26. Mai 2023 Joachim Bischoff: Deutschland vor einer Rezession?

Der Wirtschaftsmotor stottert

Die deutsche Wirtschaft muss eine Schwächephase oder Rezession verarbeiten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsleistung, ist im ersten Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 0,3% geschrumpft.

Nachdem das Gesamtprodukt schon im vierten Quartal 2022 um 0,5% zurückgegangen war, sind die Kriterien für eine Rezession erfüllt. Ökonom*innen sprechen davon bei zwei aufeinanderfolgenden Quartalen mit schrumpfender Wirtschaftsleistung.

Die Gründe für den schleppenden Wirtschaftsverlauf sind vor allem die Inflation und speziell die durch den Krieg in der Ukraine rasant gestiegenen Energiepreise, die seit Längerem auf die Konjunktur drücken. Aktuell sind die wirtschaftlichen Perspektiven der Industrie schlecht. Vor allem die hohen Preissteigerungen belasteten die deutsche Wirtschaft nach Ansicht des Statistischen Bundesamts. Das drückte insbesondere den Konsum der Verbraucher*innen, der im ersten Quartal um 1,2% zurückging.

Ausgebremst wurde die Konjunktur also vom schrumpfenden privaten Konsum. Sowohl für Nahrungsmittel und Getränke als auch für Bekleidung und Schuhe sowie für Einrichtungsgegenstände gaben die privaten Haushalte weniger aus als im Vorquartal. Auch das Staatskonsum gab nach, und zwar um 4,9%. Positive Impulse kamen dagegen von den Investitionen, die um 3,9% wuchsen. Auch der Außenhandel stützte die Konjunktur.

Allen voran die wichtige Industrieproduktion war im März laut Statistischem Bundesamt um 3,3% eingebrochen. Ende des vergangenen Jahres hatte es zwar noch deutlich stärkere Einbrüche gegeben. Doch sie waren vor allem auf die energieintensiven Branchen zurückzuführen. Im März aber waren nahezu sämtliche Bereiche betroffen. Am stärksten war der Rückgang demnach in der Automobilbranche mit einem Minus von 6,5%.

Gleichzeitig ist das Neugeschäft der deutschen Industrie im März so stark eingebrochen wie seit der Hochphase der Coronakrise nicht mehr. Die Aufträge sanken im März um 10,7% zum Vormonat und damit so kräftig wie zuletzt im April 2020. Sowohl der Rückgang der Produktion als auch der Aufträge waren durch Schwierigkeiten im Außenhandel getrieben. Im März sind die deutschen Exporte gegenüber dem Vormonat um 5,2% gesunken. »Die Schwäche der Produktion in Deutschland geht zumindest teilweise mit einer Schwäche im Außenhandel einher«, sagt Torsten Schmidt, Konjunkturchef am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) Essen. Außerdem dämpft die Zinswende die Nachfrage.


Schrumpfung im Gesamtjahr wird wahrscheinlicher, Aufschwung nicht in Sicht

Die Schrumpfung im Winterhalbjahr ist überraschend. Meldungen aus dem vergangenen Herbst, die im Winter mit einem eklatanten Konjunktureinbruch gerechnet hatten, haben sich allerdings nicht bewahrheitet. Für die Aussicht auf das Gesamtjahr heißt das trotzdem nichts Gutes. Für 2023 insgesamt erwarten die meisten Konjunkturforscher derzeit ein leichtes Plus. Allerdings sind die Aussichten zunehmend trübe. So machen den Verbraucher*innen die hohen Preise nach wie vor zu schaffen. Die Inflation schwächte sich zuletzt zwar etwas ab. Die jährliche Teuerung lag im April mit 7,2% aber immer noch auf ungewöhnlich hohem Niveau.

Ein kräftiger Aufschwung ist vorerst nicht in Sicht. Die Bundesbank rechnet im Frühjahr zumindest mit einem leichten Wachstum. »Im zweiten Quartal 2023 dürfte die Wirtschaftsleistung wieder leicht ansteigen«, heißt es im aktuellen Monatsbericht. Nachlassende Lieferengpässe, hohe Auftragspolster und die gesunkenen Energiepreise dürften für eine Erholung in der Industrie sorgen. »Dies dürfte auch die Exporte stützen, zumal die globale Konjunktur wieder etwas Tritt gefasst hat«, erwartet die Deutsche Bundesbank.

