1. August 2018 Joachim Bischoff/Hinrich Kuhls: Die Feinde des europäischen Friedensprojekts

Der chaotische Brexit und der Rechtspopulismus

Am 29. März 2019 um Mitternacht erlischt die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union. Dies ist der Endpunkt einer Entwicklung, die das geopolitische Kräfteverhältnis nicht nur in Europa erheblich verändern wird. Begonnen hat dieser Ausstiegsprozess mit dem knappen Ausgang einer Volksabstimmung auf der Insel im Jahre 2016.

In den letzten zwei Jahren wurde in Großbritannien und in der EU über die Austrittsmodalitäten gestritten und verhandelt. Ende Juni ist das EU-Austrittsgesetz in Kraft getreten und damit der Austrittstermin 29.3.2019 im britischen Recht verankert. Anfang Juli hat die konservative Regierung in einem Weißbuch ihre Vorstellungen über die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union vorgelegt. Diese Veröffentlichung führte zu heftigen Turbulenzen in der Fraktion der Konservativen und der Regierung.

Premierministerin May hat sich in die parlamentarische Sommerpause retten können, ohne dass sich auch nur für ein einziges der zentralen Probleme des Brexits eine Lösung abzeichnet. Wie sich die britische Regierung die Umsetzung des Austrittsvertrags konkret vorstellt, hat sie dem Parlament am 24. Juli in einem weiteren Policy Paper mitgeteilt, das die gesetzgeberische Gestaltung der Abwicklung des Austritts beschreibt: Abschlussrechnung, Bürgerrechte, Übergangsphase, Nordirlandfrage.

Am 20. Juli reagierte EU-Chefunterhändler Michel Barnier auf die Vorschläge. Zwar sieht er einzelne konstruktive Ansätze, aber in zentralen Punkten noch immer gewichtige Divergenzen. Er mahnt zur Beschleunigung der Verhandlungen angesichts der knapper werdenden Zeit. Denn drei Monate vor Verhandlungsschluss sollte sich der politische Nebel langsam lichten. Aber danach sieht es überhaupt nicht aus. Drei Punkte stechen heraus:

  • Die britische Premierministerin Theresa May übernimmt offiziell die Regie in den stockenden Brexit-Verhandlungen. Sie werde die Gespräche mit Brüssel künftig selbst führen. Brexit-Minister Dominic Raab werde dabei ihr Stellvertreter. Im Brexit-Ministerium werden weiter alle Vorarbeiten für den Austritt aus der EU gebündelt und das Land werde auf alle Szenarien vorbereitet, dazu gehöre ein Brexit sowohl mit als auch ohne Handelsvertrag.
  • Angeblich soll Theresa May am 6. Juli 2018 ihr gesamtes Kabinett auf ihrem Landsitz Chequers auf die Linie eines »weichen Brexit« eingeschworen haben. Kurz darauf erklärten der Brexit-Chefunterhändler David Davis und Außenminister Boris Johnson ihren Rücktritt. Was aber nur vordergründig der These eines »weichen« Brexits Vorschub leistet.
  • Denn ein Fortbestand der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in Binnenmarkt und Zollunion, was als »weicher« Brexit angesehen wird, stand nie und steht auch jetzt nicht als politisches Ziel der britischen Regierung zur Debatte. Mit dem Weißbuch hat May die zweithärteste Variante einer vertraglichen Lösung vorgelegt: Als Surrogate für Binnenmarkt und Zollunion schlägt sie eine Freihandelszone für Waren der verarbeitenden Industrien und für Agrikulturprodukte vor und ein Zollarrangement. Zugleich soll damit die Nordirlandfrage gelöst werden. Für den Dienstleistungssektor werden Vereinbarungen mit größerer regulatorischer Freizügigkeit vorgeschlagen. Er steht mit den Bereichen Banken und Finanzdienstleistungen, Versicherungen, Mediendienstleistungen und neue Technologien, Rechts- und Unternehmensberatungen sowie Transport und Reisen für einen Anteil von 80% in der Bilanz der Außenhandelsbeziehungen.

