30. März 2022 Otto König/Richard Detje: Gegen Hochrüstung und Militarisierung
Die 100-Milliarden-Rüstungsbombe – ein demokratiepolitischer Skandal
Der russische Angriff auf die Ukraine bietet den militärisch-industriellen Apparaten der Nato-Staaten die perfekte Gelegenheit aufzurüsten und die Außenpolitik zu militarisieren. Mit erschreckenden Bildern werden die Leiden der ukrainischen Bevölkerung instrumentalisiert, um jahrzehntelang geltende Grundsätze der Friedenssicherung zu entsorgen.
Keine Zweifel: Russland ist der Aggressor und muss an den Verhandlungstisch über eine gesicherte Neutralität der Ukraine gebracht werden. Aber fest steht auch: Eine massive Hochrüstung der Armeen der europäischen Staaten schafft keinen neuen und sichereren Frieden noch hilft dies den Menschen in der Ukraine.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) räumte in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 handstreichartig eine Reihe strittiger Themen ab: die bisher verweigerte Erhöhung der Militärausgaben auf zwei Prozent des BIP, die Drohnenbewaffnung und die Tornado-Nachfolge. Das Prinzip Waffen nicht in Krisen- und schon gar nicht in Kriegsgebiete zu liefern, wurde geschleift. Mittlerweile wurden als erste Charge 500 »Stinger«-Raketen, 1.000 Panzerfäuste und 2.700 Luftabwehrraketen aus NVA-Beständen auch mit Zustimmung der Grünen in das Kriegsgebiet exportiert. Ihre noch kurz vorher im Wahlkampf erklärte Haltung zu Kriegen – keine Aufrüstung, keine Waffenlieferung in Krisengebiete – wurde Makulatur. Die westlichen Waffenlieferungen in Milliardenhöhe an die Kiewer Regierung machen die Staaten des transatlantischen Bündnisses faktisch zu Kriegsparteien.
Der russischen Föderation ist es irrwitziger Weise gelungen, die NATO aufzuwerten und ihr neue Legitimation zu verschaffen, die vor dem Krieg nicht nur von Frankreich aus in Frage gestellt worden war. Damit wurde im Westen der Typus des Machtpolitikers gestärkt, obgleich die letzten Wahlen – so auch in Deutschland – über Fragen der sozialen Sicherung entschieden worden waren. Und es wurde eine gute Vorlage für die Washingtoner Administration geliefert, ihre Hegemonie über Europa wieder geltend zu machen.
100-Milliarden-Rüstungsbombe ist Teil der angestrebten neuen »Nationalen Sicherheitsstrategie« Deutschlands. Diese Strategie wird, wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grünen) erklärt hat,[1] sowohl die Landesverteidigung wie auch den Einsatz für deutsche Interessen »weltweit« umfassen und dabei vor allem auf zwei Gegner orientieren – Russland und China. Laut Baerbock »verlangen« die verbündeten Staaten dabei von Deutschland »als größter europäischer Volkswirtschaft« vor allem eins: »Führung«. Den Rahmen für die deutsche Sicherheitsstrategie bilden der Strategische Kompass, den die EU mittlerweile verabschiedet hat, und das neue Strategische Konzept der NATO, das Ende Juni abgesegnet werden soll. »Hohe Bedeutung« schreibt sie dabei einer »Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie« zu. Konkret sollen in einem ersten Schritt die Präsenz wie auch die Manövertätigkeit der NATO in Ost- und vor allem in Südosteuropa ausgeweitet werden (GFP, 22.03.2022).
Scholz öffnete mit der Ankündigung der massiven Aufrüstung der Bundesrepublik die Büchse der Pandora. 2021 belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt auf 3.570 Milliarden Euro. Wäre auf dieser Grundlage bereits die 2%-Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Milliarden Euro auf mindestens 71,4 Milliarden Euro belaufen müssen. Damit hätte Deutschland nach den USA (778 Milliarden US-Dollar in 2020) und China (252 Milliarden US-Dollar in 2020) den drittgrößten Militärhaushalt der Welt. Mit weiteren 100 Milliarden Euro soll in kürzester Zeit »eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt« geschaffen werden. Mit dem Milliardenpaket werde »die Grundvoraussetzung dafür geschaffen, dass die … gesicherte Bereitstellung der erforderlichen Fähigkeiten in der gesamten Bandbreite militärischer Verpflichtungen ermöglicht wird. So werden wir auch den Zusagen gegenüber unseren Partnern und Alliierten in der EU und in der NATO wie auch den Erwartungen an Deutschland als Führungsnation absehbar gerecht«, schrieb der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, in seinem Tagesbefehl am 1. März.