Eine Schrumpfung der Wirtschaft im Jahr 2023 insgesamt wird nun wahrscheinlicher. Die Bundesregierung prognostizierte in ihrer jüngsten Konjunkturprojektion für 2023 noch ein Miniwachstum von 0,4% – ging dabei aber von einer Stagnation im ersten Quartal aus. Dass sich die konjunkturelle Stimmung nicht so schnell aufhellt, legt auch die jüngste Auswertung des Ifo-Geschäftsklimaindexes nahe. Das Barometer fiel im Mai auf 91,7 Punkte, von 93,4 Zählern im April, wie das Ifo-Institut zu seiner Umfrage unter rund 9.000 Führungskräften mitteilte.

Treiber der negativen Entwicklung waren laut Ifo deutlich pessimistischere Erwartungen. Die Unternehmen waren aber auch etwas weniger zufrieden mit ihren laufenden Geschäften: »Die deutsche Wirtschaft blickt skeptisch auf den Sommer«, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Die Stimmung in der für Deutschland besonders wichtigen Exportindustrie hat sich merklich verschlechtert. Die Erwartungen sind im Mai auf den niedrigsten Wert seit mehr als einem halben Jahr gefallen, meldet das Ifo-Institut. »Die weltweiten Zinserhöhungen schlagen langsam auf die Nachfrage durch«, sagt Forscher Klaus Wohlrabe. »Der deutschen Exportwirtschaft fehlt die Dynamik.«

Die wirtschaftliche Erholung in China steigert bisher kaum die Investitionen, von denen deutsche Exporteure in früheren Aufschwüngen profitierten. In der gesamten deutschen Wirtschaft ist erstmals seit Längerem die Stimmung nicht gut. Das Ifo-Geschäftsklima fiel im Mai, nachdem es zuvor sechs Monate in Folge gestiegen war. Auch die aktuelle Lage schätzen die befragten Firmen als weniger gut ein, gerade in der Industrie und am Bau.

Das Risiko, dass die deutsche Wirtschaft auch in den nächsten Monaten eine Rezession durchläuft, ist spürbar gestiegen. Das signalisiert auch der Konjunkturindikator des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie (IMK). Für den Zeitraum von Mai bis Ende Juli zeigt er eine Rezessionswahrscheinlichkeit von 38% an. Im April waren es nur 26%. »Es ist davon auszugehen, dass die deutsche Wirtschaft im zweiten Halbjahr schrumpfen wird«, warnt ebenfalls Thomas Gitzel von der VP Bank. »Umso wichtiger wäre es, dass die Europäische Zentralbank die Leitzinsen nicht zu weit erhöht, was die Binnennachfrage unverhältnismäßig dämpfen würde«, mahnt IMK-Forscher Thomas Theobald.

Die Bundesregierung erwartet wie die führenden Konjunkturinstitute für das Gesamtjahr 2023 ein leichtes Wachstum. Im kommenden Jahr werde die Wirtschaftsleistung dann mit 1,6% stark wachsen, so jedenfalls die Prognose. Auch die EU-Kommission schätzt die Konjunkturentwicklung für Deutschland zurückhaltender ein als den EU-Schnitt. Sie rechnet mit einem Wachstum von 0,2% des Bruttoinlandsproduktes im laufenden Jahr. Die Wirtschaft in der EU wird sich im laufenden Jahr stabiler entwickeln als zunächst angenommen, so die EU-Kommission in ihrer neusten Prognose. Sie geht für den Staatenbund von einem Wachstum von 1,0% aus. In der im Februar veröffentlichten Winterprognose ist die Kommission war noch von einem Wachstum von 0,8% die Rede. Für die Staaten der Eurozone erwartet die Behörde nun ein Wachstum von 1,1% – nach 0,9% in der Winterprognose.

Die europäische Wirtschaft erweise sich in einem herausfordernden globalen Umfeld weiterhin als widerstandsfähig, hieß es bei der Vorstellung der Frühjahrsprognose. Niedrigere Energiepreise, nachlassende Versorgungsengpässe und ein starker Arbeitsmarkt hätten zu einem moderaten Wachstum in den ersten drei Monaten des Jahres geführt und die Ängste einer Rezession zerstreut. Für das kommende Jahr geht die Kommission dann EU-weit von einem Wachstum von 1,7% aus, nach 1,6% in der Winterprognose. Für den Euro-Raum rechnet sie 2024 mit 1,6% (vorher: 1,5%). Die Inflation wurde im Vergleich zum Winter (5,6%) nach oben korrigiert – auf 5,8% in diesem Jahr in der Eurozone. Für 2024 werden 2,8% erwartet.