Im Vorwort des Weißbuchs fasst May die strategischen Verhandlungsziele noch einmal zusammen: »Beim Referendum am 23. Juni 2016 – der bisher größten demokratischen Übung im Vereinigten Königreich – stimmte das britische Volk für den Austritt aus der Europäischen Union. Und genau das werden wir umsetzen: den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen, die Personenfreizügigkeit und die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in diesem Land beenden, die Gemeinsame Agrarpolitik und die Gemeinsame Fischereipolitik verlassen und die Ära beenden, in der wir jedes Jahr große Summen an die EU überwiesen haben. Wir werden die Kontrolle über unser Geld, unsere Gesetze und Grenzen zurückerobern und ein neues aufregendes Kapitel in der Geschichte unserer Nation beginnen.«

Bei der Auseinandersetzung in der Konservativen Partei geht es also um Versionen eines harten Brexits. Diese Debatte wird die nächsten Wochen prägen. Es geht um die Themen »Kontrolle über Geld, Grenzen, Recht und Außenhandel«. Ohne finanzielle Verflechtung mit der EU als Nettozahler, ohne unkontrollierte Einwanderung in den Arbeitsmarkt und ohne Unterwerfung unter die EuGH-Rechtsprechung werde das Vereinigte Königreich nach der wieder errungenen vollen nationalstaatlichen Souveränität mithilfe neuer Freihandelsabkommen zur Prosperität zurückkehren und die Zukunftsperspektiven des gesamten Volks sichern.

Mit dieser Position des harten Brexits hatten die rechtspopulistischen Kampagnenbetreiber von UKIP und Tories, die EU-feindlichen Kreise in der Konservativen Partei und einige Abgeordnete am rechten Rand der Labour Party das EU-Referendum 2016 für sich entschieden. Wie wir heute wissen, kennen diese Kräfte keinen Respekt vor demokratischen Regeln. Laut dem offiziellen Parlamentszwischenbericht steht fest: »Vote Leave«, das offizielle Abstimmungskomitee für den EU-Austritt, hat systematisch irreführende Meldungen und Meinungen verbreitet, um Vorurteile anzuheizen. Persönliche Daten von Adressaten seien gezielt und ohne deren Wissen und Einverständnis eingesetzt worden. Nach ihrer Ausrufung zur Premierministerin hat Theresa May die Politik des harten Bruchs zugunsten eines Globalen Britanniens bekräftigt und entschieden vorangetrieben.

Bis zur Publikation des Weißbuchs trat May gegenüber der EU-Verhandlungskommission, dem Parlament, der britischen Zivilgesellschaft und ihrem Kabinett mit einer destruktiven Mehrdeutigkeit ihrer Zielsetzungen gegenüber. Hierzu sah sie sich genötigt, weil der Europäische Rat auf eine zeitliche Sukzession von Austritts- und Zukunftsverhandlungen bestanden hatte. Mit dieser Ambiguität gelang es ihr, die drei wichtigsten Strömungen in der Konservativen Partei zusammenzuhalten: die rechtspopulistischen und EU-feindlichen Brexit-Hardliner der European Research Group (ERG), die kleine Gruppe Abgeordneter, die für einen Verbleib in der Zollunion streiten und das Zentrum der Abgeordneten, die beim Referendum überwiegend noch für den Verbleib votierten, dann aber Mays Kurs in Richtung eines harten Brexits folgten.

Der Übergang zu einer Verhandlungsposition einer Warenfreihandelszone, für die ein für das UK und die EU »gemeinsames Regelwerk« gelten soll, war Auslöser für die heftigen Turbulenzen. Der zurückgetretene Brexit-Minister Davis hat bisher erfolglos darauf gedrungen, dass auch das – von May und der Mehrheit des Kabinetts – abgelehnte Papier mit seiner Gegenposition veröffentlicht wird: Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion und zügige Verhandlung eines Freihandelsabkommens mit der EU bis zum Ende der Übergangphase Ende 2020 ohne Rücksicht auf das Grenzregime auf der irischen Insel.

