9. Februar 2020 Otto König/Richard Detje: Die Proteste in Kolumbien halten an

»Das Volk gibt nicht auf«

»El pueblo no se rinde, carajo« – »das Volk gibt nicht auf, verdammt«, skandierten zehntausende Kolumbianer*innen, die im Januar erneut sowohl gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung des rechts-gerichteten Präsidenten Ivan Duque, als auch gegen die massenhaften Morde an Aktivisten sozialer Bewegungen, Gewerkschafter*innen und ehemaligen Kämpfern der Guerillabewegung der »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens« (FARC) in rund 100 Landkreisen protestierten.

Für Manuel H. Restrepo Dominguez von der Pädagogischen und Technischen Universität Kolumbien (UPTC) steht fest: »Die Menschen haben es satt, dass Regierungen der Elite, die als Befürworter des Neoliberalismus und des Krieges bekannt sind, die Menschenwürde herabsetzen«.

Fakt ist: Die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016,[1] das der vorherige Präsident und Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos unter Vermittlung der kubanischen Regierung mit den linken FARC-Rebellen abgeschlossen hatte, wird von seinem Nachfolger torpediert, mit der Folge, dass nach wie vor in großen Teilen Kolumbiens Gewalt herrscht. Allein im Januar dieses Jahres sind nach Angaben des kolumbianischen Friedensforschungsinstituts »Indepaz« 27 soziale Aktivist*innen ermordet worden.

Hinzu kommen vier weitere ehemalige FARC-Kämpfer*innen, die im Zuge der »Wiedereingliederung« ihre Waffen abgegeben hatten. Seit Unterzeichnung des Friedensabkommens sind insgesamt mehr als 800 Aktivist*innen sowie fast 190 ehemalige FARC-Kämpfer*innen ermordet worden.[2]

Angesichts der staatlichen Untätigkeit, was den Schutz der Aktivist*innen und ehemaligen Farc-Kämper*innen angeht, stellten die Organisatoren der Proteste ihre Kundgebungen Anfang des Jahres auch unter das Motto »Zur Verteidigung des Lebens«. Kurz vor dem ersten Protesttag kursierte eine Todesdrohung der paramilitärischen Todesschwadron »Águilas Negras« (Schwarze Adler) gegen »Linke, die ihre Gemeinden gegen die Regierung indoktrinieren«. Sie warnten die Protestierenden: »Unser Befehl ist, zu töten, zerstückeln, verschwinden zu lassen, zu foltern, massakrieren und vergewaltigen.« (Portal Amerika 21, 25.1.2020)

Die seit Ende November des vergangenen Jahres andauernden Proteste richten sich wie in Chile, Argentinien und Ecuador gegen die soziale Spaltung, die schlechte Gesundheitsversorgung, den mangelnden Zugang zu Bildung sowie gegen oligarchische Machtstrukturen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) hat in seinem Human Development Report festgestellt, dass Kolumbien nach Chile das Land mit der größten sozialen Ungleichheit auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist.

Nach Angaben des kolumbianischen Statistikinstituts DANE waren 2018 im Landesdurchschnitt 19,6% der Kolumbianer »arm«. Wobei die Armutsstatistik ein riesiges soziales Gefälle zwischen der Hauptstadt und dem Hinterland aufzeigt: Beispielsweise erreicht in Caquetá der Armutsindikator 28,7%, in Norte de Santander 31,5%, in Chocó und Guajira 45,1 bzw. 51,4%, während die Hauptstadt Bogotá lediglich 4,4% Arme unter ihren sieben Millionen Einwohnern ausweist.[3]

Die Mobilisierung begann mit einem 24-stündigen Generalstreik, zu dem ein »Nationales Streikkomitee« (Comité Nacional del Paro), dem auch der gewerkschaftliche Dachverband CUT angehört, aufgerufen hatte. Seit dem ersten Streiktag beteiligten sich täglich zehntausende Menschen an selbstorganisierten Protestaktionen. Konzerte, Cacerolazos (Töpfe schlagen), feministische Flashmobs und Nachbarschaftsversammlungen gehören dazu. Delegationen indigener Gemeinden aus verschiedenen Landesteilen reisten in die Städte, um sich den Protesten anzuschließen.

Der Aufstand gegen die Regierung Duque mobilisierte Ende letzten Jahres rund zwei Millionen Menschen und schmiedete zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des südamerikanischen Landes ein Bündnis zwischen Gewerkschaften, Bauern, indigenen Gemeinden, Schülern, Studenten und einem breiten Spektrum sozialer und Umweltschutz-Bewegungen. Die Wut insbesondere der jungen Demonstrant*innen ist groß. Ein Viertel der 17- bis 24jährigen Kolumbianer*innen hat weder einen festen Arbeitsplatz noch einen Studienplatz. Der Zugang zu höherer Bildung bleibt vielen wegen der hohen Kosten verwehrt und sie arbeiten meist, wie rund 60% der Bevölkerung, in informellen Beschäftigungsverhältnissen.

