31. Oktober 2019 Otto König/Richard Detje: 70 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund

Der DGB in Zeiten des Umbruchs

Foto: DGB/Gerngross Glowinski

»Gewerkschaften sind im 21. Jahrhundert genauso wichtig wie in ihrer Gründungsphase. Es geht darum, gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit sicherzustellen«, erklärt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. Und die Bundeskanzlerin sekundierte ihm auf dem Festakt zum 70. Jubiläum des DGB in Berlin.

In ihrer Festrede lobte sie die staatsentlastende Funktion von Tarifverträgen und warb für eine höhere Tarifbindung in Deutschland. Es müsse darüber debattiert werden, mit welchen Anreizen Firmen dazu gebracht werden könnten, die Möglichkeiten der Tarifbindung zu nutzen. Schließlich gehe es »über die Betriebe und Branchen hinaus um den sozialen Frieden und den Zusammenhalt der Gesellschaft.«

Überzeugungsarbeit wird nicht einfach sein. Für den Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, ist Deutschland unter der Führung der Großen Koalition zu einem »Schnarchland« herabgewirtschaftet worden, mit einem CDU-Wirtschaftsminister und einer SPD-Umweltministerin, die mit vereinten Kräften dabei sind, »die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu ruinieren.« (FAZ vom 25.10.2019, S. 19)

Da spricht kein Extremist seiner Klasse. Stefan Wolf, Vorsitzender des Arbeitsgeberverbands Südwestmetall und als solcher Gegenpart der IG Metall in den maßgeblichen Tarifverhandlungen in Baden-Württemberg, führt den »riesigen Unmut« der Verbandsunternehmen ins Feld, um einen umfassenderen Umbau des Tarifsystems anzugehen, durch den es gelingen soll, »den Anstieg des Tarifniveaus (zu) dämpfen« und »mehr Variabilität im Flächentarif« im Sinne von kostengünstigeren Wahloptionen der einzelnen Betriebe zu ermöglichen (FAZ vom 26.10.2019, S. 22).

Es wäre zu kurz gegriffen, aus Statements wie diesen nicht mehr als den gängigen Lobby-Sprech zwecks Realisierung hoher Renditeerwartungen herauszuhören. Die Zeitdiagnosen haben sich verändert. Nach einem knapp zehnjährigen Aufschwung sehen sich die Unternehmen vor einer gänzlich neuen Etappe verschärfter Verteilungs- und damit verbundener Machtauseinandersetzungen. Es geht um das Layout und Implementation neuer Produkt- und Produktionslinien (Dekarbonisierung der Wirtschaft, Elektromobilität), um neue Rationalisierungsprozesse und Netzarchitekturen (Digitalisierung), die dafür erforderliche Technikwahl, Beschäftigungsplanung und Arbeitsorganisation sowie um flixible Antworten auf die Umwälzungen in globalen Wertschöpfungsketten.

Und das in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs, sodass alle Entscheidungsprozesse unter verschärftem Kostendruck stehen. »Da ist richtig Feuer unterm Dach« (Wolf) – nicht mehr die Zeit für Sozialpartnerschafts-Gesäusel, für Mitsprache- und Beteiligungsoptionen (sei es in den Betrieben über Arbeitshumanisierung oder in der Gesellschaft über Stromtrassen und Mobilitätskonzepte), für stümperhafte Industriepolitik. Da sind aus Sicht der Unternehmerverbände Entscheider-Runden mit umgehenden Umsetzungsprozessen nötig (sei es beim Digitalgipfel in der kommenden Woche oder beim anstehenden Stromgipfel). Kurz: ein neues »Einheitsdenken« zur raschen Rationalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat.

Die Gewerkschaften gehen geschwächt in diese Auseinandersetzungen – und es bringt ihnen weder Raumgewinn noch ein Mehr an Überzeugungskraft, wenn sie sich auf korporatistische Traditionen berufen. Tarifflucht der Unternehmen, Union busting, Armutslöhne trotz gesetzlichem Mindestlohn und die wieder anziehende Debatte um Entlassungen sind einige der Themen, die die Freude der Gewerkschafter*innen an ihrem Jubiläum trüben.