Die EU-Verhandlungskommission hat inzwischen den Vorschlag einer Teilregulierung des Warenhandels ohne Dienstleistungssektor abgelehnt, weil so involvierte nichttarifäre Aspekte nicht ausreichend reguliert werden könnten. Ebenso wurde das vorgeschlagene Zollarrangement, das im Kern unterschiedliche Tarife seitens der EU-Länder und des UK gegenüber Drittländern ermöglichen soll, als nicht umsetzungsfähig zurückgewiesen, weil diese Doppelstruktur nicht mit der EU-Zollhoheit vereinbar sei. Damit ist aber auch der Vorschlag der britischen Regierung zur Lösung der Nordirlandfrage hinfällig.

Somit stellt sich erneut die Frage, warum sich in den Kernthemen keine Annäherung abzeichnet, der gesamte Zeitplan der Verhandlungen ins Rutschen gerät und dadurch die Ratifizierung des Austrittsvertrags vor der Neuwahl des Europaparlaments Ende Mai 2019 gefährdet ist.

Hierzulande wird noch über die Alternative weicher oder harter Brexit sinniert – so das DIW und das Institut der Deutschen Wirtschaft in ihrer Bewertung des Weißbuchs –, und darauf gehofft, dass mit etwas Entgegenkommen der EU-Seite ein Kompromiss schnell gefunden werden könnte. Dagegen befindet sich die politische Klasse des Vereinigten Königreichs nach einem Monat gegenseitiger Blockaden in einem Zustand der Hyper-Nervosität. Die britische Regierung kehrt nicht nur zur Androhung des vertragslosen Endes der EU-Mitgliedschaft (»no deal is better than a bad deal«) zurück, sondern diskutiert und propagiert diese Alternative mit vollem Ernst, wenn auch ohne Fachkompetenz. Dass es zuerst die EU-Verhandlungskommission war, die Brancheninformationen für den Fall eines vertragslosen Brexits veröffentlichte, mindert das Bedrohungsszenario nicht.

Aber warum kann kein Fortschritt erzielt werden? Und warum öffnet sich jetzt der Ausblick auf einen ungeordneten, chaotischen Brexit als eine realistische Alternative?


Die Aufkündigung überstaatlicher Kooperation: ein zivilisatorischer Rückschritt

Die Tories, seit 2010 führende Regierungspartei, hatten ihren seit Dekaden anhaltenden innerparteilichen Konflikt um die Europapolitik aufgrund des rechtspopulistischen Drucks nicht mehr intern lösen können. Zum Zeitpunkt der Vorbereitung des Plebiszits setzten die britischen Parteien insgesamt – inklusive der Labour Party – eine neoliberale Politik der harten Austerität in der EU und in Großbritannien um oder duldeten sie weitgehend kritiklos.

Der Europäische Rat machte das Spiel der britischen Regierungspartei mit, indem er auf das Ansinnen des Kabinetts Cameron einging. Er lehnte die vertragswidrigen Verhandlungen zur teilweisen Bindungsentpflichtung bei der Personenfreizügigkeit nicht ab und verwies die britische Regierung nicht auf den institutionellen Weg der Vertragsänderung. Stattdessen setzte er darauf, mit geringfügigen Zugeständnissen den Verbleib der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft in der EU sichern zu können.

Alle britischen Parteien hatten sich zugleich politisch verpflichtet, dem Votum des Plebiszits, in dem ein komplexer Krisenzusammenhang in eine binäre Frage über den Verbleib in oder Austritt aus der EU zusammengedrängt worden ist, im Rahmen der Institutionen der repräsentativen Demokratie nachzukommen. Es konnte nicht ausbleiben, dass die Probleme des Grundsatzkonflikts, der mit dem Verschieben auf die Ebene des Volksentscheids voraussehbar nicht zu lösen war, mit potenzierter Wucht zurückkehren und das gesamte politische System des Vereinigten Königreichs infrage stellen.

