5. Februar 2020 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Tabu-Bruch in Thüringen

Der Gewinner: Die Höcke-AfD

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Der Thüringer Landtag hat heute den FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich mit 45 Stimmen, darunter denen der AfD, im dritten Wahlgang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt – und damit ein »politisches Beben« (ZDF) in der gesamten Republik ausgelöst.

Durch diesen Coup, der auf eine politische Aufwertung der Höcke-AfD hinausläuft, wurde mit Bodo Ramelow, der 44 Stimmen erhielt (es gab eine Enthaltung), der erste Ministerpräsident abgewählt, der Mitglied der Partei DIE LINKE ist.

Die Landtagswahlen am 27. Oktober in Thüringen hatten zu einem komplizierten politischen Kräfteverhältnis geführt: Bei einer deutlich höheren Wahlbeteiligung von 64,9% (2014 waren es 52,7%) wurde DIE LINKE mit ihrem Spitzenkandidaten Bodo Ramelow mit 31% (+ 2,8% gegenüber 2014) erstmals stärkste Kraft in einem Bundesland. Zugleich hatte die bis dahin regierende rot-rote grüne Koalition keine Mehrheit mehr im Landesparlament.

Die Sozialdemokraten (8,2%; – 4,2%) und die Grünen (5,2%; – 0,5%) verloren Stimmenanteile, die AfD mit dem rechten Flügelmann Björn Höcke an der Spitze konnte deutlich zulegen und wurde vor der CDU (21,7%; – 11,8%) mit insgesamt 23,4% (+ 12,8%) zweitstärkste Kraft. Sie machte nachfolgend CDU und FDP mehr oder minder offen Kooperationsangebote. Kurios ist das Stimmergebnis für die Liberalen, die nun den Ministerpräsidenten stellen: Nach Überprüfung der Stimmenauszählung hat die FDP mal gerade 73 Stimmen mehr bekommen, als für die Überwindung der 5%-Hürde nötig sind.

Während längerer Verhandlungen einigten sich LINKE, SPD und Grüne trotz des Verlustes der Mehrheit unter Führung von Ramelow auf eine Minderheitsregierung, bei der sie sich auf nur noch 42 von 90 Sitzen hätten stützen können. CDU und FDP lehnten eine fest vereinbarte Tolerierung oder Duldung zwar ab, zeigten sich aber offen, mit Rot-Rot-Grün über die Umsetzung konkreter Projekte zu verhandeln. Mit der rechten AfD – so die Beteuerung – wollte keine der anderen Parteien zusammenarbeiten.

Das ausgehandelte Regierungsprogramm sah unter anderem Investitionen für Kommunen, mehr Schulsozialarbeiter, eine Mobilitätsgarantie für die Menschen in ländlichen Gebieten und ein drittes beitragsfreies Kita-Jahr vor. Auch künftig sollte es in Thüringen ausgeglichene Haushalte geben und die Verschuldung sinken. Daraus wird nun nichts.

Bodo Ramelow wurde abgewählt, weil sich sämtliche Parteien des rechten Spektrums, von FDP über CDU bis AfD, gegen ihn verbündeten und in der geheimen Wahl hinter dem im dritten Wahlgang kandidierenden FPD-Mann versammelten. Es gibt noch keine bekannte Vorstellung über die Besetzung des Kabinetts, geschweige denn einen verhandelten und verabschiedeten Koalitionsvertrag.

Mit diesem politischen Coup erleben wir eine Aufwertung der Rechtsaußen-AfD, die seit langem eine entsprechende Umwälzung innerhalb des bürgerlichen Lagers propagiert. Logischerweise feiert sie dies als Erfolg ihrer Strategie: Der Landes- und Fraktionschef Höcke spricht von einem »guten Tag für Thüringen«, unter der bisherigen Regierung sei das Land »in einen Linksstaat deformiert« worden. »Deshalb haben wir heute gewählt, wie wir gewählt haben.« Die AfD hat damit eines ihrer Ziele erreicht: Erstmals hat sie einer Regierung mit »bürgerlicher Mehrheit« zur Macht zur verholfen.

