 Menschen keine Stimme abgegeben, lag diese Zahl nun bei 202.500. Die Wahlbeteiligung lag bei 57,5%– sieben Prozentpunkte niedriger als bei der vorigen Bürgerschaftswahl. Das weitere Absinken der Wahlbeteiligung und die beängstigende Stärkung der rechtspopulistischen Wut-Wähler*innen sind ein unübersehbares Warnsignal: Ohne Stärkung der sozialen Gerechtigkeit müssen der Umbau der Produktionsweise und der Gesellschaft scheitern.
Erholung der Sozialdemokratie
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zeigt sich zufrieden mit dem Sieg seiner Partei. »Wir sind saustolz auf die SPD in Bremen und Bremerhaven«, sagte er nach ersten Prognosen. Auch wenn die SPD der klare Sieger der Bürgerschaftswahl in Bremen ist, darf nicht übersehen werden, dass sie das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bremer SPD eingefahren hat.
Wie bei der Bundestagwahl hat sich die SPD auch in Bremen aus ihrem Abwärtstrend herausgearbeitet. Maßgeblich Faktor war dabei ihr Spitzenkandidat. So war der Wahlkampf komplett auf Bovenschulte zugeschnitten. »Bovi-Power für Bremen« lautete sein Slogan, und die Analysen der Umfrageinstitute zeigen, dass das verfing. 76% der Bürger*innen bescheinigten ihm eine gute Arbeit, 60% wünschten sich ihn auch als künftigen Regierungschef im Stadtstaat. Eine Regierungsbildung ohne die SPD ist praktisch nicht möglich.
Neben der Person des Spitzenkandidaten war für die Gewinne der SPD ein deutlicher Zuwachs bei der Kompetenzzuschreibung für die wichtigsten Probleme der Stadt verantwortlich. In Sachen sozialer Gerechtigkeit z.B. haben die Bremer*innen wieder deutlich mehr Zutrauen zur Bremischen Sozialdemokratie.
2019 hatte erstmals in der Geschichte des Landes Bremen die CDU vorne gelegen. Die zweitplatzierte SPD war allerdings eine Koalition mit den Grünen und den Linken eingegangen. Dieses Bündnis ist auch künftig möglich: SPD, Grüne und Linke in Bremen kommen auf 50 Sitze in der Bürgerschaft, 44 reichen für die Mehrheit. Bovenschulte sagte zwar, er könne sich eine Fortsetzung dieser Koalition vorstellen, kündigte aber an, auch mit der CDU sprechen zu wollen: »Was sind die Herausforderungen und wer kann die am besten gemeinsam schultern?«
Künftig wolle er mit seiner Partei die Themen Wirtschaft und Arbeit noch stärker in den Mittelpunkt rücken. Das sei »die Grundlage, sozialen Zusammenhalt herzustellen und die anderen Politikfelder finanzieren zu können«, so Bovenschulte, dessen zentrales Wahlkampfversprechen es war, »aus Bremen das wirtschaftsfreundlichste und zugleich arbeitnehmerfreundlichste Land der Republik zu machen«. Damit begonnen hatte seine Regierung schon in den vergangenen vier Jahren: In keinem anderen Bundesland war 2022 das Wirtschaftswachstum so hoch wie in Bremen. Was aber auch stimmt: Nirgends sonst in Deutschland gibt es so viele von Armut bedrohte Kinder.
Solche Missstände hatte die CDU Bovenschulte im Wahlkampf immer wieder vorgeworfen, punkten konnte Spitzenkandidat Imhoff damit aber nicht. Gleichwohl bot er Bovenschulte eine große Koalition an. Der 54 Jahre alte Landwirt und Präsident der Bremischen Bürgerschaft trat gemeinsam mit der 27-jährigen Wiebke Winter an, die als »Luisa Neubauer der CDU« gilt, weil sie sich vor allem in der Klimapolitik engagiert und junge Wähler*innen ansprechen sollte.
Grüner Einbruch
Deutlicher Wahlverlierer sind die Grünen mit nur noch etwa 12,0%. 2019 lagen sie noch bei 17,4%. Die Grünen auf Landesebene wie auch im Bund schoben sich gegenseitig die Verantwortung für die Schlappe zu. So kündigte Spitzenkandidatin Maike Schaefer zwar ihren Rückzug aus der Landesregierung an, zeigte aber zugleich mit dem Finger auf die Bundeszentrale. »Ich ziehe als Spitzenkandidatin die Konsequenz aus diesem Ergebnis gestern und stehe für die kommende Legislaturperiode nicht mehr als Senatorin zur Verfügung«, sagte die bisherige Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau. Eigene Fehler mochte sie nicht als Ursache für das Ergebnis erkennen: »Es ist auch eindeutig so, dass es keinen Rückenwind, sondern eher starken Gegenwind auf Bundesebene für die Grünen gab. Ich will nur das Thema Wärmepumpe einmal erwähnen.« Der Grünen-Bundesvorsitzende Omid Nouripour gab den Schwarzen Peter umgehend zurück. »Maßgeblich sind es Bremer Gründe, die dazu geführt haben, dass wir enttäuscht sind«, sagt Parteichef Omid Nouripour.
