3. Juni 2024 Klaus Bullan: Südafrika hat gewählt

Der ANC verliert die Mehrheit

Das Ergebnis der Parlamentswahlen in Südafrika vom 29. Mai 2024, bei denen nicht nur die Abgeordneten für das Nationalparlament, sondern auch sämtliche neun Provinzparlamente gewählt wurden, hat historischen Charakter. Wie zuvor in allen Umfragen prognostiziert, verliert der ANC (African National Congress), die erfolgreiche Befreiungsbewegung im Anti-Apartheid-Kampf, seit den demokratischen Wahlen 1994 erstmals die absolute Mehrheit.

Mit knapp über 40% der Stimmen büßt er 17 Prozentpunkte bzw. ein Drittel seiner Wähler*innen gegenüber der Wahl von 2019 ein, die ohnehin bereits die schlechteste seiner Geschichte war. In absoluten Zahlen ist das ein Minus von 3,5 Mio. gegenüber 2019 auf jetzt noch 6,4 Mio. Wähler*innen. Bis auf wenige Ausnahmen in einigen ländlichen Provinzen, die zu den Hochburgen des ANC zählen, verliert die Partei fast überall zweistellig und kann vermutlich nur noch in fünf der neun Provinzen allein regieren.

In den wichtigsten Provinzen, wie Gauteng, wo der ANC seine absolute Mehrheit aus 2019 verliert und nur noch auf 34% kommt, in KwaZulu Natal wo der ANC mehr als 38% verliert und nur noch auf 17% kommt und im Western Cape, wo das Ergebnis von 30% auf unter 20% zurückgeht, sind Provinzregierungen nur noch in Koalitionen oder ganz ohne den ANC möglich.

Zweites herausragendes Resultat ist das Wiedereintreten des ehemaligen Präsidenten Südafrikas und des ANC, Jacob Zuma, in die nationale politische Arena. Die gerade neu gegründete Partei uMkhonto WeSiswe (MK) erreicht aus dem Stand fast 15% der Wähler*innenstimmen (absolut: 1,5 Mio.). Die MK, die den Namen des nach dem Anti-Apartheidskampf aufgelösten militärischen Arms des ANC trägt, hat ihre Basis in der Provinz KwaZulu- Natal. Es ist Zumas Heimat und seine Anhänger*innen gehören mehrheitlich wie er selbst der Ethnie der Zulu an.

KwaZulu-Natal ist die Provinz mit dem zweithöchsten Bevölkerungsanteil in Südafrika nach Gauteng, dem ökonomischen und politischen Zentrum Südafrikas. Hier ist MK mit 45%, bzw. 1,5 Mio. Stimmen aus dem Stand stärkste Partei geworden und hat den ANC, der noch 2019 dort mit 55% die absolute Mehrheit erreichte, auf 17,2% pulverisiert. Das gleiche Schicksal erlitt die linkspopulistische Abspaltung vom ANC, die Economic freedom fighters (EFF), die Dreiviertel ihrer Wähler*innen verloren und nur noch auf 2,4% in KwaZulu Natal kommen.

Relevante Stimmenzahlen konnte MK auch in Gauteng (10%) und Mpumalanga (17%) erreichen und so landesweit zur drittstärksten Kraft hinter ANC und DA (Democratic Alliance) werden. Das ist ein Erdrutschsieg für eine Partei, die erst im September 2023 entstand und erst bekannt wurde, als Zuma – noch Mitglied des ANC – sich zu ihrem Unterstützer erklärte. Weder der juristische Streit um den Namen der Partei, die die positive Erinnerung an den erfolgreichen Befreiungskampf des ANC geschickt nutzt, noch der Streit Zumas mit dem ursprünglichen Chef der Partei, noch das juristisch kurz vor der Wahl entschiedene Verbot für Zuma, aufgrund einer Verurteilung zu mehr als einem Jahr Gefängnis zu kandidieren, haben den Wahlerfolg beeinträchtigt.

Die DA hat ebenso wenig vom Einbruch des ANC profitiert wie die EFF. Die DA hat ihren Wähler*innenanteil gehalten, aber nicht ausgebaut. Als stärkste Oppositionspartei mit ca. 20% ist es ihr nicht gelungen, mehr Vertrauen vor allem unter der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zu erhalten. Ihre Wählerschaft rekrutiert sich aus der weißen Minderheit und den übrigen nichtschwarzen Teilen der Bevölkerung. Im Western Cape mit dem Zentrum Kapstadt, wo die schwarze Bevölkerung in der Minderheit ist, hat sie weiter die absolute Mehrheit und kann allein regieren.