Die Kernfrage beim Brexit lautet daher: Ist die Rückkehr zur ausschließlich nationalstaatlichen Souveränität möglich, wenn dadurch die im Rahmen einer fortgeschrittenen supranationalen Zusammenarbeit entstandenen vertraglichen Verpflichtungen vom Austrittsland verletzt werden?

Die nordirische Frage

Mit dem Vertrag von Belfast 1998 (Karfreitagsabkommen) ist der Bürgerkrieg in Nordirland beendet worden und eine überwiegend friedliche, wenn auch nicht konfliktfreie Periode des Interessenausgleichs eingeleitet worden. Die beiden Signaturstaaten Republik Irland und Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland erklären in der Präambel, dass sie den Vertrag als »freundschaftliche Nachbarn und als Partner in der Europäischen Union« unterzeichnen – verbunden mit dem Wunsch, »die einzigartige Beziehung ihrer Völker und die enge Kooperation ihrer Länder noch weiter zu vertiefen«. Der Vertrag enthält keine Kündigungsklausel – sie hätte seinem Inhalt und der Intention aller Verhandlungspartner widersprochen. Es lag auch fern aller Vorstellung, dass einer der Signaturstaaten oder beide die EU einmal verlassen könnten – trotz der vielen britischen Sonderkonditionen.

Der ethnisch-religiöse Konflikt in Nordirland speist sich aus der unvollständigen Befreiung Irlands aus der 400 Jahre währenden kolonialen Besatzung und Abhängigkeit. Mit dem Vertrag von Belfast wurde ein institutioneller Rahmen für den Interessenausgleich zwischen dem irisch-katholischen und unionistisch-protestantischen Bevölkerungsteilen geschaffen. Kern der Lösung ist zum einen das institutionell verankerte Konsensprinzip in Nordirland plus die angemessene Berücksichtigung der Interessen beider Bevölkerungsteile durch die jeweilige übergeordnete nationale Regierung. Dazu gehört zum anderen komplementär die Verlagerung der Entscheidung über die Staatszugehörigkeit in ein zukünftiges, terminlich unbestimmtes Referendum, verbunden mit der Verpflichtung aller Vertragsparteien, sowohl den Status quo als auch das Ergebnis einer späteren Abstimmung über die Staatszugehörigkeit Nordirlands anzuerkennen.

Im Rahmen von Binnenmarkt und Zollunion und mit der überproportional hohen finanziellen Unterstützung für Nordirland seitens der EU ist nicht nur die verhasste Grenze mit ihren militärischen Posten verschwunden, sondern es hat sich ein integrierter Markt entwickelt, vor allem im Energiesektor und in der Landwirtschaft. Schon mit dem Austrittsgesuch hat die britische Regierung die Interessen des überwiegenden Teils der nordirischen Bevölkerung nicht berücksichtigt; sie hat sie nicht einmal konsultiert.

Die durch den DUP-Korruptionsskandal schon Ende 2016 ausgelöste Regierungskrise in Belfast und die anschließende Blockade von Parlament und Regierung in Nordirland sind durch das politische Agieren der konservativen Regierung in London verstärkt worden. Mit dem Unterstützungsvertrag zwischen Konservativer Partei und der DUP, der Mehrheitspartei der unionistisch-protestantischen Nordir*innen, zwecks Sicherung der Parlamentsmehrheit im Unterhaus hat sich die britische Regierung dem unionistischen Bevölkerungsteil verbunden.