Unterlagen 1996 noch 70% der Beschäftigten in West- und 56% in Ostdeutschland einem Flächentarifvertrag, waren es im vergangenen Jahr nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nur noch 49 bzw. 35%. Hinzu kommt, dass nicht mal jede/r fünfte Arbeitnehmer*in Gewerkschaftsmitglied ist. Und dies angesichts eines Strukturwandels, der Beschäftigung von der besser bezahlten, mitbestimmten Industrie hin zu häufig schlechter bezahlten, weniger regulierten, kaum mitbestimmten Dienstleistungen verschiebt.

»Wir haben noch die größeren Unternehmen, wo es auch noch Ansätze von partnerschaftlicher Kooperation gibt, das darf man nicht übersehen, wo die Gewerkschaften noch stark sind. Aber die zweite Welt mit immer weiter zurückgehenden tariflichen Bindungen, häufig sogar ohne Mitbestimmung, mit schwachen gewerkschaftlichen Organisationsgraden, häufig mit prekären Arbeitsbedingungen, die ist viel größer«, so der Jenaer Soziologe Klaus Dörre.

Ja, Gewerkschaften sind wichtig und angesichts der Strukturveränderungen haben ihre Tageskämpfe noch an Bedeutung gewonnen. Nicht ohne Erfolg und nicht nur mit Blick auf die Reallöhne dort, wo Tariflöhne gezahlt werden. Dennoch: Auch im zur Neige gehenden Jahrzehnt konnten weder die Lohnspreizung noch die soziale Spaltung zwischen Lohn- und Besitzeinkommen zurückgedrängt werden. Gemessen an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ist die Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts nicht »gerechter« als das deutsche Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg. Auch das trübt die Jubiläumsbilanz.

Dabei war der DGB gerade in Hinblick auf die gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit vor 70 Jahren neu angetreten. Am 13. Oktober 1949 gründeten 16 autonome Gewerkschaften mit rund 5,5 Millionen Mitgliedern den Deutschen Gewerkschaftsbund. Ein Dachverband der Einzelgewerkschaften, die weitestgehend nach dem Industrieverbandsprinzip (»Ein Betrieb – eine Gewerkschaft«) strukturiert sind, Arbeiter und Angestellte umfasst und sich als Einheitsgewerkschaft zum Prinzip der weltanschaulichen und parteipolitischen Unabhängigkeit bekennt.

Die Einheitsgewerkschaft war nach 1945 eine Antwort auf das »Zeitalter der Katastrophen« (Hobsbawm): auf die beiden Weltkriege, auf Weltwirtschaftskrise und Faschismus, auf das Verbot freier Gewerkschaften, die Verfolgung, Vertreibung, Ermordung unzähliger Aktivist*innen. Der Antifaschismus stand Pate an der Geburtswiege des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die Gründerväter des DGB wollten die historischen Fehler – insbesondere die Spaltung in sozialdemokratische, christliche, kommunistische, liberale und berufsständische Arbeitnehmerorganisationen – hinter sich lassen, die den Sieg des Faschismus mit ermöglicht hatten. Dieses Erbe, die Überwindung der parteipolitisch gebundenen Richtungsgewerkschaft, hat sich bis heute bewährt – man blicke nur auf überlebte Gewerkschaftskonkurrenzen in europäischen Nachbarländern.[1]

Mit dem Münchner Grundsatzprogramm von 1949 gaben sich die DGB-Gewerkschaften einen politischen Orientierungs- und Handlungsrahmen, der die Neuordnung der Wirtschaft und Gesellschaft zum Ziel hatte. »Neuordnung« bedeutete: wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen durch Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien, Wirtschaftsdemokratie und Sozialstaatlichkeit.

Mit dem Druck von Urabstimmung und Streiks im Bergbau und in der Stahlindustrie verabschiedete der Deutsche Bundestag 1951 das Montanmitbestimmungsgesetz. Die Ausdehnung dieses Modells der paritätischen Mitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft scheiterte jedoch: Das 1952 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz wurde von größeren Teilen der Gewerkschaften zunächst als schwere Niederlage empfunden.