Dort hat die Patriotic Alliance, eine rechte fremdenfeindliche Partei, als neue Partei fast 8% der Wählerstimmen erhalten. Wie in den Wahlen zuvor gelingt es der DA nicht, sich als reale Machtalternative zum ANC darzustellen. Sie hat einen Block von zehn kleineren Parteien um sich geschart, die diese Wahl zu einem Votum dafür machen wollten, den ANC von der Regierung abzulösen. Mit einem sehr wirtschaftsliberalen Programm kommt dieser Block auf ca. 30% der Wähler*innenstimmen. Dagegen haben der ANC und die Abspaltungen von ihm, EFF und MK, Zweidrittel der Wähler*innen hinter sich und die Stimmenverluste des ANC bleiben weitestgehend in diesem Lager.


Gründe für die drastischen Verluste des ANC

Die Gründe für das Wahlergebnis und den Verlust der absoluten Mehrheit für den ANC sind vielfältig. Die sozialen Errungenschaften seit dem Ende der Apartheid unter den ANC-Regierungen, wie der Schulbesuch auch für die Bevölkerungsmehrheit, das massive Ausbauprogramm für Wohnungen für die arme Bevölkerung, die Schaffung eines kostenlosen Gesundheitssystems für alle Südafrikaner*innen und die Einführung einer sozialen Basisabsicherung vor allem für Alte und Kinder haben in den ersten Jahrzehnten zu einer großen Zustimmung für den ANC geführt, der noch immer im Bündnis mit der kommunistischen Partei Südafrikas und dem Gewerkschaftsdachverband COSATU gemeinsam regiert.[1] Es ist der ANC-Regierung aber nie gelungen, die zentralen Probleme Südafrikas zu lösen, und im Gegenteil hat sich die Lage zunehmend verschlechtert.

Die sozialen Gegensätze im Land haben massiv zugenommen und insbesondere die Lebenslage des größten Teils der schwarzen Bevölkerung, die 80% der Menschen ausmacht, hat sich verschlechtert. Der größte Teil des bewirtschafteten Landes, der Industrie und des Dienstleistungssektors ist nach wie vor in der Hand weniger Weißer und einer kleinen schwarzen Elite. Die Krisen der letzten Jahre, Wassermangel, Corona-Lockdown, Stromabschaltungen, weltwirtschaftliche Umbrüche haben das Wirtschaftswachstum einbrechen lassen, die Arbeitslosigkeit auf 30% und die Armut unter schwarzen Familien auf 60% erhöht. Hunger ist wieder ein Problem in einem Südafrika, in dem auf der anderen Seite der Reichtum Weniger hemmungslos zur Schau gestellt wird. Insbesondere die armen Familien, die in Townships leben, haben unter der zunehmenden Gewaltkriminalität zu leiden – vor allem Frauen und Kinder.

Lange Zeit gab es in großen Teilen der Bevölkerung einen Kredit für den ANC als ehemalige Befreiungsbewegung. Der schrumpfte von Wahl zu Wahl und diese Entwicklung hat mit den Wahlen 2024 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die »Born free«-Generation, die die Apartheid nur noch aus Erzählungen kennt und den ANC als Regierung wahrnimmt, die verantwortlich ist für ihre schwierige Lage, ist immer größer geworden. Das Durchschnittsalter liegt in Südafrika aktuell bei 26 Jahren.

Die ANC-Regierungen haben seit langem schlecht gearbeitet. Sie haben es nicht nur verfehlt, die soziale Spaltung, die sich entlang der Grenzen von Hautfarben akzentuiert, zu vermindern. Der Wunsch nach »guter Regierungsführung« ist seit langem unüberhörbar. »State capture«, Korruption, Vorteilsnahme auf allen Ebenen, von der kleinsten Kommune bis zur nationalen Ebene, sind verbreitet. Die staatlichen Energieversorger und die staatlichen Transport- und Logistikunternehmen sind marode und arbeiten schlecht. »Service delivery«-Proteste haben überall zugenommen, weil die Behörden und staatlichen Stellen ihre Arbeit nicht tun.

Der Versuch des ANC, durch die Abwahl Jacob Zumas und seiner Regierung, der als Sinnbild für diese Regierungsarbeit steht, und durch Cyril Ramaphopsa zu ersetzen, um eine Wende in dieser Politik einzuleiten, war wenig erfolgreich. Seit 2018 regiert jetzt Ramaphosa. Innerhalb des ANC gab es seitdem heftige Kämpfe zwischen Anhänger*innen Zumas und Ramaphosas, die jetzt zur Neugründung von MK geführt haben, und ironischerweise ist es gerade diese Partei Zumas, die zum Verlust der Mehrheit für den ANC geführt hat.