In ihrer Belfaster Rede vom 20. Juli hat May – von der Öffentlichkeit wegen des Sommertheaters in London kaum bemerkt – faktisch den Kern des Belfaster Abkommens aufgekündigt. Sie verweist auf den Status quo, die konstitutionelle Integrität des Vereinigten Königreichs, die zu wahren ihr aufgegeben sei. Sie beharrt darauf, dass sie trotz des deutlichen nordirischen Mehrheitsvotums für den Verbleib in der EU, die Interessen der gesamten nordirischen Bevölkerung vertrete. Und sie stellt das verbriefte Selbstbestimmungsrecht zur zukünftigen Staatszugehörigkeit infrage, indem sie in einer dubiosen Interpretation des Belfaster Vertrags durchscheinen lässt, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung nicht »ohne externe Beeinträchtigung« geführt werde, wohingegen die Regierung des UK »immer die demokratische Entscheidung der Menschen in Nordirland umsetzt, vorausgesetzt sie sei frei und rechtmäßig zustande gekommen«.

Unmittelbare Konsequenz ist die einseitige Aufkündigung der zwischen May und Barnier vereinbarten Protokollnotiz zu Nordirland im »Gemeinsamen Bericht« von Dezember 2017, aufgrund dessen überhaupt die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen aufgenommen werden konnten. In der Protokollnotiz ist festgehalten, dass im Falle einer Nichteinigung über die handels- und zollrechtliche Regulierung der inneririschen Grenze das Gebiet Nordirland im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion verbleibt.

Diese Vereinbarung sei nicht mehr aufrechtzuerhalten, so May. »Ich glaube nicht, dass irgendein Mitgliedstaat bereit wäre zu akzeptieren, dass eine Nation, um die EU zu verlassen, eine solche Bedrohung ihrer verfassungsmäßigen Integrität akzeptieren muss. Wir haben uns entschieden, als Nationalstaaten beizutreten. Wir müssen als Nationalstaaten die Freiheit haben, die Entscheidung zu treffen, zu gehen. Der Gemeinsame Bericht, auf den wir uns im Dezember geeinigt haben, war diesbezüglich sehr deutlich. Wir haben beide ausdrücklich erklärt, dass Nordirland ein integraler Bestandteil des Vereinigten Königreichs ist, im Einklang mit dem Grundsatz der Zustimmung im Abkommen von Belfast. Und in dem Bericht wird auch die Notwendigkeit deutlich, die Integrität des britischen Binnenmarktes zu wahren, der für die Unternehmen in unserem Land – nicht zuletzt hier in Nordirland – von entscheidender Bedeutung ist.

Der von der Kommission vorgeschlagene ›Backstop‹-Text liefert dies jedoch nicht. Nach ihrem Vorschlag würde Nordirland bei Verhandlungen über Außenhandelsfragen und in der WTO durch die Europäische Kommission und nicht durch ihre eigene nationale Regierung vertreten sein. Die wirtschaftliche und verfassungsmäßige Errichtung einer formellen Zollgrenze innerhalb unseres eigenen Landes werde ich niemals akzeptieren, und ich glaube, dass kein britischer Premierminister das jemals akzeptieren könnte.«

Im Klartext bedeutet das, dass trotz aller Beteuerungen, die »Prinzipien des Belfaster Abkommens aufrechtzuerhalten«, die im Vertrag langfristig angelegte Perspektive des Interessenausgleichs, den die britische Seite »als Partner in der EU« mitunterzeichnet hatte, aufgegeben wird. Das völkerrechtlich verbindlich zugesagte Ziel eines vereinten Irlands, das an ein zukünftiges Referendum in Nordirland gekoppelt ist, wird unilateral von der britischen Regierung suspendiert zugunsten des »Binnenmarkts der vier Nationen des Vereinigten Königreichs«.

Die im Weißbuch enthaltenen Vorschläge einer eingeschränkten Freihandelszone und eines Zollarrangements sehen Premierministerin May und ihr jetziges Kabinett als Lösung des Problems. Die EU-Verhandlungskommission hat ihrerseits den britischen Vorschlag zurückgewiesen. Die weiteren Verhandlungen werden von diesem Konflikt geprägt werden. Während die EU-Verhandlungskommission auf die supranationale, vertraglich abgesicherte Entwicklungsperspektive Nordirlands beharren wird, wird die britische Regierung in den Vordergrund rücken, dass von EU-Seite die nationalen Interessen des Vereinigten Königreichs nicht ausreichend respektiert werden.

