16. Mai 2019 Otto König/Richard Detje: Wahlkommission annulliert Oberbürgermeisterwahl in Istanbul
»Demokratie« nach Autokratenart
Mit der »Stimme des Volkes« argumentiert Tayyip Recep Erdoğan immer dann, wenn er seine Macht bedroht sieht. »Mein Bürger sagt zu mir Folgendes: Mein Präsident, diese Wahl muss wiederholt werden«, erklärte der türkische Staatspräsident vor Unternehmern in Istanbul.
Der Chef der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hatte schon kurz nach der Kommunalwahl Ende März von flächendeckenden Manipulationen an den Urnen gesprochen: »Wir glauben aufrichtig daran, dass es bei den Wahlen in Istanbul eine organisierte Korruption, eine totale Gesetzlosigkeit und Rechtswidrigkeit gegeben hat.«
Dem Obersten Wahlrat YSK teilte Erdoğan mit, er wolle nicht drohen, wünsche sich jedoch eine »gerechte Entscheidung« über den Antrag seiner islamisch-konservativen Regierungspartei auf Annullierung der Wahl. Das Gremium erklärte daraufhin mit sieben zu vier Stimmen das Ergebnis der Wahl in Istanbul für ungültig und setzte Neuwahlen an. Damit wurde der Opposition ein von der Wahlkommission bereits festgestellter Wahlsieg auf der Basis völlig absurder Argumente aberkannt.[1] Erdoğan begrüßte die Entscheidung zynisch als »wichtigen Schritt zur Stärkung unserer Demokratie«. »Demokratie« nach Autokratenart: So lange wählen lassen, bis das passende Ergebnis erzielt ist. Das passiert nicht zum ersten Mal. 2015 ließ der Herr des Tausend-Zimmer-Palastes in Ankara die Parlamentswahl wiederholen, nachdem die AKP ihre Mehrheit verloren hatte. Mit der Neuwahl wurden die alten Machtverhältnisse wiederhergestellt.
Mithilfe der Neuwahl am 23. Juni will die AKP ihre Machtposition in der größten Stadt der Türkei sichern – koste es, was es wolle. Zu Beginn seiner politischen Karriere hatte Erdoğan erklärt: »Die Demokratie ist für uns kein Endziel, sondern ein Mittel zum Zweck. Mit dem Zug der Demokratie fahren wir so lange wir können, und dann steigen wir irgendwann aus.« An der Haltestelle »politischer Islam« habe dieser sich entschieden, aus dem Demokratie-Zug auszusteigen, »anschließend vernichtete er alle Facetten der Demokratie: die Legislative, die Exekutive, die Judikative, die Medien, die Hochschulen, die Zivilgesellschaft und schließlich: die freien Wahlen«, so Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet (DW, 7.5.2019). Das Parlament wurde entmachtet, Kritiker*innen und Oppositionelle zu Vaterlandsverräter*innen oder Terroristenhelfer*innen erklärt, gewählte Politiker – allen voran die Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) – ins Gefängnis gesteckt.
Die Menschen in der Türkei hatten sich daran gewöhnt, dass in kurdischen Gemeinden Bürgermeister abgesetzt werden, sie gingen davon aus, dass so etwas im Westen der Türkei niemals passieren würde. Mehr als eine Woche nach der Kommunalwahl hatte die Wahlkommission sechs Bürgermeistern in den Gemeinden Edremit, Tuşba und Çaldıran am Van-See sowie die Kleinstädte Tekman in der Provinz Erzurum und Dağpınar in der Provinz Kars den Sieg aberkannt. Sie wurden durch die jeweils zweitplatzierten Kandidaten der Regierungspartei AKP ersetzt. Die Behörde erklärte, die betroffenen HDP-Bürgermeister seien zuvor per Dekret aus dem Staatsdienst entlassen worden und deshalb für das Amt nicht geeignet, d.h. sie durften kandidieren, aber nicht gewinnen.
Im Wahlkampf hatte Recep Tayyip Erdogan mantrahaft wiederholt: »Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei«. So war das seit 1994, als Erdoğan in Istanbul seine politische Karriere als Oberbürgermeister begann, immer gewesen. Doch nach einem Vierteljahrhundert AKP-Herrschaft gelang es nun der Opposition, das Rathaus der 16-Millionen-Stadt zurückzuerobern. Der bis dahin weithin unbekannte Bezirksbürgermeister Ekrem Imamoglu von der republikanischen Volkspartei CHP hatte mit einem hauchdünnen Vorsprung von rund 28.000 Stimmen vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen.