Dass gewichtige Gründe für die Schlappe in der Landespolitik lagen, wird auch vor Ort innerhalb der Partei so gesehen. Denn eigentlich haben sie im dortigen urbanen Milieu eine starke Stammwählerschaft. Zuletzt machten sie bundesweit in den sozialen Medien unter durch die Abschaffung der »Brötchentaste« (des kostenlosen Kurzzeitparkens durch die Verkehrsverwaltung) Negativschlagzeilen. Vor allem aber sorgten in der Stadtgesellschaft unverständliche Verkehrsversuche an Straßen und Radwegen für Unmut. Der erhofften autofreien Innenstadt kam Bremen unter Schaefer nicht näher. Dieser Verlust an gesellschaftlichem Rückhalt zeigt sich darin, dass die Grünen z.B. bei der Kompetenzzuschreibung bei ihrem zentralen Thema Klima- und Umweltpolitik deutliche Einbußen hinnehmen mussten.
DIE LINKE mit stabilem Ergebnis
Dass die SPD bei dieser Wahl zulegen konnte, liegt an einer beachtlichen Imagekorrektur vor Ort. Beim Ansehen der Parteien in Bremen rangiert die SPD (+5/-5-Skala: 1,6; 2019: 0,7) wieder klar vor der CDU (0,6; 2019: 0,5). Die Bremer Grünen, beim Ansehen vor vier Jahren noch vor der CDU, erleben den stärksten Imageverlust einer grünen Landespartei seit über zwei Jahrzehnten (minus 0,6; 2019: 0,8) – flankiert von einem Reputationseinbruch der Grünen im Bund.
Wenn es darum geht, soziale Probleme zu lösen, bekommt DIE LINKE viel Zuspruch. Beim Parteiansehen schafft sie (0,2; 2019: 0,0) einen Rekordwert im Westen. Die FDP (minus 0,5; 2019: minus 0,5) bleibt sehr schwach, das Image der BIW (minus 2,0; 2019: minus 2,6) ist schlecht. Der Zuspruch zur LINKEN hat sich bei den Wahlen in 11,1% Stimmenanteil (gegenüber 2019 fast unverändert) niedergeschlagen. Sie erreichte damit fast sieben Prozentpunkte mehr, als die Partei in Umfragen im Bund derzeit erreicht.
Dies ist vor allem auf eine pragmatische linke Reformpolitik zurückzuführen, die durch Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard und Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt auch personell gut repräsentiert wurde. Beide bekamen viel Zustimmung selbst von jenen, die der Sympathie für die Linkspartei sonst unverdächtig sind, bis hin zur Handelskammer. Zur Regierungsbilanz nach vier Jahren gehören z.B., dass das Sozialticket auf Wohngeldbezieher*innen ausgeweitet wurde und der Ausbildungsfonds. Auch eine Tarifbindung bei öffentlichen Aufträgen konnte erreicht werden und ein neues Polizeigesetz, das Racial Profiling verbietet.
Zudem werden die mobilen Impfteams während der Pandemie und das Modellprojekt für obdachlose Bremer*innen, das 26 Menschen eine Wohnung verschafft hat, dem Agieren der Bremer LINKEN zugeschrieben. »Wir haben den Blick der Leute, die wenig Geld haben«, sagt Spitzenkandidatin Vogt, die diese Arbeit auch zukünftig fortsetzen will.
Die Bremer LINKE wurde wegen ihrer Regierungsbeteiligung von ihrer Klientel nicht abgestraft, weil die Bremer Genoss*innen eine reformorientierte linke Politik gemacht haben. Sie sind als selbstständiger Player im Senat wahrgenommen worden – und nicht als Anhängsel der SPD.
Das gute Abschneiden in Bremen enthält denn auch eine Botschaft: Eine Linke, die als Teil eines Mitte-Links-Bündnisses auf sozialen Ausgleich und Gestaltung des klimaneutralen Umbaus der Wirtschaft setzt, wird gebraucht. Das Ergebnis in Bremen zeigt, was möglich gewesen wäre, wenn sich DIE LINKE vor Jahren für selbstbewusstes Regieren und Reformen entschieden hätte – anstatt Opposition um der Opposition willen zu machen. Ob die Linkspartei insgesamt die Botschaft wahrnimmt, die Lektion aus Bremen lernt und die richtigen Schlüsse für ein zukünftiges Agieren zieht, ist noch nicht ausgemacht.