Ermöglicht wurde dieser politische Deal – selbst wenn ein FDP-Mann in den Vordergrund geschoben wurde – durch die CDU. Diese ist durch Beschlüsse der Bundespartei festgelegt, weder der Linkspartei die Hand zu reichen noch eine Allianz mit der AfD einzugehen. Der nun dennoch erfolgte Deal mit Rechtsaußen hat allerdings in etlichen Kreisorganisationen zahlreiche Befürworter. Es ist nicht auszuschließen, dass hier eine Kettenreaktion in Gang kommt und die bisherige Abgrenzung innerhalb des bürgerlichen Lagers zur modernen Rechten über den Haufen geworfen wird.

Entsprechend fällt die Kritik von SPD, Grünen und der LINKEN aus. »Die CDU und die FDP haben in Thüringen der AfD die Gelegenheit geboten, Steigbügelhalter für einen Ministerpräsidenten zu werden«, sagte Carsten Schneider, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, dem SPIEGEL. »Das ist eine schwere Bürde für Frau Kramp-Karrenbauer und Herrn Lindner, deren Beteuerungen gegen die Zusammenarbeit mit den Feinden der Demokratie als hohles Gerede entlarvt wurde. Auf CDU und FDP ist kein Verlass, wenn es darauf ankommt.«

Auch Grünen-Politiker Jürgen Trittin kritisierte CDU und FDP gegenüber dem Nachrichtenmagazin scharf: »Die FDP hat sich von Faschisten ins Amt wählen lassen … Und fast alle CDUler haben mitgemacht. Geschichte wiederholt sich so. Wir erleben eine neue Harzburger Front.« Und Grünen-Chef Robert Habeck ergänzt: »Wenn ein Kandidat mit den Stimmen der AfD gewählt wird, ist das kein Versehen – damit ist eine Brandschutzwand eingerissen.« Die Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag erwarten gar, dass Kemmerich »das Amt unverzüglich niederlegt«.

Wie die künftige Regierung unter dessen Führung funktionieren soll, ist angesichts der politisch prekären Lage unklar. FDP, CDU und AfD kommen gemeinsam mit 48 Sitzen auf eine Mehrheit, aber mit den Rechtspopulisten wollten FPD und CDU bisher nicht zusammenarbeiten. Der Coup wird in Thüringen zwar kein dauerhaftes Kräfteverhältnis generieren, hat aber mit der Aufwertung des völkisch-nationalistischen Flügels der AfD die Politik im Land insgesamt verändert und den Vertrauensverlust in demokratische Institutionen auf eine neue Stufe gehoben.

Schon bisher gab es in den Bundesparteien von CDU und FDP trotz gegenteiliger Beteuerungen keine Strategie, wie mit der Renaissance der Rechten umzugehen ist. Und auf welche Weise auch immer sich die bürgerlichen Parteien und ihre Akteure aus dieser politischen Sackgasse herauswinden: Der bleibende Schaden ist die nachhaltige Stärkung des Höcke-Flügels.

Höcke, den man laut Gerichtsbeschluss einen »Faschisten« nennen darf, kämpft seit langem nicht nur für eine Abschaffung der Erinnerungskultur und eine andere Geschichtspolitik. Der Thüringer Chefideologe behauptet vor allem, dass in der Republik »der große Bevölkerungsaustausch« bereits seit langem Praxis sei: »Klar ist auch, liebe Freunde, dass die seit Jahrzehnten praktizierte Politik der offenen Grenzen – und sie wird eigentlich schon seit 1955 praktiziert –, dass diese von den Altparteien zu verantwortende irrationale Zuwanderungspolitik uns finanziell hat bluten lassen, als hätten wir einen weiteren Krieg verloren.« Deshalb fordert der »Flügel«-Chef auch eine »180-Grad-Wende« in der Einwanderungspolitik – was durchaus als Anspielung verstanden werden darf auf seine Forderung einer Wende um 180 Grad in der Erinnerungspolitik, die vor zwei Jahren für Entsetzen sorgte.

Die Vertreter solcher Positionen haben nun die Thüringer FDP und CDU zum Steigbügelhalter der Abwahl eines erfolgreichen linken Ministerpräsidenten gemacht.

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