Nach dem Einspruch der AKP und einer Neuauszählung in mehreren Bezirken schrumpfte der Vorsprung auf etwa 14.000 Stimmen. Dennoch erklärte die Wahlkommission, die den AKP-Antrag auf eine Nachzählung sämtlicher Stimmen in Istanbul abgelehnt hatte, den CHP-Politiker zum Wahlsieger und händigte ihm am 17. April seine Ernennungsurkunde aus. Auf Anweisung von Erdoğan wurde das neue Stadtoberhaupt jedoch suspendiert und der Gouverneur von Istanbul, Ali Yerlikaya, vom Innenministerium bis zu den Neuwahlen als Zwangsverwalter eingesetzt.
Die landesweite Kommunalwahl am 31. März war der erste Urnengang seit der Einführung des Präsidialsystems im vergangenen Jahr. Rund 57 Millionen türkische Wähler*innen waren aufgerufen, in 81 Provinzen Bürgermeister*innen, Gemeinderäte und andere Kommunalpolitiker*innen zu wählen. Zwar wurde die AKP bei der Kommunalwahl landesweit stärkste Partei, dennoch hat die Allianz aus Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei und der rechtsextremen MHP fast alle wichtigen Wirtschaftszentren der Türkei verloren – vier der fünf größten Städte des Landes, so auch die Hauptstadt Ankara, gingen an die Opposition.
Die Wahlen waren auch ein Votum gegen Vetternwirtschaft und Korruption sowie eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise. Während Erdogan die Kommunalwahlen zur Abstimmung über seine Person und das »Überleben der Türkei« ausrief, hatte Imamoglu von den Sorgen und Nöten der Bürger*innen gesprochen, deren Gehälter und Spareinlagen durch die Inflation von 20% aufgefressen werden. Die Arbeitslosigkeit hat mit 14,7% den höchsten Stand seit zehn Jahren erreicht, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei einem Höchstwert von 26,7%.
Die Niederlage der AKP in der heimlichen Hauptstadt der Türkei, in der fast ein Viertel der Türken leben, signalisiert aber auch einen tiefgreifenden sozialen Wandel: Erdogans Kampagne zur Islamisierung der Gesellschaft stößt vor allem bei jungen Städter*innen auf wachsende Ablehnung. Und ein weiteres gab den Ausschlag: Der ehemalige HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtas machte den Triumph Imamoglus erst möglich, indem er aus der Gefängniszelle heraus seine Anhänger aufrief, den CHP-Kandidaten zu wählen. Das HDP-Wählerpotenzial beträgt in Istanbul rund zwölf Prozent.
Es verging kein Tag, an dem die AKP-Hardliner um den Parteivize Ali Ihsan Yavuz immer wieder neue Anträge bei der obersten Wahlbehörde einreichten, um das Wahlergebnis anzufechten. In ihren Beschwerden warfen sie der Opposition Manipulation bei der Stimmabgabe vor. Das ist nicht ohne Ironie, war es in der Vergangenheit die AKP selbst, die nachweislich Wahlen manipuliert hat.[2]
Der Verlust der Metropole am Schwarzen Meer stellt für die AKP ein Erdbeben dar. Es geht um Macht und um sehr viel Geld. »Istanbul verfügt über ein Haushaltsvolumen von 5,2 Milliarden Euro. Der Umsatz von 28 städtischen Betrieben beläuft sich auf 3,6 Milliarden Euro. Wer die ökonomische Hauptstadt der Türkei regiert, hat die riesigen Renditen, die die Stadt abwirft, und die Macht der Zukunft in der Hand. Erdogan weiß das genau… Mit dem milliardenschweren Istanbuler Budget schuf er seine eigenen Finanzmagnaten und sorgte so für die Finanzierung seiner Politik.«[3] Die AKP baute Istanbul zur Schaltzentrale ihres Klientelsystems aus. In der Stadtverwaltung arbeiten mehr als 100.000 Menschen, der städtische Etat beläuft sich auf über sechs Milliarden Euro. Damit lassen sich viele Verwandte, Freund*innen und Anhänger*innen im AKP-Systems versorgen. Auf städtischen Grundstücken wurden Bauaufträge für riesige Einkaufszentren und Privatwohnungen meist an AKP-nahe Baufirmen vergeben. Erdogan verewigte sich in der Stadt mit Megaprojekten wie der dritten Bosporusbrücke, dem neuen Flughafen und der größten Moschee der Türkei.
So war die Ankündigung des neuen Bürgermeister Imamoglu bei seinem Amtsantritt, »den Abfluss städtischer Gelder in dunkle Kanäle rigoros zu stoppen«, eine Kampfansage an die AKP-Seilschaften. »Die Zeit der Zuwendungen für ›den Mann‹, für Verbände, Personen, Stiftungen und religiöse Gruppen ist zu Ende«, sagte er. »Wir werden eine transparente Administration starten, in der alles, mein Amt eingeschlossen, publik gemacht wird.« Gegen seine Anordnung, die Archive auf Unregelmäßigkeiten von unabhängigen Prüfern durchforsten zu lassen, sind Abteilungsleiter der städtischen Betriebe prompt vor Gericht gezogen, sie erreichten einen sofortigen Stopp der Aktion.
