16. Juni 2020 Otto König/Richard Detje: Kampf für Bürgerrechte in den USA

»Defund the police«

Foto: Tony Webster/flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)

Nach dem Mord an George Floyd Ende Mai in Minneapolis hat die Protestbewegung in den USA historische Ausmaße angenommen. Ging es anfangs nur darum, gegen rassistische Politeigewalt zu demonstrieren, geht es mittlerweile um die Forderung nach gesellschaftlichem Wandel – nach Vereinigten Staaten, die endlich ihre Sklavenhaltermentalität ablegen.

Am 17. Juli starb in Staten Island/New York Eric Garner im Würgegriff der Polizei, am 9. August 2014 war der 18-jährige Schüler Michael Brown in Ferguson (Missouri) erschossen worden, am 23. November der zwölfjährige Tamir Rice in Cleveland (Ohio), am 27. November Bettie Jones in Chicago, als sie der Polizei die Tür ihres Hauses öffnete. Ihnen folgten viele andere Opfer rassistischer Polizeigewalt. »Black-Lives-Matter« (»Schwarze Menschenleben zählen«) entstand und wuchs im ganzen Land zu einer kraftvollen, zornigen Bewegung an.[1] »Ich denke, was hier passiert ist, ist einer dieser großen Wendepunkte in der amerikanischen Geschichte, was bürgerliche Freiheiten, Bürgerrechte und die gerechte Behandlung von Menschen mit Würde betrifft«, sagte Joe Biden, der wahrscheinliche Kandidat der Demokraten bei den Präsidentschaftswahlen im November.

Rassismus ist in den USA historisch verankert – eine strukturelle Gewalt zur Unterdrückung von Menschen. Für Afroamerikaner umfasste diese die Sklaverei, weißen Terror und Lynchmorde, massive Benachteiligungen im Wahlsystem, »Redlining«, die Vergabe zweitklassiger Hypotheken, Wohnungsnot, Diskriminierung im Bildungssystem. Der strukturelle Rassismus lässt sich auch an den wirtschaftlichen Fakten ablesen: Das Durchschnittseinkommen der schwarzen Haushalte liegt bei unter 60% des Einkommens der weißen Haushalte. Den Zahlen des Economic Policy Institute zufolge ist das Lohngefälle zwischen Schwarzen und Weißen seit dem Jahr 2000 größer geworden. Ein Fünftel der Afroamerikaner lebt in Armut – mehr als doppelt so viele als Weiße. Afroamerikaner in Detroit, Milwaukee, St. Louis und vielen anderen deindustrialisierten städtischen Gegenden leben in Verhältnissen, die stärker jenen in Brasilien ähneln als denen in reichen Ländern.

»Zur DNA der Polizei in den USA gehört es von Anfang an, die Macht der Weißen zu sichern und gleichzeitig die schwarze Bevölkerung zu kontrollieren und zu unterdrücken«, so die US-amerikanische Juristin Derecka Purnell. Von exzessiver Polizeigewalt in den USA sind Schwarze und People of Colour überproportional betroffen. Laut Angaben des Datenprojektes »Mapping Police Violence« wurden 7.666 Menschen in den Jahren 2014 bis 2019 von US-Polizisten getötet. Von den betroffenen Beamten wurden lediglich etwas mehr als ein Prozent nach der Tötung einer Person vor Gericht angeklagt – und von diesen wurde wiederum nur ein Viertel verurteilt. Von den im Jahr 2019 gezählten 1.099 Tötungsfällen waren 24% Schwarze, obwohl sie nur 13% der Bevölkerung ausmachen (Zeit Online, 27.5.2020).

Das Problem verschärfen Strafverfolgungsbehörden, die in Fällen von rassistischer Polizeigewalt nicht so genau hinsehen. Zwei Grundsatzurteile des Obersten Gerichts bilden dafür die Grundlage: Der Supreme Court zementierte 1967 den Grundsatz der »qualifizierten Immunität«; diese schützt Polizisten vor juristischen Folgen ihrer Handlungen im Dienst, solange diese nicht gegen »klar etablierte Gesetze« oder in der Verfassung verankertes Recht verstoßen. Und ein Grundsatzurteil von 1989 regelt, dass Polizisten auch mit harten Bandagen durchgreifen dürfen.

