21. Mai 2022 Redaktion Sozialismus.de: Die New York Times ermahnt die US-Regierung

Der »Westen« und seine Kriegsziele in der Ukraine

Auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz hatten Ende April 40 Staaten des »Westens« auf Einladung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin über die aktuelle Lage in der Ukraine beraten. Unter den beteiligten Ländern waren auch Nicht-NATO-Staaten. Ein Ziel der Verhandlungen sei die dauerhafte Sicherheit und Souveränität der Ukraine.

Eine Konkretisierung dieser Zielsetzungen entfiel. Lloyd Austin unterstrich zum Abschluss: Alle Beteiligten seien sich darüber einig gewesen, künftig noch mehr tun wollen, als bisher, um der Ukraine im Kampf gegen Russland zu helfen. Vermieden werden solle allerdings unter allen Umständen, dass die Alliierten zur Kriegspartei werden. Laut Austin stehe die Welt geeint gegen die Regierung in Moskau. Die Ukraine sei davon überzeugt, diesen Krieg gewinnen zu können.

Die westlich orientierten Länder wollen der Ukraine helfen, doch dabei haben nicht alle dasselbe Ziel vor Augen. Ging es kurz nach dem Überfall vor allem um Verteidigung, sprechen die USA seit Ramstein nun davon, dass Kiew den Krieg gewinnen müsse. Diese Akzentsetzung wirft eine Reihe von Folgefragen für die militärische und zivile Hilfe sowie die Dauer der Sanktionen auf.

Während zu Beginn der russischen Invasion die Ukraine vor allem wenige Tage, dann einige Wochen gegen die russischen Angreifer standhalten sollte, haben sich nun die Kriegsziele verändert. »Es ist jetzt vor allem das Narrativ der Amerikaner, dass die Russen verlieren und aus der Ukraine vertrieben werden müssen«, sagt Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Das von den USA initiierte Treffen der Verteidigungsminister der Unterstützerstaaten in Ramstein habe vor allem dazu gedient, die Ukraine mittelfristig zu unterstützen und ihr für den Kampf Waffen zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich hatte der US-Verteidigungsminister dort jedoch ein Ziel genannt, das weit über die Ukraine hinausgeht: »Wir wollen Russland in einem Maße geschwächt sehen, dass es dem Land unmöglich macht, zu tun, was es in der Ukraine mit der Invasion getan hat.«

Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock betonte die erweiterte Zielsetzung des Wirtschaftskrieges: »Durch die Sanktionen sorgen wir dafür, dass ein weiteres militärisches Vorgehen in anderen Regionen aus russischer Kraft allein in den nächsten Jahren nicht möglich ist.« Die Frage ist, wie lange die Sanktionen dafür angesichts der derzeitigen Rekordeinnahmen Russlands aus Öl- und Gasverkäufen bei so einem Ziel eigentlich in Kraft bleiben müssten. Zur Ukraine selbst sagte Baerbock, dass alle russischen Soldaten das Land verlassen müssten – also auch die auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim. Bundeskanzler Olaf Scholz etwa bleibt bei einer sehr viel vorsichtigeren Formulierung. »Putin darf diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen – und er wird diesen Krieg auch nicht gewinnen.«

Auch die zivile Hilfe, für die bei der Ukraine-Geberkonferenz nach polnischen Angaben 6,5 Mrd. US-Dollar gesammelt wurden, hängt letztlich davon ab, was die westlichen Länder erreichen wollen. Denn humanitäre Hilfe und Finanzspritzen zur Vermeidung eines ukrainischen Staatsbankrotts müssen schnell geleistet werden. Aber klassische Wiederaufbauhilfe ist erst sinnvoll, wenn Russland aufhört, ukrainische Häuser oder Infrastruktur-Anlagen zu zerschießen. »Und niemand weiß, wann man jemals wieder aus Sanktionen aussteigen kann, wenn man diese etwa an den Abzug aller russischen Soldaten knüpft«, heißt es in der Bundesregierung.

Der Politikwissenschafter Herfried Münkler verweist zu Recht auf die feinen Unterschiede in den Kriegszielen: »Die Vorstellungen über einen Friedensschluss liegen im Westen weit auseinander. Die absolute Minimalbedingung ist sicher die Weiterexistenz der Ukraine als souveräner Staat, aber eventuell reduziert auf das Gebiet westlich des Dnipro. In Deutschland und Frankreich betrachtet man eine Ukraine in den Grenzen des 23. Februars (also ohne Krim und Separatistengebiete) als Sieg. Die Briten möchten die Ukraine von 2013, also mit Krim und Donbass, wiederherstellen. Die Amerikaner schließlich haben eine eigene Sicht. Sie sagen: Putin ist uns wieder in die Quere gekommen […] Das soll nie mehr passieren. Wir organisieren also einen Abnützungskrieg gegen die Russen, der ihr militärisches Potenzial aufzehrt. Denn in Abnützungskriegen sind die Tiefe der Logistik und die Fähigkeit zur Mobilisierung von Kämpfern entscheidend. Die Europäer signalisieren jetzt den Russen, dass sie mit einem Verhandlungsfrieden vermeiden können, von den Amerikanern mithilfe der Ukrainer ausgeblutet zu werden. Der Westen spielt also mit unterschiedlichen Optionen.«[1]

