15. Mai 2022 Redaktion Sozialismus.de: Russland und die Ukraine sind globale Kornkammern

Der Krieg verschärft die globale Hungerkrisen

Die Zahl der Menschen, die akut von Hunger betroffen sind, und dringend lebensrettende Nahrungsmittelhilfe zur Unterstützung ihres Lebensunterhalts benötigen, wächst mit alarmierender Geschwindigkeit. Es ist deshalb dringend geboten, an die Ursachen von Lebensmittelkrisen heranzugehen, anstatt sie nur nachträglich zu mildern.

Dies ist die wichtigste These des Jahresberichts der vom Global Network Against Food Crisis (GNAFC) veröffentlicht wurde – einer internationalen Allianz der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die gemeinsam an der Bewältigung von Ernährungskrisen arbeiten.

Im Bericht wird zeigt, dass rund 193 Mio. Menschen in 53 Ländern oder Territorien im Jahr 2021 von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen waren. Dies entspricht einem Anstieg um fast 40 Mio. Menschen im Vergleich zu den bereits bestehenden Rekordzahlen von 2020.

Diese katastrophale Entwicklung ist das Resultat mehrerer Faktoren. Militärische Konflikte bleiben die Hauptursache für Ernährungsunsicherheit. Länder, die bereits mit einem hohen Maß an akutem Hunger zu kämpfen haben, seien besonders anfällig für die durch den Krieg in Osteuropa geschaffenen Risiken, insbesondere aufgrund ihrer hohen Abhängigkeit von Lebensmittelimporten und landwirtschaftlichen Betriebsmitteln sowie ihrer Anfälligkeit für globale Lebensmittelpreisschocks.

Zur zunehmenden akuten Ernährungsunsicherheit im Jahr 2021 trugen bei:

  • Haupttreiber sind Kriege, verantwortlich dafür, dass 139 Mio. Menschen in 24 Ländern/Gebieten akut von Unterernährung und Hunger betroffen sind – gegenüber rund 99 Mio. in 23 Ländern/Gebieten im Jahr 2020;
  • Wetterextreme (über 23 Mio. Menschen in acht Ländern/Gebieten, gegenüber 15,7 Mio. in 15 Ländern/Gebieten);
  • wirtschaftliche »Schocks« (über 30 Mio. Menschen in 21 Ländern/Gebieten, weniger als 40 Mio. Menschen in 17 Ländern/Gebieten im Jahr 2020, hauptsächlich aufgrund der Folgen der COVID-19-Pandemie).

All diese konvergierenden »Störungen« haben die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen lassen – und Russlands Invasion in der Ukraine, einer der sechs »Brotkorbregionen« der Welt, droht das Lebensmittelsystem in eine globale Krise zu stürzen.

Die Ukraine und Russland gelten als Kornkammern der Welt. Die Ukraine ist fünftgrößter Weizenexporteur, Russland ist laut der Vereinten Nationen (UN) weltweit die Nummer Eins. Zusammengenommen exportieren beide Länder Getreide in circa 50 Länder. Doch seit Kriegsbeginn herrscht weitgehend Stillstand, und es droht laut der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (Food and Agriculture Organization of the United Nations – FAO) ein sprunghafter Anstieg der Zahl an hungernden Menschen – nicht nur in bereits bestehenden Krisenregionen.

Im globalen Ernährungssystem drehten sich bislang Versorgungs- und Preis-Szenarien hauptsächlich um das Wetter und andere angebotsbezogene Ereignisse. In den letzten Jahren hat die globale Pandemie die Widerstandsfähigkeit des Ernährungssystems getestet und in vielen Fällen bewiesen. Aber mit dem Krieg dieses Ausmaßes in Europa befinden wir uns in einem so kritischen Nahrungsmittelversorgungszentrum – insbesondere, wenn es um Weizen und Düngemittel geht – wie dem Schwarzen Meer in einer unvorstellbaren Situation.

Jetzt hat die indische Regierung als weltweit größter Weizenproduzent angekündigt, die Ausfuhr von Getreide mit sofortiger Wirkung zu verbieten. Grund sei die unsichere Ernährungslage im eigenen Land. Der sprunghafte Anstieg der Weltmarktpreise für Weizen bedrohe die Ernährungssicherheit Indiens und benachbarter Länder. Mit dem Export sollten Preissteigerungen im eigenen Land eingedämmt werden.

