24. Dezember 2019 Otto König/Richard Detje: »Lawfare« – nicht konventionelle Kriegsführung in Lateinamerika

Der juristische Krieg

Beim Amtsantritt am 10. Dezember formulierte der neue argentinische Präsident Alberto Fernández in seiner Regierungserklärung eine eindeutige Kampfansage an die Feinde des demokratischen Rechtsstaats, d.h. an die politischen Akteure der in den südamerikanischen Staaten um sich greifenden rechtsradikalen Politisierung der Judikative: »Nie wieder eine Justiz, die von Geheimdiensten und Polizei durchsetzt und durch obskure Verfahren und mediale Lynchmorde vergiftet ist«.

Kann das rechts-konservative Lager die Macht nicht an der Wahlurne erlangen, »putschen« die reaktionären Kräfte demokratisch gewählte Präsidenten wie Manuel Zelaya in Honduras, Luis Ignacio Lula da Silva und Dilma Rousseff in Brasilien, Cristina Fernandez de Kirchner in Argentinien und Rafael Correa in Ecuador mit Hilfe willfähriger juridischer Staatsapparate aus dem Amt. Diese Form des »sanften Putsches« oder der »smart power«, so bezeichnet vom US-amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Nye, ist subtiler als die Strategie der interventionistischen Umstürze vergangener Jahre.

Sie setzt darauf, Menschen und Nationen durch kulturelle und politische Attraktivitäten aus ihren alten politischen Lagern herauszubrechen. Dazu gehört auch der »juristische Krieg«, der mit falschen Anschuldigungen die an den öffentlichen Pranger Gestellten beschädigen, sie politisch und finanziell paralysieren und auf dem Klageweg lähmen soll, damit sie ihre politischen Ziele nicht weiter verfolgen können.

Mit diesen Methoden ist es einem Bündnis rechter politischer Eliten und Medienhäuser mit Hilfe von Teilen der Justiz gelungen, die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff aus dem Amt zu entfernen. Das Narrativ war reißerisch: Im Jahr 2017 klagte der damalige Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot, ein entschiedener Gegner der Partido do Trabalhadores (PT), Rousseff und Genossen, allen voran ihren Amtsvorgänger Lula da Silva, beim Obersten Gerichtshof wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung an.

Die Investitionspolitik während der PT-geführten Regierungen von 2002 bis 2016 habe, so die Anklage, dem Zweck gedient, Schmiergelder in Milliardenhöhe einzusammeln. Erst vor wenigen Wochen, Ende November, sprach Bundesrichter Reis Bastos in der Hauptstadt Brasília ein vernichtendes Urteil: Die Klage bestehe nicht nur »aus haltlosen Behauptungen«, sondern stelle »einen klaren Verstoß gegen die Strafprozessordnung des Lande« dar, mit dem Ziel, »politisches Handeln zu kriminalisieren«. Rousseff, Lula sowie die früheren Finanzminister und der ehemalige Schatzmeister der Arbeiterpartei wurden freigesprochen.

Dieser Prozess hat die Techniken nicht konventioneller Kriegsführung, auch als »Lawfare« charakterisiert, offengelegt. »Es geht um das Ausschalten des politischen Gegners durch unrechtmäßigen Gebrauch juristischer Instrumentarien. Scheinbar rechtliche Handlungen werden mit einer breiten medialen Berichterstattung kombiniert, um Druck auf den Angeklagten auszuüben, damit dieser gegenüber den unbewiesenen Anschuldigungen verwundbarer wird«, so Oscar Laborde, Direktor des Instituto de Estudios de América Latina beim argentinischen Gewerkschaftsbund Ideal-CTA.

