24. Oktober 2019 Otto König/Richard Detje: Erdoğans völkerrechtwidriger Angriffskrieg in Syrien

Der dreifache Verrat

Mit dem Befehl zum Rückzug der US-amerikanischen Truppen aus dem Norden Syriens hatte der erratische US-Präsident Donald Trump dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan grünes Licht für dessen völkerrechtswidrigen Angriff auf die syrischen Grenzstädte und -dörfer in Nord-Syrien gegeben.[1]

Die Gemeinden liegen – verteilt über 270 Kilometer – an der türkisch-syrischen Grenze und zählen zu den Bevölkerungszentren der kurdisch kontrollierten Gebiete. Es war der erste Verrat an den syrischen Kurden und zugleich der Freibrief für Luft- und Artillerieangriffe auf Wohngebiete und die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Wasserversorgung.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind in Folge der Invasion bis zu 200.000 Zivilisten auf der Flucht. Berichte über Kriegsverbrechen der »Schmutzigen Krieger« – Kräfte der Syrischen Nationalarmee (SNA) und frühere Kämpfer der dschihadistischen Al-Kaida bzw. Al-Nusra und der ebenfalls als Terrororganisation gelisteten Hajat Tahrir al-Scham Platz, die die Drecksarbeit für die türkische Armee erledigen – kursieren im Netz. Mehrere Morde an kurdischen Gefangenen sind dokumentiert.[2] Gleichzeitig haben die Befürchtungen zugenommen, dass Tausende inhaftierte IS-Anhänger die Chance zur Flucht nutzen könnten.[3]

Die offizielle Begründung für die türkische Landnahme im Nachbarland Syrien lautet: Mit dem Militäreinsatz soll die »Bedrohung« durch die kurdische »Terrororganisation« YPG beseitigt werden. Das ist verlogen. Schon die Annahme, dass ein Gebiet, in dem höchstens drei Millionen Menschen leben, »eine Gefahr für einen NATO-Mitgliedstaat mit einer Bevölkerung von 80 Millionen darstellen soll, ist absurd«, erklärte die Demokratische Partei der Völker (HDP). Auch das Recht auf militärische Selbstverteidigung aus Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen kann die islamistische AKP-Regierung nicht für sich reklamieren, denn die Türkei wurde nicht angegriffen.

Die YPG war der wichtigste Verbündete der USA bei der Bekämpfung und Vertreibung des IS. Den vermeintlichen Sieg über das wahhabitische Terrorkalifat bezahlten die Kurden mit 11.000 toten Kämpfer*innen. Dagegen hat die Regierung Erdoğan seit den »Regime Change«-Versuchen westlicher und arabischer Staaten gegen die Regierung von Präsident Baschar al-Assad dschihadistische Banden logistisch sowie mit Waffen und Öllieferungen unterstützt.

Der türkische Angriffskrieg ist ein eindeutiger Verstoß gegen das in Artikel 2.4 der UN-Charta verankerte Gewaltverbot und damit ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts. Er ist Teil von Erdoğans Expansionspolitik, gespeist vom Mythos eines neuen Osmanischen Reichs. Seit drei Jahren verbreiten türkische Medien entsprechende Landkarten. Von Griechenland hatte der Autokrat bereits einige Inseln zurückgefordert, die 1923 mit dem Vertrag von Lausanne dem griechischen Staat zugeordnet worden sind. Der Einmarsch ist »ein lupenreines koloniales Projekt«, so der Journalist Fehim Taştekin in der taz gazete (11.10.2019). Damit sollen die Voraussetzungen geschaffen werden zur Rückführung von 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen aus der Türkei, um sie in der annektierten Region anzusiedeln.

»Um diese Aggression zu verhindern und sich ihr entgegenzustellen, wurde mit der syrischen Regierung eine Vereinbarung erzielt«, teilte die kurdische Autonomieverwaltung nach dem Beginn der Militäroffensive in einer Erklärung auf Facebook mit. Es handele sich um »ein militärisches Abkommen und einen ersten Schritt, dem Gespräche folgen werden, um es gänzlich mit Inhalten zu füllen«, sagte PYD-Sprecher Salih Muslim gegenüber ANF-News (13.10.2019). Kernpunkte sind: Die Grenzsicherheit bzw. die Souveränität des Staates Syrien ist verletzt worden. Um die Souveränität zu bewahren, müssen die Grenzen gemeinsam geschützt werden. Dafür werden syrische Soldaten an der Grenzlinie zwischen Dêrik und dem Euphrat stationiert. Inzwischen stehen syrische Truppen in den strategisch wichtigen Städten Manbidsch und Kobané. Sie sollen die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein Bündnis der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG, unterstützen.

