15. Juli 2022 Redaktion Sozialismus.de: EU-Kommission senkt Prognosen für BIP und erwartet höhere Inflation

Deutschland als Wachstumsbremse?

Die EU-Kommission hat ihre Prognosen für das Wirtschaftswachstum des Euroraums im laufenden und kommenden Jahr weiter gesenkt. Das Wachstum im laufenden Jahr wird noch von der Erholung des vergangenen Jahres und der unerwartet guten Entwicklung des ersten Quartals gestützt.

»Dennoch wird die Wirtschaftstätigkeit für den Rest des Jahres trotz einer vielversprechenden Sommersaison im Tourismus gedämpft sein.« Die Kommission prognostiziert für 2022 und 2023 Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,6% sowie 1,4%. Deutschland traut sie nur Wachstumsraten von 1,4% (in der Frühjahrsprognose waren es noch 1,6%) und 1,3% (2,4%) zu. Im Mai sprachen die Ökonomen für 2023 noch von 2,3% sowohl in der EU als auch in der Eurozone. Hintergrund ist unter anderem die Lage an den Energiemärkten.

Für dieses Jahr wird in Deutschland eine Rekordinflation von 7,9% erwartet, in der EU insgesamt sogar von 8,3%. Im nächsten Jahr soll die Preissteigerung immer noch bei 4,8% liegen. Die Erwartung für die Inflation ist für Deutschland damit etwas höher als im Durchschnitt der Euro-Zone. Eine solch dramatische Teuerung hat die Bundesrepublik zuletzt vor rund 50 Jahren erlebt, damals aber nur kurzfristig.

Sicherlich ist zu einem großen Teil der europäische Krieg, ausgelöst durch den Überfall Russlands auf die Ukraine, für diesen Absturz nach mäßig überstandener Corona-Pandemie verantwortlich. Die Risiken, mit denen die Konjunktur- und Inflationsprognose behaftet ist, sind in hohem Maße von der Entwicklung des Krieges und insbesondere von dessen Auswirkungen auf die Gaslieferungen nach Europa abhängig.

Ein erneuter Anstieg der Gaspreise könnte die Inflation weiter nach oben treiben und das Wachstum bremsen. Zweitrundeneffekte, d.h. Preiserhöhungen als Reaktion auf vorangegangene Kostensteigerungen, könnten wiederum die Inflation weiter verstärken und eine deutlichere Verschärfung der Finanzierungsbedingungen nach sich ziehen, was nicht nur das Wachstum belasten, sondern auch erhöhte Risiken für die Finanzstabilität mit sich bringen würde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die wiederaufflammende Pandemie in der EU zu erneuten Störungen der Wirtschaft führen könnte.

Fakt ist: Die Wirtschaft wird langsamer wachsen als zuletzt erwartet. Das heißt, die europäischen Nationen sind in eine politische Sackgasse eingebogen: Die Wirtschaften wachsen nicht mehr und gleichzeitig legen die Preise stark zu. Die EU räumt ein, dass es der russische Präsident Wladimir Putin in den kommenden Monaten in der Hand habe, die EU-Wirtschaft weiter aus dem Tritt zu bringen. Die Prognosen der wirtschaftlichen Aktivität und der Inflation seien abhängig von der Entwicklung des Kriegs in der Ukraine »und insbesondere seinen Folgen auf die Gasversorgung Europas«.

Der Hauptgrund für die erwarteten Preissteigerungen in der EU sind die hohen Preise für Heizöl, Diesel, Benzin, Erdgas und Elektrizität. Sie wurden zunächst aufgrund der nach der Pandemie wieder zunehmenden Nachfrage in die Höhe getrieben. Hinzu kamen Schwierigkeiten bei der Produktion, wie wenig Wind. Und schließlich füllte Russland die Speicher in Europa vor dem Krieg in der Ukraine nicht mehr oder nicht mehr genügend auf. Das hat zur Folge, dass sowohl die Kaufkraft und als auch die Produktion schrumpft.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) warnte in einer Untersuchung, die steigenden Preise für Lebensmittel und Energie träfen Haushalte mit geringen Nettoeinkommen viel stärker als Gutverdiener: Im untersten Einkommens-Zehntel beträgt demnach die Zusatzbelastung 5,3% des Nettoeinkommens, im obersten nur 1,1%. Weitere Hilfspakete seien notwendig, vor allem für einkommensschwache Haushalte.

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni betont, dass die Schockwellen für die Weltwirtschaft noch nicht ausgelaufen sind. Moskaus Maßnahmen stören die Energie- und Getreideversorgung, treiben die Preise nach oben und schwächen das Vertrauen. In Europa dürfte die Wiederbelebung der Volkswirtschaften 2022 noch das jährliche Wachstum stützen, doch bereits für 2023 musste die EU-Kommission die Prognose deutlich nach unten korrigieren. Es wird nun erwartet, dass die Rekordinflation im weiteren Verlauf dieses Jahres ihren Höchststand erreicht und 2023 allmählich sinken wird. Angesichts des Kriegsverlaufs und der ungewissen Zuverlässigkeit der Gaslieferungen ist diese Prognose mit hoher Unsicherheit und Abwärtsrisiken behaftet.

Die EU-Kommission warnt sogar, es könne noch schlimmer kommen als von ihr jetzt vorhergesagt – denn ein plötzlicher Stopp der russischen Gaslieferungen, der die Schlüsselindustrien in Deutschland schwer treffen würde und damit das Wachstum weiter einbrechen ließe, sei noch gar nicht eingerechnet. Die neue EU-Vorschau zeigt zudem, dass Deutschland ohnehin schon jetzt zur großen Wachstumsbremse geworden ist: Deutschland liegt in der Eurozone bei der Wachstumsrate auf dem letzten Platz aller 19 Euro-Staaten, in der gesamten EU steht nur Schweden noch schlechter da.

Ein Grund dafür dürfte die starke Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft sein. Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis sagte: »Russlands Krieg gegen die Ukraine wirft weiter einen langen Schatten auf Europa und unsere Wirtschaft.« Die Union kämpfe mit Herausforderungen an mehreren Fronten, von steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreisen bis hin zu einer großen Ungewissheit, wie sich die globale Wirtschaft entwickeln werde.

Für später erwarten die EU-Ökonomen dann wieder höhere Quartalswachstumsraten – dank eines widerstandsfähigen Arbeitsmarkts, einer moderateren Inflation, sowie wegen der Unterstützung durch die EU-Fiskalpolitik (Recovery and Resilience Facility) und die immer noch hohen Ersparnisüberschüsse.

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