Dem jetzigen Zeitplan nach soll der komplette Ausstiegsvertrag auf der Tagung des Europäischen Rats am 18. Oktober zustimmend verabschiedet werden. Ob der Zeitplan eingehalten werden kann, ist unsicher. Auf jeden Fall werden die Verhandlungskonflikte dominanter werden. Sowohl die Kontroverse über die Frage des Fortbestands von Verpflichtungen, die das UK mit dem Bezug auf seinen Status als EU-Partnerstaat im Belfaster Abkommen eingegangen ist, als auch die Auseinandersetzung über das Verhältnis von nationalstaatlicher Souveränität des Vereinigten Königreichs und supranationaler Souveränität der EU im Rahmen der künftigen Beziehungen werden vor allem zwei Themenkreise befeuern: die Perspektive eines ungeordneten, chaotischen Brexits und den Angriff auf die Europäische Union als Staatenbund mit fortgeschrittener supranationaler Souveränität. Beide Themen spielen den Rechtspopulisten und Nationalisten in die Hände.


Die rechtspopulistische Sammlungsbewegung

Die Notstandsmaßnahmen, die für den Fall eines ungeordneten Brexits seitens der Regierung eingeleitet oder geplant sind, hat am umfangreichsten bisher der neue Brexit-Minister Dominic Raab am letzten Unterhaus-Sitzungstag vor dem Brexit-Ausschuss beschrieben. Vor allem sei die präventive Lagerung großer Mengen Arznei- und Lebensmittel geplant.

Von Vertretern der Lebensmittelindustrie musste er sich tags darauf belehren lassen, dass es keine Gespräche zwischen der Regierung und dem Industrieverband gegeben habe und dass die Vorlaufzeit bis Ende März 2019 viel zu kurz sei. Denn die Lebensmittelindustrie als Branche mit dem höchsten BSP-Beitrag aller verarbeitenden Industrien beziehe über 40% der Vorprodukte aus der EU, und zwar in »just-in-time«-Wertschöpfungsketten, was auch für den Vertrieb gelte. Die Umstellung der Produktionsabläufe und die Schaffung zusätzlicher Lagerkapazitäten sei nur mit erheblichen finanziellen Zuschüssen möglich.

Raab rechnet sich den Brexit-Hardlinern der European Research Group zu. Unmittelbar vor seiner Ausschussbefragung war er von May degradiert worden, indem sie den Leiter der Europaabteilung im Cabinet Office, Olly Robbins, auch offiziell zum Verhandlungsführer in Brüssel ernannte und ihm damit zugleich die Weisungsbefugnis gegenüber Raab als frisch ernanntem Brexit-Minister erteilte. May hat also die Brexit-Verhandlungen zur Chefsache gemacht. Damit schloss sie vorläufig die Reihe der Düpierungen der Tory-Hardliner ab, an deren Anfang die erzwungenen Rücktritte von Davis, dessen Stellvertreter Steve Baker und von Außenminister Boris Johnson standen.

Die zurückgetretenen Minister und die meisten anderen aus unteren Regierungsämtern ausgeschiedenen Abgeordneten haben sich wieder den ERG-Hardlinern zugeordnet. Bei Johnsons Austrittsrede – die einem ehemaligen Minister auf Wunsch zugestanden wird – scharten sich demonstrativ alle Rechtspopulisten und Rechtskonservativen der ERG-Tories um den neugeborenen blonden Regierungskritiker, der May erneut Vasallen-Gefolgschaft gegenüber der EU vorhielt. Als ebenfalls neuer Hinterbänkler kündigte Baker an, er werde jetzt die Eliten in Westminster und Whitehall bekämpfen.