In diese Debatte um die Kriegsziele der westlichen Länder[2] hat sich jetzt auch die New York Times eingemischt. In einem Kommentar ihres Editorial Boards[3] wird nach den Kriegszielen Amerikas gefragt und vor einer Ausweitung des Krieges gewarnt. Die Zeitung forderte US-Präsident Joe Biden auf, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die Grenzen westlicher Unterstützung aufzuzeigen.

Es könne nicht im Interesse Amerikas sein, in einen langwierigen und kostenreichen Krieg mit Russland hineingezogen zu werden. Es liege nicht in Amerikas Interesse, sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen, auch wenn ein Verhandlungsfrieden der Ukraine einige harte Entscheidungen abverlangen könnte. Die westlichen Staaten betonen bislang, sie wollten auf keinen Fall Kriegspartei werden, lassen aber offen, ob und wieweit sie in einen Abnützungskrieg involviert sein wollen

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland könnte »eine unvorhersehbarere und potenziell eskalierende Richtung einschlagen«. Die New York Times spricht in diesem Zusammenhang von »außerordentlichen Kosten und ernsten Gefahren« und verlangt von US-Präsident Biden Antworten auf die Frage: Wohin soll das alles führen? Es werde immer schwieriger, zu erkennen, was die Ziele der Amerikaner in der Ukraine seien.

»Versuchen die Vereinigten Staaten beispielsweise, zur Beendigung dieses Konflikts beizutragen – und zwar durch eine Regelung, die eine souveräne Ukraine und eine Art von Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland ermöglicht? Oder versuchen die Vereinigten Staaten jetzt, Russland dauerhaft zu schwächen? Hat sich das Ziel der Regierung darauf verlagert, Wladimir Putin zu destabilisieren oder ihn zu stürzen? Beabsichtigen die Vereinigten Staaten, Wladimir Putin als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen?«, fragen die Kommentatoren der Zeitung. Das Leid der Ukraine habe die Amerikaner*innen zwar aufgerüttelt, aber die Unterstützung der Bevölkerung für einen Krieg, der weit weg von den US-Küsten stattfinde, werde nicht ewig andauern.

Ein militärischer Sieg der Ukraine über Russland, bei dem die Ukraine das gesamte Gebiet, das Russland seit 2014 erobert hat, also den gesamten Donbass und die Krim, zurückerobert, sei kein realistisches Ziel. Russland bleibe zu stark und Putin habe zu viel persönliches Prestige in die Invasion investiert, um einen Rückzieher zu machen. Die Inflation sei für die amerikanischen Wähler*innen ein viel größeres Problem als die Ukraine, und die Störungen auf den globalen Lebensmittel- und Energiemärkten werde diese wahrscheinlich noch verstärken.

Die New York Times verlangt, dass Präsident Biden im vierten Monat des Krieges nun »Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinen Leuten klarmacht, dass es eine Grenze gibt, wie weit die Vereinigten Staaten und die NATO gehen werden, um Russland zu konfrontieren, und Grenzen für die Waffen, das Geld und die politische Unterstützung, die sie aufbringen können«.

Die Länder des Westens mögen sich geeint fühlen im Entsetzen über den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine. Faktisch herrscht keine Klarheit über die Kriegsziele und den Umfang der Unterstützungen für die Ukraine. Wie die Forderungen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bei der Umsetzung des sechsten Sanktionspaketes und der Verhandlungspoker des türkischen Präsidenten Erdogan bei der NATO-Erweiterung durch Finnland und Schweden zeigen: Der »Westen« spricht hinsichtlich der Kriegsziele nicht mit einer Stimme.

Um eine Begrenzung der Kriegsfolgen auf die ökonomische und politische internationale Lage und insbesondere eine Erleichterung der Situation für alle Menschen in den Kriegsgebieten zu erreichen, wäre für eine Rückkehr zur Diplomatie förderlich.

Anmerkungen

[1] »Die Ukraine wird unter die Räder kommen, wie immer die Sache ausgeht«, Interview NZZ vom 19.5.2022.
[2] Siehe dazu auch den Beitrag von Adam Tooze »Ist die Eskalation in der Ukraine Teil der US-Strategie?« auf Sozialismus.deAktuell vom 5.5.2022.
[3] New York Times vom 20.5.2022.

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