25. August 2017 Otto König/Richard Detje: Brasiliens Präsident entgeht Korruptionsprozess

Der Schmierenkomödie letzter Akt?

Foto: Anderson Riedel (CC by 2.0)

Vor guten einem Jahr veranstaltete die brasilianische Rechte in der Câmara dos Deputados in Brasilia eine obszöne Schmierenkomödie. Am Rednerpult der Abgeordnetenkammer, in der die Mehrheit der 513 Parlamentarier in Korruptionsermittlungen verwickelt ist, erklärte ein niederträchtiger Heuchler nach dem anderen: Das Gewissen, die Religion, Gott, die Erinnerung an die Mütter und die Reinheit ihrer Seelen verlangten es, dass sie die Korruption bekämpfen.

Vor guten einem Jahr veranstaltete die brasilianische Rechte in der Câmara dos Deputados in Brasilia eine obszöne Schmierenkomödie. Am Rednerpult der Abgeordnetenkammer, in der die Mehrheit der 513 Parlamentarier in Korruptionsermittlungen verwickelt ist, erklärte ein niederträchtiger Heuchler nach dem anderen: Das Gewissen, die Religion, Gott, die Erinnerung an die Mütter und die Reinheit ihrer Seelen verlangten es, dass sie die Korruption bekämpfen.

Deshalb müsse die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der linksorientierten Arbeiterpartei (PT) aus dem Amt entfernt werden.[1] Brasiliens reaktionäre Rechte entledigte sich im Zusammenspiel mit den oligarchischen Eliten und den Medien des Landes der Präsidentin und »putschte« per »kalten« parlamentarischen Staatsstreich eine durch Korruptionsvorwürfe belastete Regierung ins Amt. Der neue Präsident Michel Temer von der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) ist nach Überzeugung der Justiz selbst tief in einen weit verzweigten Korruptionsskandal verwickelt.

Temer ist von der Generalstaatsanwaltschaft angeklagt, die Annahme von umgerechnet mehr als zehn Millionen Euro Bestechungsgeld vom weltweit größten Fleischkonzern JBS des Fleischbarons Joesley Batista selbst vorbereitet zu haben. Auf aufgetauchten Audiobändern ist zu hören, wie er Bestechungsgelder gutheißt, die an zahlreiche Zeugen für deren Stillschweigen gezahlt wurden – darunter auch an seinen Parteigenossen Eduardo Cunha, den Sprecher des Unterhauses, der das unwürdige Schauspiel gegen Rousseff geleitet hatte und heute wegen Bestechung, Geldwäsche, Einschüchterung von Zeugen und organisiertem Verbrechen im Gefängnis sitzt.

Die Rechtsallianz und der Opportunismus von Parlamentariern, die genauso belastet sind wie der Staatschef, schützen Temer bis auf weiteres vor einer Klage vor dem Obersten Gerichtshof. Anfang August entschied das Unterhaus, dass der bis zum Hals in Korruptionsaffären verstrickte Regent vorerst im Amt bleibt – von Temer gefeiert als »Triumph des demokratischen Rechtsstaates«. Ohne Immunität hätte er wie mehrere seiner ebenfalls skandalträchtigen Minister befürchten müssen, direkt vom Regierungsviertel in Brasilia ins Gefängnis umzuziehen.

Die Abstimmung offenbart erneut die tatsächlichen Motive des »Rousseff-Sturzes«. Die reaktionären Kräfte hatten schon nach der knappen Wiederwahl der PT-Politikerin im Oktober 2014 medial[2] und auf der Straße zum Angriff gegen die PT-Regierung geblasen. Ziel des konservativen Rollbacks, der im Parlament durch wirtschafts- und konservativ religiöse orientierte Parlamentarier[3] vorangetrieben wird, ist die Wiederherstellung einer »marktkonformen Demokratie« ohne viele staatliche Regulative. Dementsprechend liegt der Fokus der Rechtsallianz darauf, auch ohne demokratische Legitimation klientelistische Austeritätspolitik durchzupeitschen.