Die von rechts unterwanderte politische Justiz betreibt unter dem Beifall der oligarchischen Medienhäuser gezielt Rufmord an linken, demokratischen Kräften, indem sie als Kriminelle diffamiert und wenn notwendig daran gehindert wird, sich zur Wahl zu stellen. Nach Bekanntwerden des auf falschen Anschuldigungen basierenden Urteils aus dem Jahr 2018 gegen Lula da Silva geiferten Kommentatoren, nun sei Lula politisch ein »toter Mann« und seine Präsidentschaftskandidatur erledigt. Der damals federführende Untersuchungsrichter in der Korruptions-Affäre um den staatlich kontrollierten Erdölkonzern Petrobras, Sérgio Moro, und ein Team von Staatsanwälten hatten ihre Amtsmacht missbraucht, um Lula aus dem politischen Verkehr zu ziehen.

Nach einem jahrelangen Korruptionsprozess zu einer mehr als neunjährigen Haftstrafe verurteilt, die durch ein Berufungsgericht auf zwölf Jahre und einen Monat erhöht wurde, durfte Lula bei der Präsidentschaftswahl nicht antreten. Der Richterspruch des heutigen brasilianischen Justizministers räumte den Weg frei für Lulas Widersacher Jair Bolsonaro, der während des Wahlkampfes öffentlich erklärt hatte, er hoffe, Lula werde »im Gefängnis verrotten«.

Dass der Wahlsieg des ultrarechten Ex-Militärs und Diktatur-Bewunderers das Ergebnis eines Justiz-Komplotts ist, zeigen die Enthüllungen der Investigativ-Plattform The Intercept. Die dem Online-Portal zugespielten »geleakten Handy-Konversationen« zwischen Moro und den für die Causa Lula zuständigen Staatsanwälten, Videos und Mitschnitte belegen die gezielte Manipulation von Ermittlungen, die als politische Waffe gegen die Arbeiterpartei eingesetzt wurden. Sie liefern den Beweis dafür, dass es nie um ernsthafte Korruptionsermittlungen ging, sondern einzig und allein darum, den Ex-Präsidenten kaltzustellen.

Seit dem 8. November ist Lula da Silva – nach 580 Tagen Haft – wieder in Freiheit. Dies verdankt er dem politischen Kampf für seine Freilassung unter der Losung »Lula livre« und einer Entscheidung des obersten Bundesgerichtes (Supremo Tribunal Federal, STF), dessen Richter am 7. November mit 6:5 Stimmen eine Bestimmung außer Kraft setzten, die Verhaftungen nach zweitinstanzlichem Urteil erlaubte. »Das Plenum des Obersten Gerichtshofs ist der Ansicht, dass eine Haftstrafe, die auf einem einzigen (auch zweitinstanzlich bestätigten) strafrechtlichen Urteil beruht, erst dann vollzogen werden darf, nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden«, verkündete das Gericht. Der 74-jährige Expräsident hat jedoch noch weitere sechs Anklagen auszufechten, zuzüglich eines Kandidatur-Verbots bis 2035. Setzt sich die »legalistische« Fraktion um Richter Gilmar Mendes im STF wiederum durch, könnten sämtliche Anklagen gegen Lula für null und nichtig erklärt werden.

Schon vor der Verurteilung Lulas hatte ein Bericht in der Wochenzeitung Carta Capital Aufsehen erregt, in dem das Vorgehen gegen ihn in den Kontext einer kontinentalen Strategie gegen die Linke in Lateinamerika gestellt wurde. Der dominikanische Politiker Manolo Pichardo berichtete von einem Treffen in der US-amerikanischen Metropole Atlanta, bei dem sich konservative Politiker aus Lateinamerika über Destabilisierungsstrategien ganz auf der Linie der erfolgreichen »weichen« Staatsstreiche in Honduras 2009 und Paraguay 2012 ausgetauscht hätten. »Unsere Oligarchien machen ohne Genehmigung oder Anweisungen aus den USA keinen Finger krumm«, ist Pichardo überzeugt.[1]

Tatsächlich haben die USA die Einmischungspolitik in ihrem »Hinterhof« keineswegs ad acta gelegt. Vor allem in Staaten wie Bolivien, Kuba, Nicaragua und Venezuela, die aus Sicht der Vereinigten Staaten deren geopolitische Interessen und wirtschaftliche Strategien bedrohen, setzt die US-Administration neben Wirtschaftssanktionen auf verdeckte Einflussnahme – »die modernen Putsche finden nicht mehr mit Panzern statt« (Ignacio Ramonet).