Es handelt sich hier nicht nur um die zugespitzte Auseinandersetzung innerhalb einer Fraktion, die eine Minderheitsregierung stellt. Der rechte Tory-Flügel wird jetzt jeglicher Aufweichung eines harten Brexits die Perspektive eines ungeordneten Brexits gegenüberstellen. Die Zuspitzung der Auseinandersetzung hat der rechtspopulistischen UKIP erstmals nach dem Brexit-Votum wieder Auftrieb verliehen. Mit ihrem neuen Vorsitzenden Gerard Batten hat sie einen Ruck in Richtung des völkischen Nationalismus vollzogen, wie er von der neofaschistischen British National Party und der rassistisch-muslimfeindlichen English Defence League vertreten wird.

Zu den Rechtspopulisten der UKIP als auch der Tories pflegt der ehemalige Trump-Berater Stephen Bannon gute Kontakte. Schon unmittelbar nach seiner Wahl empfing Trump auf Bannons Vermittlung hin als erste europäische Politiker den damaligen UKIP-Vorsitzenden Farage und den UKIP-Finanzier Banks sowie Außenminister Johnson – und zwar in dieser Reihenfolge. Jetzt begrüßte Bannon im Interview mit Farage auf dessen viel gehörtem Internetsender die Öffnung der UKIP für den britischen Rechtsextremismus. Die Dementis, Bannon habe sich auch mit Johnson und weiteren Rechtspopulisten der ERG-Gruppe getroffen, blieben halbherzig. Verbürgt ist hingegen, dass US-Sicherheitsberater Bolton im Vorfeld des Trump-Besuchs in Großbritannien sich mit den Spitzenleuten des rechten Tory-Flügels getroffen hatte.

Die Kontroverse innerhalb der Konservativen Partei über den Ausstiegsweg aus der EU wirkt auf den weiteren Verlauf der Brexit-Verhandlungen zurück. Mit der Konfrontation einer nationalistisch konnotierten Staatssouveränität mit dem Entwicklungsweg eines mit supranationaler Souveränität ausgestatteten Staatenbunds lassen sich ausländerfeindliche Ressentiments und die Delegitimierung demokratischer Institutionen verstärken.

Aus Sicht der modernen Rechten ist es letztlich gleichgültig, ob es zu einem geordneten oder chaotischen Brexit kommt. In beiden Fällen können die Institutionen der Europäischen Union bezichtigt werden, sie würden die nationalstaatliche Souveränität nicht ausreichend respektieren, was am Beispiel Großbritanniens demonstriert worden sei. Sowohl in Großbritannien als auch in der EU (d.h. den anstehenden Europawahlen) geht es um die Schlüsselfrage einer erkämpften Souveränität der vier Nationen des Vereinigten Königreichs.

Die weiteren Verhandlungen und deren Nachwirkungen fallen in die Vorbereitungsphase und den Wahlkampf zur Wahl des Europäischen Parlaments im Mai 2019. Die Brexit-Debatte wird der national übergreifende Fokus der rechtspopulistischen Sammlungsbewegung sein, als deren zusätzlichen Motor nicht nur Bannon die neue Stiftung »Die Bewegung« mit ihrem europaweiten Aktionsradius sieht.

Die politische Auseinandersetzung um einen Brexit wird mithin auch in der politischen Linken einen Wiederhall finden. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es ausgesprochen schwierig sein wird, in den Europawahlen zu einer entschiedenen pro-europäischen Position zu finden. In der politischen Linken dominiert die Überzeugung, das europäische Vertragswerk sei immanent und irreversibel neoliberal und die Krise der europäischen Gesellschaften ließe sich nur durch Rekurs auf nationalstaatliche Abwehrkämpfe lösen, über die dann eine neue internationale Kooperation aufgebaut werden könne.

Solange diese Auffassung vorherrscht, wird mit anderen demokratischen Kräften der Zivilgesellschaft und der politischen Arena kein Konsens gefunden werden können für den Kampf gegen die weitere Zerstörung des europäischen Friedensprojekts durch die moderne Rechte.

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