Trotz heftiger Widerstände und Debatten wurden im Unterhaus und im Senat des National-kongresses die umstrittenen Reformen in der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik verabschiedet.[4] Es wurden längere Arbeitszeiten, ein höheres Renteneintrittsalter, weniger gewerkschaftliche Rechte und weniger Staatsausgaben, die zwei Jahrzehnte lang nur um die jeweilige Inflationsrate wachsen sollen, also eingefroren werden, beschlossen. Diese neoliberale Agenda, die ohne jede Verhandlung mit der Opposition bzw. mit den großen Gewerkschaften (CUT, UGT und Força Sindical) durchgedrückt wurde, ist ein schwerer Schlag gegen die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.

Quelle: OECD Economic Forecast Brasil 2017

Nach über zwei Jahren Rezession ist immer noch kein wirklicher Aufschwung in Sicht. Selbst wenn optimistische Vorhersagen eintreffen sollten, wird das Land erst im nächsten Jahrzehnt wieder das ökonomische Niveau von Ende 2013 erreichen können (Abb. 1). Die Preisentwicklung verweist jüngst allerdings darauf, dass sich Brasilien in einer deflationären Entwicklungsphase befindet, die einen schleppenden Aufschwung noch weiter abbremsen könnte (Abb. 2).

Quelle: OECD Economic Forecast 2017

Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht (Abb. 4); Millionen Brasilianer, die unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Ignacio Lula da Silva (PT) in die Mittelschicht aufgestiegen waren, drohen zurück ins Elend zu fallen. Der Rückgang der Kaufkraft hat auch viele Geschäftsleute in den Ruin getrieben. Die Crux: Öffentliche Ausgabenkürzungen, die die Deflationsentwicklung noch verstärken, ändern nichts daran, dass das Staatsdefizit weiter zunimmt und damit ein Teufelskreis mit weiteren Sparrunden entsteht (Abb. 3). Der Sozialabbau wird dazu führen, dass Arbeitslosigkeit und Armut in dem Land mit 200 Millionen Einwohnern, der weltweit achtgrößten Wirtschaftskraft mit großen Ölreserven vor den Küsten, ansteigen werden.

Diese Entwicklung ist handgreiflich in Rio de Janeiro nachzuvollziehen. Die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates ist seit einem Jahr faktisch pleite mit dramatischen Folgen für Bildung, Gesundheit und öffentliche Sicherheit. Die Auszahlung der Gehälter der städtischen Bediensteten und der Renten ist um zwei bis drei Monate im Rückstand. Krankenhäuser und Ambulanzen können nur noch eingeschränkt arbeiten, mehrere Notaufnahmen wurden geschlossen. Die fünftgrößte Universität (UERJ) des Landes setzte den Lehrbetrieb auf unbestimmte Zeit aus (jw, 12.8.2017).

Die Korruptionsermittlungen der Justiz sind zu einem neuen Faktor in der brasilianischen Politik geworden sind. »Lava Jato«, wörtlich Hochdruckreiniger, wurde zum Synonym für die inzwischen fast unüberschaubar gewordenen Ermittlungen. Während die Rechte die parlamentarischen Gremien missbraucht, um ihr korruptes Politikestablishment vor Korruptionsuntersuchungen zu schützen, nutzt Richter Sérgio Moro, dessen politische Gegnerschaft zur PT belegt ist, die »Operação Lavajato«, um vor allem auch Rousseffs Vorgänger zu kriminalisieren.

Der Bundesrichter verurteilte Anfang Juli in erster Instanz Lula da Silva zu neun Jahren und sechs Monaten Haft, einer millionenschweren Geldstrafe und der Aussetzung seiner politischen Rechte für die kommenden 19 Jahre. Moro sieht es als erwiesen an, dass der Alt-Präsident den Besitz einer Immobilie in Guarujá an der Küste des Bundesstaates São Paulo verschleiert habe. Der Baukonzern Petrobas soll diese für Lula mit viel Geld aufgemöbelt haben. Im Gegenzug sei dieser bei der Auftragsakquise behilflich gewesen. Die Faktenlage klingt konstruiert.