Über Stiftungen und Institutionen werden finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt und Beraternetze zur langfristigen Absicherung der Einflussmöglichkeiten, Ressourcen und Positionen auf dem lateinamerikanischen Kontinent gespannt. Darauf setzt dann die Strategie des »Lawfare« mithilfe von Korruptionsvorwürfen oder anderen kriminellen Machenschaften auf.

So auch in der Causa Christina Fernandez de Kirchner. Die Anklage des zuständigen Staatsanwalts Diego Luciani war zugleich die Chronik einer angekündigten Entscheidung: Die Expräsidentin soll Chefin einer illegalen Vereinigung gewesen sein, die Schmiergelder von Unternehmern eingefordert habe, die mit öffentlichen Arbeiten verbunden sind. In ihrer Verteidigungsrede vor Gericht sprach de Kirchner über die »Mesa Judicial«, ein inoffizielles Gremium, in dem der abgewählte neoliberale Präsident Mauricio Macri sowie weitere Regierungsmitglieder und der Geheimdienstchef darüber entschieden haben sollen, gegen wen Prozesse eingeleitet und wer verhaftet werden soll.

Das Gremium habe Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt und die Kampagnen mit regierungsnahen Medien koordiniert. Dazu gehörte auch die gezielte Streuung von illegalen Abhörprotokollen. Kirchner schloss ihre Rede mit einem abgewandelten Zitat von Fidel Castro: »Ich bin sicher, dass Sie das Urteil bereits geschrieben haben. Das ist mir gleich. Die Geschichte hat mich bereits freigesprochen.« Auf die Frage des Staatsanwalts, ob sie Fragen beantworten würde, konterte sie herausfordernd, »Sie werden Fragen beantworten müssen.«

Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel hat dieses Verfahren mit der Anklage gegen den Präsidenten von Ecuador (2007-2017), Rafael Correa, verglichen, dem die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird. In diese Vorgänge reiht sich nahtlos das Vorgehen der selbsternannten bolivianischen Interimspräsidentin Jeanine Áñez ein, die nach dem Staatstreich gegen den indigenen Staatspräsidenten Evo Morales im Zeichen der Bibel und des Kreuzes die Macht an sich gerissen hat, und dem inzwischen im argentinischen Exil[2] lebenden Morales drohte, dass er sich bei einer Rückkehr in das Land vor der Justiz wegen Wahlbetrugs verantworten müsse. Dabei sind auch vier Wochen nach den Präsidentschaftswahlen noch keine dokumentierten Belege für die behaupteten Wahlfälschungen, die den Putsch begründen sollen, öffentlich zugänglich gemacht geworden.[3]

Möglicherweise durchkreuzen die jüngsten Entwicklungen[4] auf dem südamerikanischen Kontinent die angestrebten konservativen Rollbacks mit dem Ziel, ohne demokratische Legitimation klientilistische Austeritätspolitik durchzupeitschen.

Anmerkungen

[1] Gerhard Dilger: Brasiliens Ex-Präsident Lula Justizfarce gegen Lula, zweiter Akt, Neues Deutschland 25.1.2018.
[2] Der für Lateinamerika Zuständige im Nationalen Sicherheitsrat der USA, Mauricio Claver-Carone, warnte, dass die Anwesenheit von Morales in Buenos Aires zu einem »ernsthaften Problem« für die Beziehungen zwischen den USA und Argentinien werden könnte, »wenn der ehemalige Präsident in Bolivien Instabilität« schüre (Portal Amerika 21 vom 19.12.2019).
[3] »Die OAS hat noch immer keine Beweise für Wahlbetrug in Bolivien vorgelegt« (Portal Amerika 21 vom 21.11.2019).
[4] Siehe hierzu ausführlicher Otto König/Richard Detje: Rebellisches Erwachen. Lateinamerika: Proteste und Streiks gegen soziale Ungleichheit und die Politik des IWF, in: Sozialismus.de, Heft 1-2020, S. 22-25.

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