Der Rückgang der Wahlbeteiligung setzt sich auch 2024 fort. 59% der registrierten Wähler*innen haben ihre Stimme abgegeben. Allerdings hat sich ein Drittel der potenziellen Wähler*innen gar nicht erst registrieren lassen. Die tatsächliche Wahlbeteiligung liegt nur bei etwa 40%. Die langen Schlangen an den Wahllokalen sind also nicht auf unerwarteten Wählerandrang, sondern eher auf unzureichende Organisation der staatlichen Stellen zurückzuführen. Der ANC hat nicht nur Stimmen an MK verloren, sondern viele seiner früheren Wähler*innen sind zu Hause geblieben.


Wie geht es weiter?

Das amtliche Endergebnis ist noch nicht heraus und Überlegungen, wie eine Regierungsbildung zustande kommt, sind zahlreich. Trotz des Wahlerfolgs von MK wird diese Partei das Ergebnis anfechten, was aber zunächst keinen Einfluss auf die weiteren Schritte hat. Innerhalb von zwei Wochen muss das neugewählte Parlament zusammenkommen und einen Staatspräsidenten wählen. Gegen den ANC als mit Abstand stärkster Partei wird keine Regierung gebildet werden können.

Das liegt daran, dass die Gegensätze zwischen der zweitplazierten DA und der EFF ebenso wie zu Zumas MK größer sind als zum ANC. Entscheidend für die Regierungsbildung wird sein, ob Ramaphosa wegen der Erdrutschniederlage als Präsident des ANC zurücktritt und damit ein neuer Regierungschef gebraucht wird, der nur aus dem ANC kommen kann. Die knappe Zeit bis zur Regierungsbildung und das Fehlen eines designierten Nachfolgers, der im ANC mehrheitsfähig wäre, würden vermutlich den ANC und das Land in chaotische Zustände treiben und ist deshalb wenig wahrscheinlich.

MK hat bereits erklärt, für eine Koalition nur zur Verfügung zu stehen ohne Ramaphosa, den Zuma als seinen Feind betrachtet. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass es im ANC eine Mehrheit für die Zusammenarbeit mit der Partei ihres Ex-Vorsitzenden geben wird. Denn vor allem Zuma hat den ANC dahin gebracht, wo er heute steht: Der Ruf des ANC, für Korruption, State capture und Klientelwirtschaft zu stehen, ist stark mit dem Namen Zuma verbunden.

EFF käme eher als Koalitionspartner in Frage und hat sich auch schon entsprechend geäußert. Die Partei des ehemaligen Chefs der Jugendorganisation des ANC, Julius Malema, hat Stimmen an MK verloren. Die beiden Wahlverlierer (ANC und EFF) können nur zusammen regieren, wenn sie eine weitere kleine Partei hinzunehmen, weil sie sonst nicht über 50% kommen. Beobachter gehen aber davon aus, dass das mit Ramaphosa nur schwer machbar wäre, weil der linkspopulistische wirtschaftspolitische Kurs der EFF, mit Verstaatlichung der Banken und wichtiger Industrieunternehmen, der entschädigungslosen Enteignung weißer Landbesitzer und Gewaltandrohungen gegenüber politischen Gegnern das Land in massive Turbulenzen auch auf den internationalen Finanzmärkten stoßen würde. Darüber hinaus sind sowohl MK als auch EFF für einen autoritären Politikstil berüchtigt, der auch vor Gewalt nicht haltmacht.

Realistischer erscheint zurzeit eine Koalition mit der DA, oder zumindest eine Duldung. Zwar hat die DA in ihrem Anti-ANC-Bündnis allen diesen Parteien das Versprechen abgenommen, nicht mit dem ANC zusammen zu arbeiten, aber schon vor der Wahl darauf hingewiesen, dass sie zur Verhinderung des »Worst case« – einer Koalition aus ANC und EFF bzw. MK – bereit sein könnte, mit dem ANC eine Koalition zu bilden. Nicht wenige Südafrikaner*innen scheinen sich von einer solchen Koalition die »Einhegung« des ANC durch eine Kraft der Mitte zu versprechen, die durch ihre Regierungspraxis im Western Cape gezeigt habe, wie gutes Regieren geht.

Ob es in welcher Koalition auch immer gelingen wird, die klientelistischen Strukturen des seit 30 Jahren allein regierenden ANC aufzubrechen und eine Regierung zu installieren, die sich stärker an den Wünschen und Bedürfnissen der leidende Bevölkerungsmehrheit Südafrikas orientiert, bleibt abzuwarten, wäre aber dringend notwendig.

Anmerkung

[1] Vgl. dazu und zum Folgenden: Klaus Bullan, Südafrika vor politischer Neuaufstellung? In Sozialismus.de, Heft 2-2024, S. 31ff.

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