Vor diesem Hintergrund und der zunehmenden Kritik in den USA an dem Rückzug der US-Truppen aus Nord-Syrien vereinbarten US-Vize-Präsident Mike Pence und US-Außenminister Mike Pompeo in Ankara mit Staatspräsident Erdoğan einen »120-stündigen Waffenstillstand« zu Lasten der YPG. Die türkische Regierung werde demnach ihre »Angriffe unterbrechen«, so der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, wenn in dieser Zeit die kurdischen SDF/YPG-Kämpfer ihre schweren Waffen ablegen, ihre Stellungen zerstören und aus der von der Türkei beanspruchten »Sicherheitszone« abziehen. Nicht die türkischen Invasionstruppen sollen sich demnach zurückziehen, sondern die Einheiten der YPG und YPJ. Gleichzeitig segnet die US-Regierung die türkische Besatzung auf syrischem Territorium – vom Euphrat im Westen bis zur irakischen Grenze im Osten – ab.

Vor Ablauf der Waffenruhe wurde zwischen Russland und der Türkei am 22. Oktober in Sotschi eine Verlängerung des Waffenstillstands bis Ende der laufenden Woche vereinbart – in dem Punkt vergleichbar mit der US-Abmachung, dass sich die YPG 30 km von der türkisch-syrischen Grenze zurückziehen soll, darüber hinausgehend mit dem Plan gemeinsamer türkisch-russische Patrouillen im Grenzgebiet.

Die Generalkommandantur der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) signalisierte, alles für die Einhaltung des Waffenstillstands zu tun, betonte aber, keiner türkischen Besetzung zuzustimmen. »Unsere Bevölkerung sollte wissen, dass die Waffenruhe die umkämpften Gebiete zwischen Girê Spî und Serêkaniyê betrifft. Dort wurden hunderte Zivilisten getötet, tausende wurden in die Flucht getrieben. Aus diesem Grund haben wir die Waffenruhe akzeptiert«, erklärte QSD-Generalkommandant Mazlum Abdi Kobani gegenüber dem Sender Ronahî TV.  Hier liegt bereits die erste Sollbruchstelle der Waffenstillstandsvereinbarung, erklärte der türkische Außenminister Cavusoglu doch unverblümt, sein Land strebe unverändert an, »dass in 32 Kilometern Tiefe und östlich des Euphrats bis zur irakischen Grenze, also auf einer Länge von 444 Kilometern, kein Terrorist übrig bleibt und die gesamte Region als Sicherheitszone etabliert wird«.

In den USA ist Trump unter Druck geraten. So bezeichnete die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die Vereinbarung als »Farce«, und selbst der Republikaner Mitt Romney kommentierte den zweiten Verrat an den Kurden mit den Worten, »ein Blutfleck (werde) in den Annalen der amerikanischen Geschichte« bleiben. Denn mit der Umsetzung des »Deals« hätte Erdoğan faktisch das erreicht, was er mit der Invasion im Nachbarland anstrebt: dem türkischen Militär und seinen dschihadistischen Bündnispartnern freie Hand zu verschaffen, die Region »ethnisch« zu säubern. So wie es nach dem türkischen Einmarsch im nordsyrischen Kanton Afrin[4] geschehen ist.

Erdoğan kann aber auch deshalb hemdsärmlich agieren, weil die EU-Staaten ein jämmerliches Bild abgeben. Geharnischte Erklärungen gehen einher mit schlichter Folgenlosigkeit. Während diplomatische »Besorgnis« über die »Militäraktion« verlautbart wurde, wird weiterhin Kriegsgerät an die Türkei geliefert. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte bereits unmittelbar nach dem Einmarsch des zweitgrößten NATO-Staates Verständnis: Kein Mitgliedsstaat habe mehr unter »Terroranschlägen« gelitten als die Türkei. »Wir sind hier, um die Türkei zu beschützen und auch, um uns selbst zu beschützen.« (Süddeutsche Zeitung, 11.10.2019) Die Ankündigung des deutschen Außenministers Heiko Maas in Brüssel, es sei wichtig, »mit der Türkei … im Dialog zu bleiben, um auf sie einwirken zu können«, war nicht mehr als diplomatisches »Leersprech«.

Die Ankündigung eines Rüstungsexportstopps[5] für deutsche Waffen in die Türkei ist eine Luftnummer, denn der Stopp betrifft nur künftige, nicht aber bereits erteilte Genehmigungen. Dabei steht und fällt Erdoğan mit der Unterstützung mit Waffen und Finanzhilfen aus dem Westen. Hier muss der Hebel angesetzt werden. Und schließlich war Kramp-Karrenbauers Ankündigung, die Bundeswehr werde sich – nach entsprechender Einigung im UN-Sicherheitsrat – an der Einrichtung einer Sicherheitszone beteiligen, wohl nicht mehr als ein innen- und parteipolitisch motivierter Profilierungsversuch, der nach dem Rückzug der USA und Putins Erklärung, nach seiner Verständigung mit Erdoğan bedürfe es einer solche Zone nicht mehr, keine Realisierungschance hat. Konkrete Pläne soll es im Verteidigungsministerium auch keine gegeben haben. So kann man mit Blick auf Europa auch von einem dritten Verrat an den Kurden sprechen.