In Chile waren es die geplanten Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr und in Kolumbien das »Paquetazo«, die das Fass zum Überlaufen brachten. Die Arbeits»reform« der Regierung sieht eine Absenkung des Mindestlohns für unter 25-Jährige auf 75% und die Umwandlung von unbefristeten Arbeitsverträgen in Stundenverträge vor. Das führt nicht nur zu einer weiteren Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, sondern auch zu Sozialkürzungen, wenn die Sozialversicherungsbeiträge nach Stunden berechnet werden.

Ebenso in der Kritik steht eine Renten»reform«, die nach Auffassung der Gewerkschaften darauf abzielt, die »Colpensiones« – die öffentlichen Rentenfonds – zu privatisieren. Ferner richtet sich das Nationale Streikkomitee gegen eine Erhöhung der Strompreise um bis zu 35%. Gefordert wird die Umsetzung der Friedensvereinbarungen zwischen der Regierung und der FARC, die Abschaffung der Straffreiheit für die Mörder der Anführer von sozialen Organisationen und lokaler Politiker, eine Demilitarisierung der Städte und die Auflösung der berüchtigten Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, »Esmad«, die am vierten Streiktag den 18-jährigen Abiturienten Dilan Cruz erschossen hat.

Die rechtskonservative Regierungspartei Centro Democrático (CD) diffamiert die Gründe für die Proteste als Fake News. Sie sieht in den Mobilisierungen eine Strategie der lateinamerikanischen Linken, um Regierungen zu destabilisieren ‒ angestiftet vom Forum von São Paulo bzw. Kuba und Venezuela. Staatspräsident Ivan Duque stellte die Proteste zunächst wie sein rechtsgerichteter Kollege Sebastián Piñera in Chile als Problem für die öffentliche Ordnung dar und ließ die »Esmad« aufmarschieren. In Bogotá und Cali wurde erstmals seit über drei Jahrzehnten eine Ausgangssperre verhängt.

Nach dem fünften Tag der Massenproteste musste Duque jedoch einlenken und kündigte einen »Nationalen Dialog« an: »Die Kolumbianer*innen (haben) gesprochen, wir hören ihnen zu.« Bislang widersprechen die Taten der Regierung jedoch ihrer verlautbarten Bereitwilligkeit zum Dialog mit der Streikbewegung. Trotz der Proteste unterzeichnete der Staatspräsident ein Dekret zur Gründung der »Sociedad Bicentenario«, einer staatlichen Finanzholding, die aus Sicht der Gewerkschaften »die direkte Kontrolle des Staates über die Gelder staatlicher Finanzunternehmen« beseitigt. Ende Dezember 2019 wurde zudem die offiziell als »Gesetz für das Wirtschaftswachstum« bezeichnete Steuerreform verabschiedet, mit dem Ziel, die unter anderem Steuerbefreiungen für Großunternehmer von bis zu 20 Milliarden kolumbianischer Pesos vorsieht.

Während die Regierung mit ihrer Hinhalte-Taktik offenbar auf ein langsames Austrocknen der Proteste spekuliert, wollen die demokratischen Zivilkräfte den Druck auf die Regierung mit weiteren Demonstrationen aufrechterhalten. Rund 1.000 Teilnehmer*innen haben auf der »Zweiten Nationalen Versammlung sozialer Organisationen« Ende Januar beschlossen: Die Proteste und Mobilisierungen gegen die neoliberale Politik unter Präsident Iván Duque werden fortgesetzt. Für den 25. März ist ein weiterer nationaler Generalstreik angekündigt.

Anmerkungen

[1] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Kolumbien – Guerilla und Regierung schließen Waffenstillstand. Ende des längsten Bürgerkrieges in Lateinamerika, Sozialismus.deAktuell vom 3.7.2016.
[2] Die Nachfolgeorganisation der Guerilla, die Partei »Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común«, Farc (Alternative revolutionäre Kraft des Volkes), steckt aktuell in einer tiefen Krise. Zu den Problemen zählen die fehlende politische Legitimation bei den Wahlen und die Machtlosigkeit, ihre Mitglieder und ihre Basis vor Anschlägen der Paramilitärs zu schützen. Fast 190 ermordete Ex-Farc-EP-Mitglieder und mehr als 40 ermordete Familienangehörige rufen Angst, aber auch Misstrauen und Wut gegenüber der Parteiführung hervor. Da fällt die Kritik an einer verfrühten Waffenniederlegung, ohne eigene Schutzmechanismen geschaffen zu haben, auf fruchtbaren Boden (Portal Amerika 21, 3.2.2020).
[3] Vgl. Frederico Füllgraf: Kolumbien – der Volksaufstand gegen die 40 Dauphins und die Jahrzehnte alte Gewaltherrschaft, Nachdenkseiten, 20.12.2019.

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