19. Mai 2025 Holger Politt: Zur ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Polen
Der erste Treffer
Karol Nawrocki war in seiner Jugendzeit Boxer, dem Talent wie sportlicher Ehrgeiz nicht abgesprochen werden konnten. Nun landete er im großen Duell um Polens Präsidentenamt den ersten Treffer, der für viele Beobachter zu diesem Zeitpunkt doch überraschend kommt. Zwar liegt er mit einem Ergebnis von 29,5% der abgegebenen Stimmen leicht hinter Rafał Trzaskowski zurück, der auf 31,4% kommt.
Aber der knappe Rückstand erinnert in nichts mehr an die Zahlen, die noch vor wenigen Wochen vorhergesagt wurden. Fünf und mehr Prozentpunkten Unterschied zwischen dem liberalen Trzaskowski und dem nationalkonservativen Nawrocki schienen fast schon als sicher.
Das Entsetzen auf der liberalen Seite ist umso größer, weil der Blick auf die Ergebnisse der Geschlagenen im Feld deutlich zeigt, wie die Ressourcen für die Stichwahl verteilt sind. Rechts von den Nationalkonservativen stehen zusammengerechnet stolze 20 Prozentpunkte zu Buche, ein unglaublicher Wert, ein Schock für das demokratische Polen. Nawrocki wird ungeniert darauf zugreifen, so hätte er die notwendige Mehrheit für die Stichwahl schon fast in der Tasche. Für Trzaskowski verbleiben gut gerechnet höchstens 15 Prozentpunkte übrig, die sich an der liberal-konservativen und linksgerichteten Flanke verteilen.
Bei den legendären Schlachten um das Präsidentenamt – so 1995 Lech Wałęsa gegen Aleksander Kwaśniewski, 2010 Donald Tusk gegen Lech Kaczyński oder 2020 Trzaskowski gegen Andrzej Duda – hatten die beiden Spitzenkandidaten in der ersten Wahlrunde zusammen immer Werte von 70% oder sogar 75% der abgegebenen Stimmen geholt!
Jetzt haben Trzaskowski und Nawrocki zusammen nicht einmal 60%, was für größere Spielräume (aber auch Unsicherheiten!) in der Stichwahl spricht. 405 der Wählerschaft müssen (oder können!) noch einmal neu eingebunden werden. Gegen diese Hoffnung spricht indes die tiefe Spaltung der politischen Szene, die Waage scheint sich unweigerlich den Nationalkonservativen zuzuneigen.
Nawrocki zählt auf die entschiedene Unterstützung der katholischen Kirche, obendrein sucht er den Trump-Effekt, verweist auf seinen überraschenden Besuch des US-Präsidenten im Weißen Haus am 1. Mai! Trzaskowski ist der Kandidat des Regierungslagers, wiewohl sich Ministerpräsident Tusk in der bisherigen Kampagne auffallend zurückgehalten hat.
Anders als 2020 hatte Trzaskowski bislang versucht, Reizthemen für die doch recht mächtige katholische Kirche zu vermeiden – also Frauenrechte, LGBT-Rechte usw. Das könnte sich nun rächen, denn es bräuchte bis zur Stichwahl am 1. Juni eine Mobilisierung wie im Herbst 2023, an der vor allem junge Wählerinnen und Wähler und insbesondere Frauen beteiligt waren. Die Wahlbeteiligung von 66% ist nicht niedrig, es gibt wohl kaum noch größere Spielräume. 2020 waren es 68% der Wahlberechtigten, die zur Stichwahl gingen.
Am Abend des 1. Juni könnte Jarosław Kaczyński triumphierend ausrufen: Wir sind zurück! Tatsächlich ginge ein Nawrocki-Sieg in die Geschichtsbücher ein. Es wäre die vierte Präsidentenwahl seit 2005, in der sich der nationalkonservative Kaczyński-Favorit gegen die liberale Konkurrenz durchsetzten würde. Nur einmal verlor Kaczyński die Schlacht, nämlich 2010, als er selbst ins Rennen zog.
Und wie 2015 hatte er mit der Auswahl von Nawrocki nahezu alle überrascht. Damals kannte kaum jemand Andrzej Duda, die meisten winkten frühzeitig ab: Der habe keine Chance gegen den Amtsinhaber und haushohen Favoriten Bronisław Komorowski. Als im zurückliegenden Winter die Nominierung Nawrockis zum Kandidaten der Nationalkonservativen erfolgte, winkten viele ab: Der habe keine Chance gegen den haushohen Favoriten Trzaskowski. Und wieder zeigt sich, wie unberechenbar die polnische Wählerschaft ist, sobald sie zu einer Direktwahl gerufen wird.
Holger Politt arbeitet als Publizist in Warschau, bis Sommer 2024 war er Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, leitete mehrere Jahre das Büro der Stiftung in Warschau. Von ihm erscheint Anfang Juni im VSA: Verlag der Band »Westwind in östlichem Gelände. Kritische Einwürfe zur osteuropäischen Friedensfrage«.