Es gehört zu den mantrahaft wiederholten Mythen, dass die Bundeswehr miserabel ausgerüstet sei, weil sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputt gespart wurde. Zuletzt musste sogar die lächerliche Klage der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD), den deutschen Soldat*innen im Baltikum fehlten »Unterhosen«, als Beleg dafür herhalten. Dabei haben Expert*innen längst festgestellt: Nicht mangelnde Finanzen sind das Problem, sondern verkrustete Strukturen bei der Beschaffung sowie strukturelle Defizite bei Entwicklung, Produktion und Beschaffung. Eine bereits im Februar 2014 unter Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in Auftrag gegebene Untersuchung über Bundeswehr-Großprojekte, mit der die Unternehmensberatung KPMG, die Ingenieurgesellschaft P3 und die Kanzlei Taylor Wessing betraut worden waren, kam zu dem Ergebnis, »dass eine Optimierung des Rüstungsmanagements in nationalen und internationalen Großprojekten dringend und ohne Verzug geboten ist«.
Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel«, so die damalige Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung und frühere Unternehmensberaterin, Katrin Suder. Im ersten »Bericht zu Rüstungsangelegenheiten 2015«[2] hieß es, die untersuchten Rüstungsgroßprojekte wiesen eine durchschnittliche Verspätung von 51 Monaten auf und lägen insgesamt 12,9 Milliarden Euro über dem ursprünglich geplanten Preis. Der Bericht vom Dezember 2021 unterscheidet sich davon kaum. Das heißt, es gelang nicht, die Waffenschmieden stärker an die Kandare zu nehmen. Hinzu kommt der Hang der Militärs zur Verwendung von Hochtechnologie bei neuen Waffen.
Die Rüstungsindustrie neigt in diesem Zusammenhang zur Selbstüberschätzung hinsichtlich der eigenen technologischen Leistungsfähigkeit und hebt gleichzeitig durch immer neue technologische Anforderungen den ursprünglich anvisierten Preis des Waffensystems an. Das ist alles bekannt: Doch statt medial das chronisch ineffiziente Beschaffungswesen der Bundeswehr zu kritisieren, wurde die »Schrotthaufendebatte« losgetreten. Damit sollte die Grundlage geschaffen werden, um die mehrheitlich eher kritisch eingestellte Bevölkerung auf eine deutliche Erhöhung der Rüstungsausgaben vorzubereiten und vom doppelten Versagen der Rüstungsadministrationen und der Rüstungskonzerne abzulenken.
Auch das Narrativ, die Bundeswehr sei chronisch unterfinanziert, ist ein bewusst gestreutes Fake von Rüstungslobbyst*innen innerhalb und außerhalb des Verteidigungsministeriums. Die Aussage des Heeresinspekteures Alfons Mais, die Truppe stehe wegen Geldmangels »mehr oder weniger blank« da, ist angesichts der Entwicklung der Militärausgaben schlicht absurd. Fakt ist: Der Militäretat ist von rund 24 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf etwa 32,5 Milliarden Euro im Jahr 2014 angestiegen. Es folgten weitere Etatsteigerungen von 34,3 Milliarden Euro in 2016, 38,5 Milliarden Euro 2018 und schließlich 46,9 Milliarden Euro im Jahr 2021. Im von Bundesfinanzminister Lindner (FDP) im Bundestag präsentierten Haushaltsentwurf 2022 sind für den Verteidigungshaushalt 50,3 Milliarden Euro eingeplant.
Medienberichten zufolge sollen 68 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen in nationale und 34 Milliarden Euro in multinationale Rüstungsprojekte fließen.[3] Der rüstungsnahe Informationsdienst Griephan-Briefe (11.03.2022) berichtet über »Goldgräberstimmung« in der Rüstungsindustrie: »Die Zahl der Angebotslisten für die Bundeswehr ist Legion; es gilt, die Lager zu leeren. In einigen Fällen hat man den Eindruck, die Streitkräfte würden gar nicht zu Rate gezogen, ob sie das angebotene Wehrmaterial überhaupt benötigen.« Vor allem die deutschen Panzerbauer Rheinmetall und KMW/Nexter wittern ein Riesengeschäft. Die Angebotsliste der Düsseldorfer Waffenschmiede umfasst die Lieferung von Munition, Hubschrauber sowie Ketten- und Radpanzer mit einem Volumen von 42 Milliarden Euro. KMW/Nexter reichte eine Liste mit Projekten im Volumen von bis zu 20 Milliarden Euro ein: Der Vorschlag beinhaltet den Puma, die Aufrüstung des Leopard II, das Artilleriesystem RCH 155 sowie ein System im Kampf gegen Schützenradfahrzeuge auf Basis des Boxer mit dem Turm aus dem bestehenden Puma-Angebot.