Diese und andere Programmelemente aus der Gründungszeit des DGB sind weitgehend zu einem Geschichtsbestand geworden, der in der politischen Praxis nahezu bedeutungslos ist – unseres Erachtens zu Unrecht und zum Schaden gewerkschaftlicher Konturierung. Nicht in dem Sinne, dass aus alten Gewerkschaftsbeschlüssen Steilvorlagen für Tageskämpfe zu gewinnen sind. Aber in dem Sinne, dass Systemkritik den Gewerkschaften heute durchaus zur Profilierung – gegen Arbeitgeber wie auch gegen Systemkritik von Seiten einer populistischen und extremen Rechten – dienen kann.

Zweifelsohne: Die Bundesrepublik sähe anderes aus, wenn es den DGB nicht gäbe, sagte Rainer Hoffmann beim Festakt in Berlin. Richtig ist, Gewerkschaften konnten, begünstigt durch den Nachkriegsaufschwung, Einfluss auf die sozialpolitischen Grundsatzentscheidungen der 1950er Jahre nehmen: von der Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung bis hin zur Dynamisierung der Renten. Darüber hinaus erkämpften DGB-Gewerkschaften z.B. in einem 16-wöchigen Streik in der Metallindustrie Schleswig-Holsteins die Lohnfortzahlung für die Arbeiter*innen im Krankheitsfall. Auf Betreiben des DGB wurden die Regelungen dieses Tarifvertrags später als Gesetz für alle Beschäftigten in der Bundesrepublik verallgemeinert.

Auf die eigene Kraft vertrauend, stritten Gewerkschafter*innen erfolgreich für Reallohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung, setzten den 8-Stundentag, die 40-Stunden-Woche, Kündigungsschutz und Urlaubsgeld durch. Damit ermöglichten sie den Arbeitnehmer*innen die Teilhabe am »goldenen Zeitalter« des Kapitalismus. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder war 1956/57 auf über sechs Millionen gewachsen. Es war dies in die Entwicklungs- und Hochphase des »Fordismus« die einflussreichste Zeit der Gewerkschaften. Ihnen war es maßgeblich zu verdanken, dass der Kapitalismus sozialstaatlich wie arbeitsmarkt- und arbeitspolitisch »eingehegt« werden konnte.

Mit Blick auf die Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen in der Bildung und der Humanisierung der Arbeit, Investitionslenkung, erweiterte Mitbestimmung wurde in den 1970er Jahren die Forderung nach einem politischen Mandat der Gewerkschaften revitalisiert. Doch mit dem Sieg des Neoliberalismus ab den 1980er Jahren und den damit verbundenen tiefgreifenden ökonomischen und sozialstrukturellen Veränderungen gerieten die Gewerkschaften in die Defensive.[2] Dies manifestierte sich u.a. in sinkenden Mitgliederzahlen und Organisationsgraden sowie zunehmenden Finanzproblemen, mit der Folge von Zusammenschlüssen von Gewerkschaften und Organisationsreformen beim DGB selbst.

Nach der »Wende« 1989/90 hatten die DGB-Gewerkschaften die jeweiligen Branchenorganisationen des DDR-Gewerkschaftsbunds FDGB übernommen, was zu einem sprunghaften Ansteigen der Mitgliederzahlen von 7,9 (1990) auf 11,85 (1991) Millionen führte. Doch die ansteigende Arbeitslosigkeit und das größer werdende Heer von Arbeitslosen durch den flächendeckenden Zusammenbruch der DDR-Ökonomie führten recht schnell zu drastischen Mitgliederverlusten im Osten. Aber auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Strukturwandel, das Schrödersche Prekarisierungsprogramm, die Ausweitung der Niedriglohnsektoren sowie die Beerdigung der lebensstandardsichernden Altersrente durch die rot-grüne Bundesregierung schlugen sich in massiven Mitgliederverlusten nieder.