Die türkische Opposition zeigt nach der Annullierung der Wahl ungewohnte Geschlossenheit. Mehrere kleinere Oppositionsparteien wie die islamistische Saadet und die Kommunistische Partei (TKP) kündigten an, sie würden zu Imamoglus Gunsten darauf verzichten, bei der Neuwahl erneut mit eigenen Kandidat*innen anzutreten. Die linke HDP und die nationalkonservative Iyi-Partei hatten bereits am 31. März zu seinen Gunsten darauf verzichtet, einen eigenen Bürgermeisterkandidaten aufzustellen. Rein rechnerisch hätte dieses informelle Bündnis erneut beste Chancen, gegen den AKP-Kandidaten und dessen rechtsextremen Partner MHP zu gewinnen
Hinzu kommt, dass es innerhalb der AKP brodelt: Die Unzufriedenheit über die Entscheidung der Wahlbehörde ist groß. So erinnern ehemalige Würdenträger wie Ex-Präsident Abdullah Gül und Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu daran, dass die AKP einmal angetreten sei, der Türkei die Demokratie zu bringen. Er fühle sich an 2007 erinnert, als er Präsidentschaftskandidat war und das Verfassungsgericht, damals auch auf Drängen von Militär und säkularer Opposition, die Spielregeln änderte und seine Wahl verhinderte. Ahmet Davutoğlu kritisierte in einem »Manifest« auf seiner Facebook-Seite die Politisierung der Institutionen, die harte Rhetorik, die Polarisierung der Gesellschaft, die Zermürbung der Presse und das Präsidialsystem. Auch die Unternehmervereinigung TÜSIAD beanstandete die Annullierung der Wahl, woraufhin Erdoğan unverhohlen drohte, der Verband »gehe zu weit« und mache einen »Fehler«: »Seid ihr Unternehmer? Dann macht eure Arbeit. Wenn ihr euch in den Wahlkampf einmischt, dann wissen wir, wo ihr steht. Und das sorgt dafür, dass wir ab jetzt anders auf euch schauen werden.«
Am Bosporus beginnt ein neuer harter Wahlkampf. Die Möglichkeiten der AKP, die Neuwahl ohne Manipulationen zu gewinnen, liegen deutlich unter 50%. Deshalb kommt es darauf an, wie weit der Autokrat bereit ist zu gehen, um die Macht nicht zu verlieren.
Der suspendierte Bürgermeister Ekrem Imamoglu erklärte vor mehreren tausend Anhänger*innen unmittelbar nach Verkündung des Neuwahl-Beschlusses: »Unser Weg ist weit. Aber wir sind aufgeregt. Wir dürsten nach Gerechtigkeit«. Seine Zuhörer*innen skandierten: »Recht, Gesetz, Gerechtigkeit!« Menschen schlugen an geöffneten Fenstern auf Töpfe und Pfannen, wie im Sommer 2013 bei den Protesten im Istanbuler Gezi-Park. Ein deutliches Signal: »Wir sind trotz staatlicher Repression noch da!«
[1] Laut dem AKP-Politiker Recep Özel habe die Behörde festgestellt, dass zahlreiche Vorsitzende der Wahlräte und deren Mitglieder keine Beamten waren. Das verstoße nach einer Änderung des Wahlgesetzes vom vergangenen Jahr gegen die Vorschriften. Die AKP hatte damals trotz Einspruchs der Opposition durchgesetzt, dass nur noch Staatsbedienstete den Vorsitz in Wahlräten innehaben dürfen. Warum allerdings die Wahl der Bezirksbürgermeister, des Stadtparlaments und der Landräte, die zeitgleich stattfanden und von denselben Wahlhelfern begleitet wurden, nicht wiederholt werden muss, bleibt das Geheimnis der Wahlkommission. So wie sich auch die Frage stellt, warum diese Wahlhelfer überhaupt zugelassen wurden.
[2] Beim Verfassungsreferendum im Jahr 2017 ließ die Wahlbehörde, ebenfalls auf Druck der AKP, ungestempelte Wahlzettel für die Auszählung zu und öffnete damit der Manipulation Tür und Tor; bei den Präsidentschaftswahlen 2018 wurde Erdogan noch vor dem offiziellen Ende der Auszählungen zum Sieger gekürt; im kurdisch geprägten türkischen Südosten wurden zahlreiche gewählte Bürgermeister aus ihren Ämtern entfernt und durch AKP-Zwangsverwalter ersetzt.
[3] Bülent Mumay: Erdogans Putsch, FAZ, 8.5.2019.