Rechtspopulismus auch in Bremen: »Bürger in Wut«
Die AfD kommt in aktuellen Umfragen im Bund auf Spitzenwerte zwischen 16% und 17%. Es steht zu befürchten, dass damit vor allem vor dem Hintergrund der ungelösten Migrationsfrage noch nicht das Ende Fahnenstange erreicht ist. In Bremen war die AfD (2019: 6,1%) u.a. nicht zur Wahl zugelassen worden. Profitiert haben davon erwartungsgemäß die »Bürger in Wut« (BiW). Die thematisch vor allem auf innere Sicherheit setzende Partei errang 9,6% der Stimmen (2019: 2,4%). In Bremerhaven holte die Partei laut Hochrechnungen 21,5%, und war damit sogar zweitstärkste Partei – in der Stadt Bremen waren es 8,5%.
Seine Partei sei offenbar ein »Sammelbecken für Unzufriedene«, sagte der Parteigründer Jan Timke, ein ehemaliger Bundespolizist, gegenüber dem ZDF. Mit den Themen innere Sicherheit und Migration punktete sie besonders im strukturschwachen und ärmeren Bremerhaven. Laut Infratest-Dimap zogen die Partei aber auch viele ehemalige CDU-Wähler*innen an. So gaben 74% der BIW-Unterstützer*innen an, ihre Partei stehe für Werte, die einst die CDU vertreten habe. 54% sagten aus, sie hätten die »Bürger in Wut« nur deshalb gewählt, weil die AfD nicht angetreten sei. 2019 erreichte die Gruppierung BIW im gesamten Stadtstaat insgesamt 2,4% und konnte dank ihrer Erfolge in Bremerhaven einen Vertreter in die Bürgerschaft schicken. Jetzt werden es voraussichtlich neun Abgeordnete sein.
Bremerhaven an der Wesermündung in die Nordsee hat einst vom Schiffbau gelebt. Den Niedergang der Werftindustrie in den 1990er-Jahren hat die Stadt nicht verwunden und gilt heute als eine der ärmsten Regionen in Deutschland. Die Arbeitslosenquote betrug im vergangenen Jahr rund 13% und lag damit mehr als doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt. In dieser Gemengelage finden sich viele Unzufriedene, die sich von den seit 1946 in Bremen regierenden Sozialdemokraten nicht vertreten fühlen.
Finanziell wurden die »Bürger in Wut« in diesem Wahlkampf von einer anderen Kleinpartei unterstützt, dem »Bündnis Deutschland«. Die beiden Parteien haben bereits angekündigt, nach der Wahl in Bremen zu fusionieren. BiW-Gründer Timke sieht schon die bundesweite Ausweitung.
Unklare Perspektiven
Die Bundespolitik wirkte sich in Bremen vor allem bei den Grünen aus. Neben ihrer unbeliebten Spitzenfrau Schaefer dürften die Filz-Vorwürfe gegen das Ministerium des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck zum schlechten Ergebnis beigetragen haben. Der Zuwachs bei der Sozialdemokratie hingegen ist vor allem den guten Zustimmungswerten von Bürgermeister Bovenschulte geschuldet.
Der vergleichsweise liberalen Bremer CDU wiederum gelang es nicht, von der die Umfragen auf Bundesebene anführenden Union zu profitieren. Dass die FDP weiter in der Bremer Bürgerschaft vertreten sein wird, dürfte bei den Liberalen insgesamt für Erleichterung sorgen, mussten sie seit Eintritt in die Bundesregierung doch eine Reihe bitterer Wahlniederlagen verkraften. In letzter Zeit versuchten sie deshalb, in der Ampel-Koalition ihr Profil zu schärfen, und gerieten darüber immer wieder mit den Grünen aneinander.
Andreas Bovenschulte und der SPD stehen in Bremen zwei Optionen offen: die Fortsetzung von Rot-Rot-Grün oder eine »große« Koalition mit der CDU. Eine Neuauflage von Rot-Rot-Grün, und damit die Fortsetzung einer linken, reformorientierten Politik, wäre eine kluge Entscheidung, um den auch in Bremen anstehenden sozial-ökologischen Transformationsprozess sozial gerecht zu gestalten. Ob das auch die SPD dort so sieht, bleibt einstweilen offen. Wie auch immer in Bremen der weitere politische Kurs abgesteckt wird, eine ökologische Transformation wird nur mit deutlicher Ausrichtung auf soziale Gerechtigkeit dauerhaft mehrheitsfähig werden.