Doch Polizeigewalt wird in den USA nicht nur toleriert, sondern auch befeuert von einer Politik, die ihr weitreichende Kompetenzen zuerkennt. So warf US-Präsident Trump Gouverneuren vor, dass ihre Reaktion auf die anhaltenden Proteste schwach gewesen sei, »wenn man nicht dominiert, ist das verschwendete Zeit (…) Dann sieht man aus wie ein Idiotenhaufen. Man muss dominieren.« In seinem Buch »The End of Policing« beschreibt der Sozialwissenschaftler Alex Vitale, wie die Polizei in den vergangenen vierzig Jahren immer größer und militaristischer wurde, wie sie inzwischen in fast allen Gesellschaftsbereichen – von der Schule bis zum Gesundheitssystem – eingesetzt wird, um arme Menschen und People of Color zu kontrollieren (WOZ ch., 4.6.2020).

Bei der Ausbildung ihrer Polizisten handeln die 18.000 Polizeibehörden weitgehend autonom. In manchen Bundesstaaten kann man in zwölf Wochen Polizist werden. Der Fokus der Ausbildung liegt fast überall auf dem Einsatz von Waffen: Eine Umfrage von »Police Executive Research Forum« unter 281 amerikanischen Strafverfolgungsbehörden im Frühling 2015 zeigte, dass die angehenden Polizisten im Schnitt 58 Stunden den Umgang mit Schusswaffen und 49 Stunden Taktiken zur Verteidigung übten, aber nur acht Stunden in Deeskalationstechniken wie »Schlichtung und Konfliktmanagement« sowie »Ethik« unterrichtet wurden.

Gerade letzteres wäre dringend notwendig, denn jeder fünfte Polizist ist ein ehemaliger Soldat und war zuvor an gewaltsamen »Befriedungs«-Bemühungen in Afghanistan oder im Irak beteiligt gewesen. Sie sind darauf eingestellt, die von ihnen beaufsichtigte städtische Bevölkerung als Bedrohung für ihre Sicherheit zu betrachten. In Boston beispielsweise wurden zwischen 2010 und 2015 28 Beschwerden wegen überzogenem Gewalteinsatz pro 100 Polizisten, die ehemalige Soldaten waren, registriert, verglichen mit 17 Beschwerden pro 100 Polizisten, die nicht vorher beim Militär waren, so Jeffrey Sommers, Professor an der University of Wisconsin-Milwaukee (Tagesspiegel, 4.6.2020).

Bei vielen Beamten hat sich die Mentalität festgesetzt, sie befänden sich im Kriegsgebiet, statt auf heimischen Straßen. Dazu hat unter anderem der 63-jährige ehemalige Elitesoldat Dave Grossman seit 20 Jahren beigetragen. Grossman nennt sein Konzept »Killology«, die Wissenschaft vom Töten. Wer richtig vorbereitet sei, für den sei Töten »keine große Sache«, sondern sogar »befriedigend«. Man solle sich deshalb nicht schlecht fühlen; Gott habe die Polizisten zum Kämpfen auf die amerikanischen Straßen gesandt. Mit diesen Botschaften und seinen Kursen, die Titel tragen wie »Bulletproof Mind«, der »kugelsichere Verstand«, reist der Ex-Militär durch die USA und tritt vor Soldaten und Polizisten auf. Er beschwört einen dauernden Kriegszustand, gegen Drogen, Kriminalität, was auch immer. »Versteht ihr, dass wir im Krieg sind?«, ruft er den Zuhörern zu, »und versteht ihr, dass die Polizisten die Frontkämpfer in diesem Krieg sind?« Laut eigener Auskunft hat er in allen Bereichen der US-Armee sowie in allen Polizeiabteilungen Trainings durchgeführt (Zeit Online, 5.6.2020).