Indien hatte zwar schon in der Vergangenheit den größten Teil seiner Ernten selbst verbraucht. Für die Jahre 2022 und 2023 wollte das Land aber zehn Mio. Tonnen Weizen exportieren, um von Engpässen zu profitieren, nachdem die Ausfuhren aus der Ukraine im Zuge der russischen Invasion stark zurückgegangen waren.

In der Ukraine sind viele Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, vor den Kämpfen geflohen. Damit sei nicht mehr sichergestellt, dass im Frühjahr ausgesät und im Sommer geerntet werden kann, so der FAO-Bericht. Das nächste Problem besteht darin, dass ukrainisches Getreide derzeit nicht mehr per Schiff ausgeführt werden kann, da die Häfen im Kriegsgebiet umkämpft sind. Der Export über den Landweg sei ebenfalls zu unsicher, abgesehen davon, dass der kriegsbedingt hohe Ölpreis die Exporte stark verteuert.

Auch der Export aus Russland stockt: Die russischen Häfen am Schwarzen Meer sind zwar geöffnet, auch sind laut FAO keine Ernterückgänge zu erwarten. Allerdings schlagen die finanziellen Sanktionen durch. 13,5 Mio. Tonnen Weizen und 16 Mio. Tonnen Mais lägen in der Ukraine und Russland fest, so der Bericht des UN-Welternährungsprogramms (World Food Programme, WFP). Die Folgen spüren nicht nur die akuten Krisenregionen wie Syrien oder der Jemen. Auch stabilere Länder wie Bangladesch, Ägypten oder die Türkei importieren 60% ihres Weizens aus der Ukraine und Russland.

Das WFP wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und versorgt in vielen Krisenregionen weltweit Menschen mit Grundnahrungsmitteln. Bereits jetzt zahlt die Organisation 30% mehr für Nahrungsmittel als noch im Jahr 2019. Gerade aus der Ukraine bezieht die UN-Organisation einen Großteil ihres Weizens.

Die Folge ist, dass das WFP beispielsweise im Jemen die Nahrungsrationen für Hungernde bereits drastisch reduzieren muss. Die UN-Organisation fordert, die Verteilungsketten für Lebensmittel trotz des Kriegs offen zu halten – und bittet um Spenden.

Auf die dramatische Lage der Ernährungssicherheit wies die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock auf der G 7-Konferenz hin. Von der globalen Getreidekrise seien insbesondere ärmere Länder in Afrika betroffen. Rund 25 Mio. Tonnen Getreide können nicht aus der Ukraine exportiert werden, weil Russland die Transportwege über die Häfen blockiert. Sie sprach von einem »Korn-Krieg«, durch den eine massive Hungersnot drohe. Russland setze den Hunger als Instrument in diesem Krieg ein.

Das betonte auch ihr grüner Parteikollege, Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, auf dem Treffen der G-7-Agrarminister, der »ungerechtfertigte Krieg« verstärke den Hunger in der Welt. Die G-7 sei jedoch gegen Exportstopps, man müsse die Märkte offenhalten, um nicht als Brandbeschleuniger zu wirken.

Als weitere zentrale Herausforderung nannte Özdemir den Klimawandel. Die Hitzewellen in Indien zeigten die apokalyptischen Auswirkungen der Klimakrise. Regionen, die am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffen seien, litten bereits heute an der größten Hungersnot. Die Krisen könnten nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sie müssten zusammen gelöst werden. Deshalb müsse sich die G-7 der Ernährungssicherung, dem Klimaschutz und der Biodiversität zugleich widmen.

Wie die Ernährung vor allem in Afrika gesichert werden kann, wenn Russland weiterhin Millionen Tonnen von Getreide in den Häfen der Ukraine blockiert, ist indessen nicht geklärt. Über den Seeweg habe die Ukraine am meisten und schnellsten Getreide liefern können. Alle anderen Transportwege seien deutlich schlechtere Lösungen, über die man nur einen Bruchteil liefern könne. Je länger der Krieg andauere, desto prekärer werde die Lage.

Fakt ist allerdings auch, dass in der Berliner »Ampel« vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs der Klimaschutz und Biodiversität mehr und mehr in den Hintergrund der politischen Agenda gerückt sind. Und die globale Ernährungssicherheit hatte im Koalitionsvertrag einen eher nachgeordneten Platz in der Prioritätenliste.

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