Seit den 1980er Jahren sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Deutschland von 33 auf aktuell 15%, was erheblich zur Schwächung der Gewerkschaften beigetragen hat. Zur Jahrtausendwende waren in den DGB-Gewerkschaften noch knapp 7,8 Millionen Mitglieder organisiert, im Jahr 2018 nur noch 6 Millionen, wovon gut 4 Millionen den beiden großen Multibranchengewerkschaften IG Metall und ver.di angehören.

Diese Entwicklung, insbesondere die sinkende Finanzkraft, hat auch die Struktur des Dachverbands verändert. Aus 16 Branchengewerkschaften unter dem Dach des DGB im Gründungsjahr 1949 sind bis heute durch Fusionen bzw. Übernahmen acht geworden. ver.di ist aus der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), der IG Medien und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) entstanden; die IG Metall hat Textil Bekleidung sowie Holz und Kunststoff übernommen; die IG BCE bildete sich aus der IG Chemie, der IG Bergbau und der Gewerkschaft Leder. Solo geblieben sind die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP), die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) und die IG Bau Agar Umwelt. »Große Gewerkschaften neigen dazu, das gesamte Gebiet der gewerkschaftlichen Politik abzudecken. Ein Narr, der dabei glauben macht, das fördere die Autorität des DGB«, kommentierte der ehemalige Vorsitzende der IG Medien Detlef Hensche diese Fusionspolitik.

Tatsächlich hatte diese Entwicklung sowohl Auswirkungen auf die inhaltliche Arbeit als auch auf die Organisationsstrukturen des DGB. Da der DGB als Dachorganisation über keine eigenständigen Mobilisierungszugänge verfügt, ist sein politisches Mandat nur ein »geduldetes«.[3] Es gilt, wenn zumindest die großen Mitgliedsorganisationen zustimmen. Der »Strukturreform« um die Jahrtausendwende folgte durch Beschluss des DGB-Bundeskongresses 2006 eine weitere »Organisationsreform«, die die »Chancen zur Erneuerung und für strategische Alternativen der Gewerkschaften und des DGB« eröffnen sollte. Doch letztlich wurden aufgrund abnehmender Einnahmen seitens der Mitgliedsgewerkschaften die Zuständigkeiten, Personalausstattung, Betreuungsbereiche etc. systematisch geschrumpft. In der Fläche ist der DGB kaum noch präsent.[4]

 

Den Gewerkschaften geht die Arbeit nicht aus. Nach einer Zeit der De-Thematisierung der Arbeit hat die Arbeitswelt auch in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen wieder einen höheren Stellenwert erlangt. Nach Jahrzehnten des alles durchdringenden Neoliberalismus wird die in den anstehenden Transformationsprozessen noch mehr unter Beweis gestellt werden.

Der DGB sollte der »Politik der Selbstgenügsamkeit« ein Ende setzen und die Rolle als Koordinator bei größeren, von allen Gewerkschaften getragenen Aktionen wie bei der erfolgreichen Mindestlohnkampagne einfordern. Und: Er sollte sich weiter öffnen für gesellschaftliche Bündnisse, für progressive Allianzen, die sich um sozialen Fortschritt und Demokratiegewinne zusammenfinden. Wir meinen: Arbeitsweltliche und zivilgesellschaftliche Kämpfe haben heute einen breiteren gemeinsamen Fundus, als es zuvor der Fall war. Deshalb und in respektvoller Erinnerung an die Ziele bei der Gründung: Glückwünsche zum 70. Jubiläum.

Anmerkungen

[1] Siehe hierzu die Beiträge zur jüngeren Entwicklung der Gewerkschaften in ausgewählten europäischen Ländern im Forum Gewerkschaften der Zeitschrift Sozialismus.de von Februar bis Oktober 2019.
[2] Siehe hierzu Frank Deppe: Gewerkschaften in der Großen Transformation. Von den 70er Jahren bis heute, Köln 2012.
[3] Siehe hierzu Forum Gewerkschaften: Machtressourcen für eine progressive Transformation. Was können Gewerkschaften einbringen?, Sozialismus.de Supplement zu Heft 9/2019.
[4] Wir haben diese These ausführlicher begründet in Forum Gewerkschaften, ebd.

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