Innenpolitisch hat sich der Einmarsch für den Autokraten schon jetzt ausgezahlt. Nicht zum ersten Mal stärkt ein Krieg, den er angezettelt hat, seine innenpolitische Stellung. Der wirtschaftliche und politische Bankrott der AKP-Regierung wird aufgeschoben, während gleichzeitig ein Keil zwischen die Oppositionsparteien CHP, die im Parlament dem Angriffskrieg zustimmte, und der HDP, die diesen ablehnt, getrieben wurde. »Wir beten dafür, dass unsere heldenhaften Soldaten sicher und gesund zurückkehren, wenn sie die Operation Friedensstrom erfolgreich beendet haben«, erklärte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu, der sich nicht zum ersten Mal vor Erdoğans Kriegskarren spannen lässt. Ruft man sich in Erinnerung, dass die Erfolge der Opposition bei den Kommunalwahlen im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres nur durch die Stimmen der HDP-Wähler*innen für die Kandidaten der CHP möglich waren, wird klar, welchen Rückschlag dies für eine künftige gemeinsame Opposition bedeutet und die aufkeimenden Hoffnungen auf mittelfristige Veränderungen und einer Demokratisierung des Landes.

Zum anderen wurden die Parteigründungen des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu und des ehemaligen Wirtschaftsminister Ali Babacan, die der AKP Wählerstimmen streitig machen sollen, erst einmal gestoppt. Die persönlichen Freiheiten werden weiter eingeschränkt: Laut türkischem Innenministerium wurden 121 Personen, darunter mehrere Journalisten, wegen »Terrorpropaganda« festgenommen, nachdem sie in den sozialen Medien Kritik an der Militäroperation geäußert hatten. Auch gegen die beiden Vorsitzenden der HDP, Pervin Buldan und Sezai Temelli, ermittelt schon der Generalstaatsanwalt. Die Webseite Diken stellte die berechtigte Frage: »Ist es eine kriminelle Tat, gegen den Krieg zu sein?«

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu auch Redaktion Sozialismus, Der türkische Autokrat eröffnet einen neuen Krieg, Sozialismus.deAktuell vom 11.11.2019 sowie Friedrich Steinfeld, Dritte Invasion der Türkei in Syrien – Bruch des Völkerrechtes, Zerfall der NATO und Lähmung Europas, in: Sozialismus.de, Heft 11-2019.
[2] Kämpfer der von der Türkei unterstützten Miliz Ahrar Al-Scharkija ermordeten die Generalsekretärin der Syrischen Zukunftspartei, Hafrin Khalaf. Der gepanzerte SUV der 35jährigen Frauenrechtsaktivistin, die eine wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen Kurden und arabischen Stämmen eingenommen hatte, wurde an einem Checkpoint der Miliz auf der Schnellstraße M 4 von Salven aus schweren Maschinengewehren durchsiebt.
[3] Seit dem militärischen Sieg über den »Islamischen Staat« (IS) im März 2019 sind in den kurdischen Gefangenenlagern 12.000 IS-Terrorist*innen sowie 70.000 Familienangehörige inhaftiert. Diese zum Teil auch aus Europa stammenden Menschen stellen eine Gefahr für die Stabilität in der Region dar. Die europäischen Staaten weigern sich bisher, ihre Staatsbürger*innen aus Nordsyrien zurückzuholen und vor Gericht zu stellen. Auch die Bundesregierung vertritt die Position, es sei die Aufgabe des Landes, in dem Dschihadisten die Verbrechen begangen hätten, sie abzuurteilen – also von Syrien und dem Irak.
[4] Den fast 200.000 vor den Kämpfen geflohenen Bewohner*innen des nordsyrischen Kanton Afrin wurde meist die Rückkehr in ihre Häuser und Wohnungen verweigert. Sie wurden vom türkischen Staat an Familien islamistischer Milizionäre vergeben, die zuletzt in der Rebellenenklave Idlib lebten. Es wird von Menschenrechtsverletzungen, Plünderungen, der Zerstörung kurdischer Kulturgüter und einer erzwungenen Islamisierung des öffentlichen Lebens berichtet.
[5] Laut Wirtschaftsministerium hat Deutschland 2018 Kriegsgerät im Wert von 242,8 Mio. Euro in die Türkei geliefert. Das entspricht fast einem Drittel der deutschen Kriegswaffenexporte (770,8 Mio. Euro). Auch in den ersten acht Monaten dieses Jahres exportierte Deutschland Kriegswaffen im Wert von rund 250,4 Mio. an den türkischen Staat. Neu genehmigt hat die Bundesregierung im ersten Halbjahr 2019 Exporte im Gesamtwert von rund 26 Mio. Euro.

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