Der brasilianische Historiker Fernando Horta, der sich Moros Prozessakten näher angeschaut hat, stellt fest, dass der Richter höchstens 24 Seiten (12%) der tatsächlichen, materiellen Beweisführung widmet, jedoch ganze 134 Seiten (67%) für sogenannte »mündliche Beweise« ausschlachtet – ein Mix aus Berichten und Kronzeugen-Aussagen jenseits konkreter Beweisführung (Frederico Füllgraf, NDS 15.7.2017).

Moro bestätigt mit seinem Urteil, was Kritiker dem Richter schon lange vorhalten: Die Aufarbeitung des Korruptionsskandals folgt politischen Kriterien, nicht juristischen – vor allem wenn es gegen die Linke geht. Die Verteidigung Lula da Silvas sieht darin Methoden »der heiligen Inquisition, absolutistischer Monarchien«. Sie vermutet hinter dem Urteil politisch motivierte Verfolgung zur Verhinderung der Präsidentschaftskandidatur 2018.

Denn Lula ist trotz aller Anfeindungen und Diffamierungen bisher aussichtsreichster Kandidat der Präsidentschaftswahl im Jahr 2018. In einer Umfrage der Tageszeitung Folha de São Paulo lag er zuletzt bei 30% und damit klar vor der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva von der Nachhaltigkeitspartei Rede sowie Jair Bolsonaro[5] (je 15%), der für den rechten Partido Progressista (PP) antreten will.

Diese Umfragewerte sind für die konservativen und wirtschaftsliberalen Parteien in Brasilien ein Desaster. Folha de São Paulo, die seit Wochen Temers politisches Überleben zu retten versucht, appellierte an die Richter in zweiter Instanz, »auf schnellstem Wege« mit Lula da Silva kurzen Prozess zu machen; »zur Aufatmung aller (rechten) Brasilianer«. Denn bis zur Entscheidung eines Berufungsgerichts in zweiter Instanz darf Lula seinen Wahlkampf fortsetzen, womit die Risiken für die Rechte noch unkalkulierbarer werden

[1] Der Vorwurf gegen Rousseff lautet »Verantwortlichkeitsverbrechen«, sprich Haushaltstricksereien, eine in Brasilien wie auch anderswo übliche und kaum geahndete Regierungspraxis.
[2] Jenseits der Parlamentsmitglieder hat die neoliberale Autokratie große Medienunternehmen als Alliierte. Das am stärksten politisch aktive Konglomerat, das Globo TV Network, kontrolliert laut dem »Instituto de Estudos e Pesquisa em Comunicação« (EPCOM) 61,5% aller UHF-TV-Kanäle, 31,8% aller VHF-TV-Kanäle, 30,1% aller Mittelwellenradiostationen sowie 28% aller UKW Radiostationen. Hinzu kommt die Kontrolle über 40,7% der Tageszeitungen in den Hauptstädten der Bundesländer (Moisés Balestro: Brasilien Die neoliberale Autokratie, Makroskop 1.8.2017).
[3] Im Parlament, in dem an die 30 Parteien sitzen, werden bis zu 342 Abgeordnete der Repräsentation von Wirtschaftsinteressen zugeordnet, weitere 196 evangelikalen Bewegungen. Beide Gruppen sind stark verflochten. Auf der anderen Seite sind nur 43 Mitglieder des Parlaments mit den Gewerkschaften verbunden, 24 mit Menschenrechtsorganisationen (Makroskop, 1.8.2017).
[4] Vgl. Otto König/Richard Detje: Generalstreik gegen Sozialabbau und korrupte Eliten in Brasilien: #foratemer – »Temer raus!«, Sozialismus Aktuell, 6.6.2017.
[5] Jair Bolsonaro gibt sich offen rassistisch, sexistisch und homophob und verhehlt nicht seine Sympathie für die Wiederauflage einer Militärdiktatur. Seine Stimme im Parlament beim Impeachment gegen Dilma Rousseff widmete er ausdrücklich dem 2015 verstorbenen Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra, der während der Militärherrschaft (1964-1985) die damalige Oppositionelle Rousseff persönlich gefoltert hatte.

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