Nach Daten des Think Tank Urban Institute in Washington haben die Bundesstaaten und Kommunen 2017 zusammen 115 Milliarden US-Dollar für Polizeiaufgaben ausgegeben: Für Gehälter der Beamten, aber auch um sich hochzurüsten. Die Polizeieinheiten in den USA dürfen sich unter Donald Trump wieder mit Kriegsmaterial aus US-Armeebeständen eindecken – dazu gehören minenfeste Panzerfahrzeuge MRAP, Granatwerfer und Maschinengewehre. Nach Ferguson hatte Trumps Vorgänger Barack Obama dafür gesorgt, dass bestimmte Waffen nicht mehr in die Hände der Polizei kamen. Trump unterzeichnete im August 2017 auf Drängen der Polizeigewerkschaften ein Dekret, mit dem dieser Entscheid revidiert wurde und bediente damit gegenüber seiner Basis zugleich das Wahlkampfversprechen »Law and Order«.

Die Polizeibehörden vieler Kommunen gehören zu den finanziell bestausgestatteten Behörden. Der jüngste Budgetvorschlag für die Stadt Los Angeles hat jedoch eine Welle von Empörung in den sozialen Medien ausgelöst. Bürgermeister Eric Garcetti wollte die Polizei mit weiterem Geld ausstatten und den Behörden über 1,8 Milliarden US-Dollar (1,6 Milliarden Euro) aus einem Gesamtbudget von 5,4 Milliarden US-Dollar zuweisen – der höchste Betrag von allen Ressorts. Zum Vergleich: Die Abteilung für Wohnungsbau und Gemeinschaftsinvestitionen soll weniger als 82 Millionen US-Dollar erhalten. Auch die New Yorker Polizei hatte im Haushaltsjahr 2019 ein Budget von mehr als fünf Milliarden Dollar, das ist fünfmal so viel wie etwa der städtischen Sozialbehörde zur Verfügung steht.

Inzwischen prägt der Spruch »Defund the police« – streicht/kürzt die Mittel der Polizei – die öffentliche Debatte. Die USA sei »overpoliced«, es gebe zu viele Polizisten, die mit zu vielen Waffen ausgerüstet seien und zu viele Aufgaben übernommen hätten. Den Aktivist*innen von »Black-Lives-Matter« geht es jedoch nicht einfach um die Einsparung der Mittel, sondern um deren Umwidmung für karitative Projekte. Unter dem Eindruck der jüngsten massiven Proteste nach George Floyds Tod hat eine große Mehrheit des Stadtrats von Minneapolis erklärt, das dortige Police Department abschaffen und alternative Methoden des »community policing« erproben zu wollen. Mehrere Kommunen und Bundesstaaten haben mittlerweile angekündigt, die Polizei-Etats zu senken, Beschwerdestellen einzurichten und Würgegriffe bei Festnahmen zu verbieten.

Währenddessen haben die US-Demokraten im Repräsentantenhaus das Gesetzespaket »Justice in Policing Act of 2020« zur stärkeren Kontrolle der Polizei eingebracht. In dem Entwurf werden Würgegriffe verboten, die Nutzung von Körperkameras vorgeschrieben und unabhängige Untersuchungen erleichtert. Zivilklagen gegen gewalttätige Polizisten sollen leichter auf den Weg gebracht werden können und eine bundesweite Datenbank für gewalttätige Polizeibeamte eingerichtet werden. Allerdings verfügen die Demokraten nur im Repräsentantenhaus über eine Mehrheit – die Wahrscheinlichkeit, dass der Gesetzesvorschlag auch den republikanisch dominierten Senat passieren wird, ist eher gering.

Daraufhin deutet auch folgender Vorgang hin: Während der Bürgerrechtler Al Sharpton bei einer Trauerfeier für Floyd ausrief, »es ist Zeit für uns, in Georges Namen aufzustehen und zu sagen: Nehmt euer Knie aus meinem Nacken«, traf sich Donald Trump im Weißen Haus mit Vertretern verschiedener Ordnungskräfte und schwadronierte von der »großartigsten Polizei der Welt«. »Es wird keine Mittelkürzungen geben«, erklärte der Präsident. Wenige Tage später, am 12. Juni, starb der Afroamerikaner Rayshard Brooks in Atlanta durch zwei Schüsse in den Rücken. »Mit dem Tod George Floyds hat die letzte und entscheidende Phase im Kampf zwischen Donald Trump und der amerikanischen Demokratie begonnen«, kommentierte die Süddeutsche Zeitung.

 

Zum Thema siehe auch: Stefanie Odenwald: Rassistische Polizeigewalt in den USA: mehr als individuelle Verfehlungen.

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