Bei Airbus rechnet die deutsche Verteidigungssparte in München mit der zügigen Bestellung einer fünften Tranche ihres Mehrzweck-Kampfflugzeugs Eurofighter. Und die Flugkörper-Spezialisten von MBDA in oberbayrischen Schrobenhausen beleben die schon totgeglaubte Raketenabwehrtechnik ihres finanziell völlig aus dem Ruder gelaufenen 14-Milliarden-Programms TLVS wieder für eine künftige deutsche Luftverteidigung. Multinationale Beschaffungen könnten ein neues Artilleriesystem (mit Großbritannien), eine neue Fregatte und Luftlandeplattformen (Niederlanden), neue U-Boote (Norwegen) und natürlich das Luftkampfsystem FCAS (Frankreich/Spanien) sein (Capital, 2.3.2022).
Die »Fortschrittskoalition« ließ in friedenspolitischer Hinsicht schon in ihrem Koalitionsvertrag wenig Progress erwarten. Nun ist die »die Rolle rückwärts« angesagt. Soziale und ökologische Themen treten in den Hintergrund. Die hohen Ausgaben für die Aufrüstung werden genau in diesen Politikfeldern fehlen. Schon jetzt erklärt der Bundesfinanzminister: »Wir werden in den nächsten Jahren alle öffentlichen Ausgaben priorisieren müssen.« Seine Begehrlichkeiten, im sozialen Bereich zu sparen, untermauert er mit einem Griff in die Rentenkasse. So will er »500 Millionen Euro für die Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt streichen« (Neue Osnabrücker Zeitung, 21.3.2022).
Der soziale Frieden in Deutschland darf nicht blindem Rüstungswahn geopfert werden. Gewerkschafter*innen, Linke und Friedensbewegte weisen zu Recht auf die sozialen Folgen der Scholz‘schen »Zeitenwende« hin. So heißt es im jüngst veröffentlichten »Appell«:[4] »Eine solche Wende der deutschen Außenpolitik um 180 Grad, mit entsprechend dramatischen Folgen auch für die Innenpolitik – für den Sozialstaat, für Liberalität und Mitmenschlichkeit – ganz ohne breite gesellschaftliche Debatte, ohne parlamentarische, ja sogar ganz ohne innerparteiliche Debatte zu beschließen, wäre ein demokratiepolitischer Skandal.« Es gilt Demokratie und Sozialstaatlichkeit zu bewahren sowie die Aufnahme der Hochrüstung ins Grundgesetz zu verhindern.
Anmerkungen
[1] Das Dokument, das einer Nationalen Sicherheitsstrategie bislang am nächsten kommt, ist das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr«, das unter Federführung des Bundesverteidigungsministeriums erarbeitet und 2016 vom Bundeskabinett verabschiedet worden war. Das Verteidigungsministerium hat aus ihm die »Konzeption der Bundeswehr« und ein »Fähigkeitsprofil« abgeleitet. Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Das Bundeswehr Weißbuch 2016, Die Aktualität des Antikriegstages, Sozialismus.deAktuell vom 30.8.2016.
[2] Rüstungsberichte unter: https://www.bmvg.de/de/themen/ruestung/ruestungsmanagement/ruestungsbericht
[3] Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) verkündete, mit der jüngsten Kaufentscheidung für den US-Kampfjet F-35 »kommen wir mit der Ausrüstung der Bundeswehr einen guten Schritt voran«. Der ihr zur Seite stehende Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz bejubelte die F-35 als »das modernste Kampfflugzeug weltweit« und ließ keinen Zweifel daran, gegen wen sich die aktuellen Aufrüstungspläne richten: »Auf Putins Aggression kann es aus meiner Sicht nur eine Antwort geben – und das ist Geschlossenheit in der NATO und glaubwürdige Abschreckung.«
[4] Zu den rund 600 prominenten Erstunterzeichner:innen gehören unter anderem der Politik-wissenschaftler Christoph Butterwegge, IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, die Grüne-Jugend-Sprecherin Sarah-Lee Heinrich, Gregor Gysi (Die Linke), Journalisten wie Jakob Augstein und Günter Wallraff, Musiker wie Bela B. und Konstantin Wecker sowie die Schauspielerinnen Katja Riemann und Corinna Harfouch. https://derappell.de/