Konjunkturmaßnahmen: wenn überhaupt verhalten

Bundesfinanzminister Christian Lindner betonte angesichts der schwachen Wirtschaftsdaten: »Das ist ein Auftrag an die Politik.« Deutschland drohe im internationalen Wettbewerb auf Abstiegsplätze abzurutschen. Um hier gegenzusteuern, werde die Regierung die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen und mehr Fachkräfte anlocken, so Lindner. Außerdem wolle man noch in diesem Jahr die Förderung der Forschung verbessern, um Investitionsbedingungen zu verbessern. Steuererhöhungen werde es dagegen nicht geben, eher würden weitere Entlastungen folgen.

Die Opposition kritisierte die Wirtschaftspolitik der Ampel-Regierung. »Das muss den Bundeskanzler wachrütteln«, sagte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. »So wie seine Ampel arbeitet, zweifeln viele Unternehmen an der Zukunft des Standorts Deutschland.« Von der »Konzertierten Aktion« des Bundeskanzlers mit den Sozialpartnern zur Bekämpfung der Inflation sei »seit Monaten« nichts mehr zu hören. »Hohe Energiepreise und keine klare Linie in der Wirtschaftspolitik verunsichern Unternehmer und Arbeitnehmer«, so Merz.

Diese Kritik der christlichen Opposition ist wenig überzeugend. Denn in der langjährigen Regierungszeit der Union wurden die wesentlichen Weichen für eine Modernisierung und Dekarbonisierung der Wirtschaft nicht bedient. Noch ist Deutschlands Wirtschaft widerstands- und entwicklungsfähig. Bisher konnte diese sehr stark nach China exportieren, günstige Energie aus Russland beziehen, und haben die Amerikaner*innen einen Großteil der Verteidigungskosten übernommen. Diese Konzeption ist unwiderruflich am Ende.

Die OECD mahnt zu einem zügigen Modernisierungskurs. Sie erwartet noch ein Plus beim deutschen Bruttoinlandsprodukt von 0,3%, dem 2024 ein Wachstum von 1,3% folgen dürfte. »Die Entspannung in den Lieferketten, der hohe Auftragsbestand und die Belebung der Auslandsnachfrage sorgen für eine allmähliche Konjunkturerholung«, heißt es in dem aktuellen Wirtschaftsbericht der OECD für Deutschland.

Gleichzeitig unterstreicht der lange Empfehlungskatalog der OECD-Forscher*innen, dass Deutschland aus ihrer Sicht noch einen langen Weg vor sich hat, um die ökologische und digitale Transformation zu meistern. Nach zehn Jahren mit dynamischem Wachstum zeigten die Corona-Pandemie und die Energiekrise, dass das Land strukturelle Schwachstellen aufweise. Zwar habe die Bundesregierung schnell auf die Energiekrise reagiert, um die Energieversorgung zu sichern und private Haushalte und Firmen zu unterstützen. Zugleich gebe es aber einen »großen Infrastrukturstau«.

Die Bundesrepublik habe 2021 insgesamt 39% weniger Treibhausgase als 1990 emittiert und sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2045 klimaneutral zu sein. »Dazu muss das Tempo der Emissionsminderung allerdings verdreifacht werden«, so die Expert*innen.

Darüber brauchen wir nicht nur, aber auch eine ehrliche ökonomische Debatte zu Kompromissen und ihren Implikationen für Steuerzahler*innen. An den überlieferten Belastungen für die wirtschaftliche Elite und die hohen Einkommensbezieher*innen wollen die Frei- und Christdemokraten keine Neujustierung vornehmen. Seit Jahren wird zum Beispiel über die schlecht funktionierende Infrastruktur bei Straße, Schiene und Telekommunikation sowie über den Zustand unserer Schulen diskutiert. Es passiert jedoch nicht genug.

In der Politik sind mittlerweile die langjährig verschleppten Defizite angekommen, doch die Bürger*innen sehen noch keinen Fortschritt. Dies führt dazu, dass ein größerer Anteil der bürgerlichen Wähler*innen wiederum auf die überholte Konzeption der Unionsparteien setzt oder zu der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland überläuft. Eine solche Polarisierung, die wir auch in anderen kapitalistischen Hauptländern sehen, hilft gewiss nicht aus der politischen Sackgasse heraus.

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